Perspektive

Algerien: Die Arbeiterklasse nimmt den Kampf auf

Seit drei Wochen gehen in Algerien hunderttausende Jugendliche auf die Straße, um Bouteflikas fünfte Amtszeit zu verhindern. Nun entwickelt sich die Arbeiterklasse zur führenden Kraft gegen das Regime der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Die Arbeiter streiken im öffentlichen Nahverkehr, in der Autoindustrie, im Bildungswesen und im wichtigen Erdgassektor, und Millionen Menschen fordern den Sturz des Regimes.

Algerien rückt ins Zentrum einer weltweiten Bewegung des Klassenkampfs und des politischen Widerstandes. In Frankreich drücken die „Gelbwesten“ die Wut auf Präsident Emmanuel Macron aus, und von Portugal bis Berlin kommt es in ganz Europa zu Streiks gegen die Sparpolitik der EU. Von den Lehrerstreiks in den Vereinigten Staaten über die Maquiladora-Streikbewegung in Mexiko bis hin zu den Unruhen im Maghreb organisieren sich die Arbeiter über soziale Medien, unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien und gegen sie.

Die FLN hat keine Antwort auf die Forderung nach Arbeitsplätzen, einer besseren Zukunft und dem Ende der Diktatur. Die kapitalistische Clique um Bouteflika hat den Rückhalt von Frankreich und den anderen imperialistischen Mächten. Sie hat die Wahlen vom 18. April ausgesetzt und will Bouteflika so lange an der Macht halten, bis die Proteste wieder unter Kontrolle sind.

Acht Jahre nach den Arbeiteraufständen, die 2011 in Tunesien und Ägypten zum Sturz der Diktatoren führten, kündigen sich neue revolutionäre Kämpfe gegen den Kapitalismus an. Doch um in der Arbeiterklasse eine trotzkistische Vorhut aufzubauen, ist es notwendig, die Lehren aus den tunesischen und ägyptischen Aufständen zu ziehen. In beiden Ländern waren pseudolinke Parteien wie die Revolutionären Sozialisten (RS) in Ägypten und die Tunesische Arbeiterpartei (PT) trotz heroischer Kämpfe von Millionen Arbeitern in der Lage, die Machtergreifung der Arbeiterklasse zu verhindern. Sie brachten bei jedem Schritt der Revolution die Lüge vor, dass eine islamistische Partei oder eine Militärjunta von imperialistischen Gnaden die nationalen demokratischen Reformen durchführen werde. Dies hat letztendlich zur Wiederherstellung der alten Diktatur geführt.

Der Ausbruch einer Arbeiterbewegung gegen die FLN ist eine historische Bestätigung für den Kampf des trotzkistischen Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI).

Nach dem Algerienkrieg 1954–1962, der die Unabhängigkeit von Frankreich errang, bestand die kleinbürgerliche „Linke“ auf der Machtübernahme der FLN. Sie behauptete, dass weder ein Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus, noch eine marxistische Avantgarde erforderlich seien, um eine demokratische und sogar sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Der heutige soziale Aufstand der algerischen Arbeiter, die gegen die FLN um Arbeitsplätze, soziale Gleichheit und demokratische Rechte kämpfen, entlarvt diese Lüge.

Der Algerienkrieg war ein heldenhafter Kampf, der Hunderttausende Menschenleben kostete. Er hielt dem französischen Imperialismus stand und trotzte Folter und Unterdrückung. In den Evian-Abkommen von 1962, die den Krieg beendeten, übergab Frankreich die Macht in Algerien jedoch nicht an die Arbeiterklasse, sondern an die FLN. Diese schrieb zwar das Ziel des Sozialismus in der algerischen Verfassung von 1963 fest, war jedoch selbst eine bürgerliche Partei. Weder stützte sie sich auf Arbeiterkomitees in den Betrieben, noch enteignete sie das kapitalistische Eigentum.

Dennoch stellten sich kleinbürgerliche Antimarxisten, besonders die pablistischen Renegaten unter Michel Pablo und Ernest Mandel, auf die Seite der FLN. Die Pablisten hatten sich 1953 vom IKVI getrennt, weil dieses ihren Versuch ablehnte, die trotzkistische Bewegung in stalinistische und bürgerlich-nationalistische Parteien zu liquidieren. Nun unterstützten sie die FLN als eine von vielen Bewegungen, die angeblich die Vierte Internationale ersetzen würden. Zu diesen Bewegungen gehörten auch Fidel Castros Guerillas, die 1959 die Macht in Kuba übernahmen, oder die kapitalistischen Regimes, die 1947 aus der Aufteilung Indiens hervorgingen, als es sich von Großbritannien trennte.

Pablo behauptete, der Algerienkrieg sei „die lebendige permanente Revolution, die sich von einem vereinten antiimperialistischen, nationalen Kampf unweigerlich in eine tiefgreifende soziale Revolution verwandelt. Sie ist auf der Suche nach ihrer wahren Natur und Errungenschaft: als proletarische und sozialistische Revolution.“ Auf dieser Grundlage ließ er sich als Berater von der FLN anheuern, bis er 1965 vor dem Staatsstreich General Houari Boumediennes flüchten musste, der den Präsidenten Ahmed Ben Bella verdrängte.

Allein das IKVI kämpfte für die Entwicklung einer sozialistischen Perspektive für die proletarische Revolution in Algerien. Die Socialist Labour League (SLL), die damalige britische Sektion des IKVI, verteidigte den Marxismus und Trotzkismus und widersprach einer prinzipienlosen Wiedervereinigung mit den Pablisten, die in den USA von Joseph Hansen angeführt wurden. Im Jahr 1963 schrieb die SLL:

„Hansen machte viel Wind darum, dass die SLL das Evian-Abkommen zwischen der algerischen Regierung und dem französischen Imperialismus verurteilte. Wir nannten es einen ‚Ausverkauf‘. Hansen sagte, dies sei eine ultra-linke Fehleinschätzung, die nicht anerkenne, dass Evian zumindest die nationale Unabhängigkeit beinhalte und deshalb als Sieg zu begrüßen sei. Wir gingen von einer Klassenanalyse aus, und als die FLN-Führung einen Kompromiss mit dem französischen Imperialismus einging, erwies sie sich als richtig. Dieser Kompromiss hinderte das algerische Volk daran, seine eigenen revolutionären Forderungen durchzusetzen. Diejenigen, die behaupteten, dass es ein ‚Sieg‘ sei, halfen Ben Bella nur, die Massen zu täuschen, und richteten die Energie der Sozialisten auf Bündnisse mit der Bourgeoisie, anstatt auf den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei.“

Fast 60 Jahre später wird diese Analyse bestätigt, wie auch Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die der Russischen Revolution vom Oktober 1917 zugrunde lag.

Trotzki stellte fest, dass in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung die Kapitalistenklasse, die mit dem Imperialismus verbunden ist und die Arbeiterklasse fürchtet, keine demokratische Revolution führen kann. Der Kampf für demokratische Forderungen kann nur erfolgreich geführt werden, wenn er in eine sozialistische Revolution mündet. Dabei muss die Arbeiterklasse die Führung übernehmen und die anderen unterdrückten Klassen anführen. Nur durch den Kampf für eine sozialistische Weltrevolution, die Enteignung der Kapitalistenklasse und die Unterordnung der Weltwirtschaft unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter können die notwendigen Kräfte aufgeboten werden, um in den ehemaligen Kolonialländern eine wirklich sozialistische und demokratische Gesellschaft aufzubauen.

Das algerische Regime, das mit dem Imperialismus verbunden ist, fürchtet die Arbeiter. Es hat sich als unfähig erwiesen, eine demokratische, geschweige denn eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Die FLN hat Algeriens Erdgasreichtum nicht genutzt, um die Industrie aufzubauen, Arbeitsplätze zu schaffen und den Lebensstandard anzuheben, sondern um die Bankkonten einer parasitären Clique zu füllen.

Der Kampf für demokratische Rechte kann nur erfolgreich geführt werden, wenn er in eine sozialistische Revolution gegen die FLN mündet. Die Arbeiterklasse muss die anderen unterdrückten Klassen anführen. Das internationale Aufleben des Klassenkampfs eröffnet den Arbeitern in Algerien große politische Möglichkeiten. Durch eine weltweite Enteignung der Finanzaristokratie können die Arbeiter in den ehemaligen Kolonialländern die notwendigen wirtschaftlichen Ressourcen für den Aufbau einer wirklich sozialistischen und demokratischen Gesellschaft erhalten. Allerdings kann nichts davon auf der Grundlage eines nationalistischen Programms erreicht werden: Der Kampf für den Sozialismus erfordert eine entschiedene Hinwendung zur internationalen Arbeiterklasse.

Mit den politischen Erben der Pablisten muss die Arbeiterklasse ein für alle Mal brechen. Die pablistische Sozialistische Arbeiterpartei (PST) und die mit ihr verbündete Arbeiterpartei (PT) bereiten eine Falle vor. Die PT von Louisa Hanoune wurde 1990 gegründet, als die FLN erfolglos den Versuch einer „Demokratisierung“ unternahm. Sie hat die FLN von Anfang an unterstützt. Die PST und die PT streben eine demokratische Reform der FLN an und arbeiten daran, eine Sammlungsbewegung von Menschenrechtsgruppen und regierungsfreundlichen Gewerkschaften in Algerien aufzubauen. Die PST schreibt:

„Der linke Flügel der Bevölkerung schlägt auf mehr oder weniger kohärente Weise eine Lösung von unten vor, die dem Volk eine Stimme verleiht und ihm unverzüglich seine Position als alleiniger Souverän zurückgibt, indem sie die Perspektive der Wahl einer konstituierenden Versammlung verfolgt … Die PST schlägt vor, die demokratischen, anti-marktwirtschaftlichen und antiimperialistischen Kräfte zu vereinen und alle Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zusammenzuschließen, die diese Perspektive teilen.“

Die Hauptaufgabe besteht darin, den Kampf der Arbeiterklasse für den Sozialismus vorzubereiten, und dazu ist es nötig, mit kleinbürgerlichen Parteien wie der PST zu brechen. Ihr Versprechen, Demokratie herzustellen, ist die Propaganda sämtlicher Gewerkschaftsbürokraten, Akademiker und Politiker, die sich vor einer Bewegung von unten fürchten. Denn eine solche Bewegung bedroht ihre Privilegien aus ihrer Verbindung zur FLN. Sie versuchen, Arbeiter und Jugendliche an das Regime zu binden, um ihnen wie in Ägypten und Tunesien eine Niederlage beizubringen. Deshalb bejubeln sie das Manöver der FLN, Bouteflika an der Macht zu halten, als „erstes Zurückweichen“ und Beispiel dafür, was das aktuelle Regime erreichen könne.

Die Grundlagen für einen sozialistischen Kampf gegen diese Tendenzen sind in den historischen und politischen Perspektiven des IKVI zu finden. Arbeiter und Jugendliche, die den revolutionären Kampf aufnehmen, müssen eine Sektion des IKVI in Algerien, wie überall auf der Welt, aufbauen.

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