Türkei vor den Kommunalwahlen in tiefer Krise

Die türkischen Kommunalwahlen vom kommenden Sonntag, den 31. März, finden unter Bedingungen einer wachsenden Krise in Politik und Wirtschaft statt.

Der Krieg im Irak und in Syrien hat die Beziehungen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu den USA und den andern Nato-Partnern schwer belastet. Auch hat der Handelskrieg der Trump-Regierung in der Türkei die Wirtschaftskrise verschärft. In den Kommunalwahlen droht der Regierung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner rechts-populistischen AKP, die das Land seit Ende 2002 regiert, eine Niederlage in den großen Städten, die zu ihrem Sturz führen könnte.

Was auch immer der Ausgang der Wahlen sein wird, kein einziges Problem wird gelöst werden. Der „Volksallianz“ der AKP mit der faschistischen MHP steht als Hauptrivale die sogenannte „Nationalallianz“ gegenüber. Zu ihr gehören die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Gute Partei, eine Abspaltung der MHP. Die CHP ist die Partei der Kemalisten, der kapitalistisch-militärisch-bürokratischen Elite, die das gesamte zwanzigste Jahrhundert über die Institutionen der Türkischen Republik beherrscht hatte. Die Nationalallianz hat die Unterstützung sowohl der kurdisch-nationalistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), als auch eines Schwarms kleinbürgerlicher pseudolinker Organisationen.

Die Allianz aus CHP, Guter Partei und der kurdischen Bourgeoisie ist den Interessen der Arbeiterklasse kein Jota weniger feindlich gesinnt als das Bündnis aus AKP und MHP. Sie unterscheidet sich vom Regierungslager hauptsächlich durch eine deutlichere Orientierung auf die imperialistischen Mächte, mit denen sie engere Beziehungen pflegt. Inmitten der weltweiten Klassenkämpfe und dem Auftreten von Arbeitern und Jugendlichen in Algerien, dient die Partnerschaft von Nationalallianz und HDP dazu, die wachsende Wut der Arbeiterklasse auf Erdogan dem kapitalistischen System und dem imperialistischen Krieg unterzuordnen.

Das AKP-MHP-Bündnis besteht, seitdem die MHP der AKP gegen den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu Hilfe eilte. Dieser Putsch wurde mit Unterstützung der USA und Deutschlands vom Nato-Militärflugplatz Incirlik aus organisiert. Er sollte Erdogan töten und seine Regierung stürzen. Die Allianz, die seit diesem Zeitpunkt die nationale Regierung stellt, steht zurzeit vor einem verschärften Wirtschaftsabschwung und ist mit der wachsenden Wut über die soziale Ungleichheit konfrontiert. Gleichzeitig nehmen die Drohungen und der Druck zu, den die imperialistischen Bündnispartner auf die Türkei ausüben.

Ihren Höhepunkt erreichten die Spannungen zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten, als die US-Regierung den syrischen Ableger der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, welche die türkische Regierung seit 35 Jahren blutig bekämpft, zu ihrer wichtigsten Stellvertreterarmee in Syrien kürte. Der Schritt der USA bewirkte in der Türkei einen Umschwung.

Seither zielt Ankaras Intervention in Syrien, die dem Regimewechsel in Damaskus dienen sollte, hauptsächlich darauf ab, die Gründung eines PKK-geführten Protostaates in Nordsyrien zu verhindern. Dazu unterhält die Türkei unsichere Zweckbündnisse mit Russland und dem Iran, die beide das Ziel verfolgen, den amerikanischen Einfluss in Syrien zurückzudrängen.

Seit dem Putschversuch im Jahr 2016 bemüht sich Erdogan, die geopolitischen Wogen zu glätten und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu normalisieren. Nach wie vor strebt die Türkei eine Mitgliedschaft in der EU an. Doch Washington reagiert mit Einschüchterungen und immer schrilleren Drohungen.

Die Wirtschaftskrise verschärft sich

Die Versuche der USA, die Türkei wirtschaftlich zu bestrafen, haben signifikante Auswirkungen auf die türkische Ökonomie, die bereits vorher schon mit Turbulenzen zu kämpfen hatte.

Nachdem Trump im vergangenen Jahr Zölle auf türkische Exporte in die Vereinigten Staaten verhängt hatte, stürzte die Wirtschaft der Türkei in ihre erste Rezession seit einem Jahrzehnt und schrumpfte in den drei letzten Monaten des Jahres 2018 um 2,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf 13,5 Prozent hoch und unter Jugendlichen sogar auf 24,5 Prozent. In den letzten sechs Monaten beantragte fast eine Million Menschen Arbeitslosengeld. Zuletzt erlebte die Türkei im Jahr 2009 eine Rezession, als die Weltwirtschaft eine Krise durchlief, die der Wall-Street-Krach von 2008 ausgelöst hatte.

Anfang 2018 betrug der Mindestlohn, mit dem fast die Hälfte der türkischen Arbeiter auskommen muss, 1.603 Türkische Lira (375 Euro). Als vor kurzem die türkische Währung zusammenbrach und die Preise, insbesondere für Nahrungsmittel explodierten, stürze die Kaufkraft des Mindestlohnes ab. Trotz einer 26-prozentigen Erhöhung auf 2.020 Türkische Lira entsprach sie im Vergleich nur noch 327 Euro.

Während die AKP in den Wahlumfragen abfällt und in Istanbul, Ankara und anderen Städten vor einer möglichen Niederlage steht, mehren sich die Anzeichen, dass die AKP auseinanderbrechen könnte. Berichten zufolge erwägen der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoglu, der ehemalige Präsident Abdullah Gul sowie andere frühere AKP-Amtsträger die Gründung einer neuen Partei. Einige Quellen behaupten, dass sie bereits über 50 Parlamentsabgeordnete aus der AKP und der CHP auf ihrer Seite hätten – genug, um das AKP-MHP-Bündnis im nationalen Parlament zu stürzen.

Erdogan reagierte mit einer aggressiven nationalistischen Kampagne und behauptete, ein AKP-Sieg sei für das Überleben des türkischen Volkes gegen „äußere und innere Feinde“ von entscheidender Bedeutung. Auf einer AKP-Kundgebung attackierte er zudem Überläufer und beschimpfte jene, die „vom [AKP-]Zug abspringen, um auf einen anderen aufzuspringen. […] Diejenigen, die heute uns verraten, werden in der Zukunft das Lager verraten, dem sie sich heute anschließen.“

Erdogan und MHP-Führer Devlet Bahceli brandmarken die CHP, die Gute Partei und die HDP als „terroristische“ Gruppen und behaupten, sie seien sowohl mit der PKK als auch mit der von ihnen so bezeichneten Fethullahistischen Terrororganisation (FETO) im Bunde. Diese unterstehe Fethullah Gulen, dem in den USA wohnenden Prediger, den Ankara für den Putschversuch im Juni 2016 verantwortlich macht.

Im Vorfeld der Wahlen verstärkte die Erdogan-Regierung ihre politische Unterdrückung und ging juristisch gegen Oppositionsführer und ihre Kandidaten vor. CHP-Führer Kemal Kilicdaroglu wurde beschuldigt, vor zehn Monaten in einer TV-Ansprache den Innenminister beleidigt zu haben. Staatsanwälte haben ein Verfahren eingeleitet, um seine parlamentarische Immunität aufzuheben, damit er angeklagt und verurteilt werden kann. Ebenso werden der Vizevorsitzende der HDP, Sezai Temelli, und der Bürgermeisterkandidat der CHP in Ankara, Mansur Yavas, juristisch belangt.

Erdogan versucht, an die weit verbreitete Ablehnung des US-Imperialismus und der Nato zu appellieren. Er wirbt für Pläne, das russische Raketenabwehrsystem S-400 zu kaufen, und denunziert die kurdischen Kräfte, die die Vereinigten Staaten und ihre nominellen Nato-Verbündeten in ihrem ruinösen Regimewechselkrieg in Syrien eingesetzt haben, als „Terroristen“.

Die oppositionelle Nationalallianz versucht, sich als einzige Alternative zum „AKP-MHP-Faschismus“ darzustellen. CHP-Führer Kemal Kilicdaroglu hat angekündigt, nachhaltig für eine „starke Demokratie“ und einen „starken Sozialstaat“ zu kämpfen. Gleichzeitig schweigen die CHP und ihre Verbündeten grundsätzlich zu den Beziehungen der Türkei zu ihren Nato-Bündnispartnern. Damit senden sie ein Signal an die imperialistischen Mächte aus, dass sie verlässlichere Partner als Erdogan seien.

Die Versprechen der Nationalallianz für Demokratie, Arbeitsplätze und Sozialausgaben zu kämpfen, sind leere Rhetorik. In Wirklichkeit ist sie den Kämpfen und sozialen Bestrebungen der Arbeiterklasse ebenso feindlich gesinnt wie die AKP. Dies machte die CHP sehr deutlich, als sie gemeinsam mit der AKP den Metro-Streik in Izmir anprangerte. Zudem ist die CHP als Partei der traditionellen kemalistischen Elite direkt in alle ihre Verbrechen involviert, zu denen wiederkehrende Putsche und der brutale Krieg gegen die Kurden gehören.

Unterordnung der Arbeiterklasse unter pro-imperialistische Parteien im Namen der Bekämpfung von „Faschismus“

Um sich als „links“ von Erdogan zu präsentieren, braucht die Nationalallianz die Dienste der kurdisch-nationalistischen HDP und der pseudolinken Parteien.

Die HDP befürwortet die Nationallianz, obwohl diese Erdogans auswärtige Militäroperationen in Syrien und dem Irak unterstützt. Die Nationalallianz unterstützt auch Erdogans Entscheidung, Tausende von HDP-Mitgliedern, darunter den früheren HDP-Führer Selahattin Demirtaş und andere Parlamentsabgeordnete der HDP, in Haft zu halten.

Die HDP hat in den großen Städten der Westtürkei keine eigenen Kandidaten aufgestellt, sondern unterstützt dort jene der Nationalallianz. Die HDP macht ihren Wählern leere Versprechungen, dass die Kandidaten der Nationalallianz auf sie hören müssten, wenn ihre Wähler sie wählten. Der Co-Vorsitzende der HDP, Sezai Temelli, sagte kürzlich: „Mansur Yavas wird wissen“, falls er Bürgermeister von Ankara werden sollte, „dass dies mit Stimmen für die HDP geschah. Er kann seine Politik nicht durchsetzen, wenn er die HDP-Wähler ignoriert.“

Ihre eigenen Kandidaten hat die HDP überwiegend in den südöstlichen Gebieten der Türkei mit kurdischer Mehrheit aufgestellt. An einigen Orten arbeitet sie zudem mit der Glückseligkeits-Partei (SP – eine kleinere islamistische Partei) zusammen.

Aus dem Gefängnis heraus hat Demirtas eine Stimme für die Nationalallianz als „antifaschistische“ Stimme gegen Erdogan begrüßt. Erdogan hatte Demirtas in Haft setzen lassen, nachdem dieser die kurdische Autonomie innerhalb der Türkei befürwortet hatte. Demirtas spricht für die kurdischen Milizen, die im Bündnis mit den USA im Grenzgebiet zu Syrien kämpfen. Er ruft die HDP-Wähler auf, „ihre Stimme dem strategischen Ziel unterzuordnen, den faschistischen Block zu schwächen“. Niemals sollten HDP-Wähler andere Parteien oder Parteimitglieder als Feinde betrachten. „Die Niederlage der AKP und der MHP hängt davon ab, wie effektiv Sie ihre Stimme abzugeben verstehen.“

Die angebliche Opposition der pseudolinken Parteien gegen den AKP-MHP-Block soll ihre Unterstützung der bürgerlichen CHP und HDP und sogar der rechts außen stehenden Guten Partei und der islamistischen Glückseligkeits-Partei rechtfertigen.

Bereits vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Juni hatte die World Socialist Web Site festgestellt: „die pseudolinken Parteien und Organisationen [stellen sich] hinter die Nato- und EU-freundlichen Oppositionsparteien. […] [S]ie alle [lehnen] eine von den diskreditierten bürgerlichen Lagern unabhängige Perspektive der Arbeiterklasse ab.“

Alper Tas, der Vorsitzende der Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), hat sich als Kandidat der CHP für den Stadtteil Beyoglu in Istanbul aufstellen lassen. Er erhält Unterstützung von der HDP und der Guten Partei.

Am 19. März befürwortete auch die Parteivorsitzende der Partei der Arbeit, Selma Gürkan, CHP-Kandidaten in Istanbul, Ankara und Izmir. Sie sagte der Tageszeitung Evrensel: „Die Kräfte der Arbeit und der Demokratie, zu denen wir gehören, haben entschieden, die dortigen CHP-Kandidaten zu unterstützen.“

Die türkische Gruppe Sosyalist Eşitlik [Sozialistische Gleichheit] befürwortet in dieser Wahl keinen der bürgerlichen Kandidaten. Gleichgültig welches Lager gewinnt, es wird kein Problem gelöst werden. Sosyalist Eşitlik greift in diese Wahl ein, um die Basis für eine unabhängige Politik der türkischen und internationalen Arbeiterklasse zu legen, sich den Kriegen und den bankrotten politischen Ansprüchen der kapitalistischen Parteien entgegenzustellen und ihren Kampf zum Aufbau einer Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in der Türkei zu entwickeln.

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