„Die herrschende Klasse wird wieder vom Gespenst des Sozialismus verfolgt“

Am 14. April eröffnete die Sozialistische Gleichheitspartei ihren Europawahlkampf mit einer Veranstaltung in Berlin, auf der neben Kandidaten der SGP auch Vertreter des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aus anderen europäischen Ländern sprachen. Wir veröffentlichen hier den Beitrag von Alex Lantier, der live aus Paris zugeschaltet war, im Wortlaut. Lantier ist nationaler Sekretär des Parti de l’égalité socialiste, der französischen Sektion des IKVI.

Liebe Genossen,

Ich freue mich sehr, Euch heute die brüderlichen Grüße des Parti de l’égalité socialiste aus Paris übermitteln zu dürfen. Die Auftaktveranstaltung der Sozialistischen Gleichheitspartei zur Europawahl ist ein wichtiger Moment im Aufbau einer revolutionären Vorhut unter europäischen Arbeitern auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms.

Unsere Aufgaben in den Europawahlen 2019 ergeben sich aus dem internationalen Wiederaufleben des Klassenkampfs. Die Kampagne des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in den Europawahlen findet vor dem Hintergrund einer Welle von Streiks und Demonstrationen in ganz Europa und auf der ganzen Welt statt. In Berlin haben die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe gestreikt und Mieter für die Enteignung der Immobilienkonzerne demonstriert. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigte sich deutsche Bourgeoisie erstaunt darüber, dass das Gespenst des Sozialismus im Herzen Europas zurückkehrt: „Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird die Karl-Marx-Allee so zum Pionier der Wiedereinführung des Sozialismus. Es lebe die Revolution.“

Berlin, wo die deutsche Bourgeoisie davon träumt, zum Hegemon eines remilitarisierten und kapitalistischen Europas ohne soziale Zugeständnisse zu werden, ist in Wirklichkeit das Epizentrum einer politischen Gegenoffensive der Arbeiter. Im Osten, in Polen findet der erste nationale Lehrerstreik statt, seit die Stalinisten 1989 den Kapitalismus wiedereingeführt haben, und das trotz des Widerstands der Gewerkschaftsführer und der rechtsextremen PiS-Regierung. Im Süden, in Portugal, organisieren sich Krankenschwestern und -pfleger über soziale Netzwerke unabhängig von den Gewerkschaften, die im Dienst der Regierung stehen.

Und im Westen wird Frankreich von der Bewegung der Gelbwesten gegen die Politik der Sozialkürzungen und der militärischen Repression erschüttert. Diese Bewegung fordert den Rücktritt des illegitimen „Präsidenten der Reichen“, Emmanuel Macron. Hinzu kommen Zehntausende in Frankreich lebende Algerier, die gemeinsam mit Millionenen Arbeitern und Jugendlichen in Algerien für den Sturz der Militärdiktatur auf die Straße gehen. Sie wehren sich gegen die Versuche des Regimes, sich nach der Absetzung von Präsident Abdelaziz Bouteflika an der Macht zu halten.

Und außerhalb Europas stellen die Massenstreiks von Lehrern in den USA, Maquiladora-Arbeitern in Mexiko und Beschäftigten im öffentlichen Sektor und auf den Plantagen auf dem indischen Subkontinent die reaktionäre Politik in Frage, die dort seit Jahrzehnten betrieben wird.

Der Charakter dieser Bewegung bestätigt die Perspektive, die das IKVI seit Jahrzehnten vertritt. Die kapitalistische Restauration in Osteuropa und China 1989 und die Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten 1991 kennzeichneten nicht das „Ende der Geschichte“ und den endgültigen Triumph des Kapitalismus. Die Zeit, in der die Erinnerung an diese Ereignisse ausreichte, um den Klassenkampf zu ersticken, geht zu Ende. Nach 30 Jahren imperialistischer Kriege und zehn Jahren sozialer Angriffe nach dem Crash von 2008 wird die herrschende Klasse wieder vom Gespenst des Sozialismus verfolgt. Sie fürchtet den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch das bewusste politische Handeln der Arbeiterklasse.

Was in diesen Kämpfen vorherrscht, ist die Ablehnung des Diktats der Finanzaristokratie, die Forderung nach einer tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung und eine kompromisslose Stimmung.

Die Monatszeitung Le Monde diplomatique beschrieb die Reaktion der französischen Finanzaristokratie mit folgenden Worten: „Angst geht um. Nicht die Angst, eine Wahl zu verlieren, mit ‚Reformen‘ zu scheitern oder mitansehen zu müssen, wie die Aktienkurse abstürzen. Sondern die Angst vor Aufruhr, vor Revolte, vor Machtverlust. Seit einem halben Jahrhundert haben die französischen Eliten dieses Gefühl nicht mehr verspürt.“

Die Chefs großer Konzerne fürchten, „dass man ihre Köpfe bald auf Spießen trägt“, sagte ein Journalist der rechten Wirtschaftszeitung L‘Opinion. Andere Leitmedien beschwören eine Angst, vergleichbar mit derjenigen, die die Unternehmer während der Generalstreiks von 1936 oder 1968 ergriffen hat.

Es ist daher wichtig zu verstehen, in welcher Form der Klassenkampf wieder auflebt. Er entwickelt sich nicht durch Manöver von Gewerkschaftsapparaten oder von stalinistischen, sozialdemokratischen oder pablistischen Parteien. Es sind auch keine Dissidenten in den Gewerkschafts- oder Parteiapparaten, die die Bewegung vorantreiben. Wie vom IKVI vorhergesagt, lebt der Klassenkampf in Form einer Arbeiterrevolte gegen diese reaktionären, kleinbürgerlichen Apparate wieder auf.

Seit fünf Monaten erleben wir in Frankreich, wie sich die Wut der Arbeiter gegen die Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten kleinbürgerlichen Parteien Bahn bricht. In den Augen der Arbeiter sind sie Opportunisten, Feiglinge, gleichgültige und vor allem privilegierte Leute, die vom Staat gekauft wurden, um ihre Forderungen zu blockieren, ihre Kämpfe zurückzuweisen und die von ihnen ersehnte Revolution zu ersticken.

In Algerien lehnen Arbeiter und Jugendliche alle mit der Staatsmacht verbundenen Parteien ab, von der Nationalen Befreiungsfront (FLN) bis zur Arbeiterpartei unter Louisa Hanoune, die von der FLN seit Jahrzehnten als harmlose Opposition gefördert wird. Die Generalunion der algerischen Arbeiter (UGTA), die von der FLN ins Leben gerufene Gewerkschaft, stößt auf breite Ablehnung. Ihr Führer Sidi Saïd hat – wie der derzeitige südafrikanische Präsident, der ehemalige Gewerkschafter Cyril Ramaphosa – seine Position genutzt, um zu einem reichen Oligarchen aufzusteigen.

Das IKVI ist die einzige politische Tendenz, die darauf beharrt, dass diese politische Offensive der Arbeiter eine neue Ära im Kampf für die sozialistische Weltrevolution eröffnet. Die Arbeiter weisen die Gewerkschaften zurück. Wir treten dafür sein, dass sie sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, wie sie von Autoarbeitern in Detroit und Teeplantagenarbeitern in Sri Lanka gemeinsam mit unseren Genossen ins Leben gerufen wurden. Diese Komitees müssen mit der Weiterentwicklung der Kämpfe zu Organen der Arbeitermacht werden und europa- und weltweit Arbeiterstaaten bilden.

Weder Macron, der seine Bewunderung für den Nazi-Kollaborateur und Diktator Philippe Pétain erklärr hat, noch die Folterer der algerischen Militärdiktatur, die während des Bürgerkriegs 1992-2002 Hunderttausende Menschen getötet haben, werden die demokratischen Forderungen des Volkes erfüllen.

Um diesen Kampf erfolgreich zu führen, müssen Sektionen des IKVI als revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse aufgebaut werden. Die Arbeiter haben das Beispiel des revolutionären Aufstands der ägyptischen Arbeiter im Jahr 2011 vor Augen, wo drei Jahre heldenhafter Kampf 2013 mit einem blutigen Staatsstreich von General Abdel Fattah al-Sissi endeten. Das ist eine unvergessliche Lehre, die mit Tausenden von Menschenleben erkauft wurde: Proteste reichen nicht aus, um die herrschende Klasse zu besiegen. Die Arbeiter brauchen eine revolutionäre Führung.

Derzeit greift die gesamte etablierte politische Klasse – von der amerikanischen und französischen Diplomatie bis zum pseudolinken Kleinbürgertum im Stile der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) – dieselben Zusagen auf, die 2011 den Arbeitern in Ägypten gegeben wurden. Gemeinsam versprechen sie einen demokratischen Wandel in Algerien. Doch gleichzeitig greift die Polizei in der Innenstadt von Algier junge Menschen mit Wasserwerfern an, und in Paris fahren gepanzerte Mannschaftswagen der Gendarmerie auf.

Doch die Geschichte hat die Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis immer wieder bestätigt. In Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung ist die mit dem Imperialismus verbundene Bourgeoisie nicht in der Lage, demokratische Herrschaftsformen zu errichten. Der Kampf für demokratische Rechte kann nur erfolgreich sein, wenn er in die sozialistische Weltrevolution unter der Führung der Arbeiter übergeht und so die Ressourcen der Weltwirtschaft erschließt.

Bürgerliche Politiker werden keine Demokratie aufbauen, denn der Kapitalismus ist auf der ganzen Welt in Fäulnis begriffen. Nach dem Ausbruch der Massenstreiks in Algerien kündigte Macron an, die Armee gegen die Gelbwesten einzusetzen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Es ist der erste solche Armeeeinsatz gegen Protestdemonstration seit der Niederschlagung der Streiks von 1947-1948. General Le Ray gab bekannt, dass seine Truppen von Macron die Erlaubnis erhalten hätten, auf die Gelbwesten zu schießen.

Es ist nicht schwer zu erraten, welche Überlegungen im Elysée-Palast angestellt werden. Das algerische Regime hofft, wie vor 20 Jahren und wie in Ägypten durch eine blutige, mit Paris und den anderen EU-Staaten abgestimmte Repression aus der aktuellen Lage herauszukommen. Um in Algerien freie Hand zu haben, will die EU zunächst die Gefahr beseitigen, dass die Repression in Algerien zu einer unkontrollierten Explosion der Opposition in Frankreich oder anderswo führt.

Während bereits jetzt Woche für Woche 20.000 Algerier in Frankreich demonstrieren, hofft Macron, die Gelbwesten, die ihre Solidarität mit den Algeriern bekunden, zu terrorisieren und sie von der Straße zu vertreiben. Man wird sehen, ob dieses Manöver dazu führen wird, dass Soldaten auf den Straßen Frankreichs das Feuer eröffnen – gezielt oder aus Zufall.

Die Organisationen des wohlhabenden Kleinbürgertums, die in der offiziellen „Linken“ den Ton angeben, werden die Arbeiter nicht zum Widerstand mobilisieren. Die Sozialistische Arbeiterpartei (PST) – die algerische Partei, die mit der französischen pablistischen NPA verbunden ist – hat angesichts der Mobilisierung von Millionen Arbeitern und Jugendlichen gegen eine Diktatur nichts Besseres zu tun, als sich über den Gedanken an eine Revolution lustig zu machen.

„Obwohl es äußerlich so erscheinen mag, befinden wir uns nicht in einer revolutionären Situation“, schreibt die PST auf der NPA-Website. Die PST lobt die algerische Armee, deren Aufgabe es sei, „das Volk, seine Errungenschaften, sein soziales Wohlergehen und seine nationale Souveränität über seine Reichtümer zu verteidigen“. Sie bezeichnet die offizielle Gewerkschaft des Regimes, die UGTA, als „strategisches Instrument zur Verteidigung der Arbeiterinteressen“. Entsprechend fordert die PST eine verfassungsgebende Versammlung, um die Verfassung der algerischen kapitalistischen Diktatur umzuschreiben.

Klarer könnten die Unterschiede der politischen Linien nicht sein. Die pablistische Tendenz, die 1953 mit dem IKVI und dem Trotzkismus brach, indem sie erklärte, dass der Stalinismus jahrhundertelang die revolutionäre Vorhut der Arbeiter bilden würde, tritt heute als Verteidigerin der Konterrevolution auf. Ihre Reihen sind voll von gekauften Gewerkschaftern, Akademikern, die sich vom Staat aushalten lassen, und Nachrichtenredakteuren, die ihren Job der Tatsache verdanken, dass sie wissen, welche Fragen sie nicht stellen dürfen. Bestenfalls fördern sie fragwürdige Verschwörungen.

Die revolutionäre Tendenz, die aufgebaut werden muss, ist das IKVI, das seit Jahrzehnten darum kämpft, die revolutionäre Kontinuität des Trotzkismus zu bewahren.

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