Perspektive

Belagerungszustand in Kaschmir: Eine Warnung an die internationale Arbeiterklasse

Dreizehn Millionen Menschen in Jammu und Kaschmir (J&K) sind seit dem 5. August extremer Unterdrückung und kollektiver Bestrafung durch Indien ausgesetzt. Für das Vorgehen der indischen Regierung unter der Führung der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) gibt es nur wenige, aber umso schlimmere Präzedenzfälle.

Die Bevölkerung, zahlreicher als diejenige mancher europäischer Länder oder US-Bundesstaaten, wurde einer „Sicherheitsblockade“ unterworfen. die eine pauschale Ausgangssperre vorsieht. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, ihre Nahrungsmittel werden knapp.

Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurde aufgehoben, und Versammlungen von mehr als vier Personen wurden verboten. Kritiker, die die Unterdrückung der Medien anprangerten, wurden inhaftiert. Die öffentlichen Verkehrsmittel stellten den Betrieb ein, und die Wirtschaft der Region ist zum Erliegen gekommen.

Die indische Regierung straft ihre Bezeichnung als „größte Demokratie der Welt“ Lügen. Sie hat die „präventive Inhaftierung“ vieler Politiker von Jammu und Kaschmir verfügt. Dieser Bundesstaat umfasst den von Indien kontrollierten Teil der Region Kaschmir, die 1947 im Zuge der Unabhängigkeit von Großbritannien in zwei Hälften gepalten wurde. Dies war Bestandteil der reaktionären Teilung des indischen Subkontinents in ein muslimisches Pakistan und ein vorwiegend hinduistisches Indien. Seither ist das Gebiet von Kaschmir umstritten. Es stand im Brennpunkt zweier Kriege und zahlreicher militärischer Krisen zwischen den mittlerweile atomar bewaffneten Rivalen.

Mehr als 500 Personen, darunter zwei ehemalige Ministerpräsidenten von Jammu und Kaschmir sowie Dutzende prominente Politiker, wurden kurzerhand festgenommen. Ihre Familien konnten nicht herausfinden, wo sie festgehalten werden. Viele wurden mit Militärflugzeugen in Gefängnisse außerhalb der Region verbracht. Das gleiche Schicksal droht „potenziellen Steinewerfern“, d. h. Personen, die bekanntermaßen an früheren Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen haben.

Die indische Regierung hat alle Kommunikationskanäle einschließlich Festnetz, Mobilfunk und Internet gekappt. Gespräche der Bevölkerung mit Verwandten, Freunden und Kollegen wurden unterbunden, von der Verwendung sozialer Medien zu Widerstandzwecken ganz zu schweigen.

Zehntausende zusätzliche indische Soldaten wurden eingeflogen. Die Regierung des indischen BJP-Premierministers Narendra Modi, der eine faschistische Gesinnung an den Tag legt, will jede Opposition gegen den verfassungswidrigen Putsch von vornherein ersticken. Per Exekutivbeschluss hat die indische Regierung dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir – dem einzigen mit einer muslimischen Mehrheit – seinen besonderen Autonomiestatus entzogen und ihn in zwei „Unionsterritorien“ aufgeteilt, die de facto der Zentralregierung unterstehen.

Jedes Anzeichen von Widerstand wird mit brutaler Repression beantwortet. Allein am Donnerstag berichteten Ärzte in einem der wichtigsten Krankenhäuser in Srinagar, der größten Stadt der Region, dass mindestens 50 Menschen wegen Verwundungen durch Schrotflinten und Gummigeschosse behandelt wurden.

Am 16. August fand eine große Demonstration gegen die Blockade statt. Die Teilnehmer, die sich nach dem Freitagsgebet in Srinagar versammelten, trugen Schilder mit Aufschriften wie „Stoppt den Völkermord in Kaschmir, „Wach auf, Welt!“ Sie wurden mit Tränengas und Schrotflinten beschossen.

Vielfach wurde die massive Repression in Kaschmir mit dem Vorgehen des israelischen Staats und seiner Sicherheitskräfte gegen die palästinensische Bevölkerung im besetzten Westjordanland und Gazastreifen verglichen. Aber um einen Präzedenzfall für das gewaltsame Einsperren einer ganzen Bevölkerung von vergleichbarer Größe zu finden, muss man in die Zeit der Besetzung Europas durch Nazi-Deutschland zurückgehen.

Eines der auffallendsten Merkmale der Ereignisse in Kaschmir ist das nahezu völlige Schweigen und die Gleichgültigkeit der westlichen Regierungen und Medien. Die großen Nachrichtensender in den USA ignorieren die Massenunterdrückung fast vollständig; die führenden Zeitungen berichten nur oberflächlich und sporadisch.

Das US-Außenministerium gab eine fadenscheinige Erklärung heraus, in der es hieß: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass die indische Regierung diese Handlungen als rein interne Angelegenheit betrachtet.“

Wie hätte wohl die Reaktion auf eine ähnliche Repression in Russland, China, Iran oder Venezuela ausgesehen? Besteht irgendein Zweifel daran, dass rund um die Uhr darüber berichtet worden wäre und dass Washington das Vorgehen heftig verurteilt oder sogar mit einer militärischen Intervention gedroht hätte? Erneut zeigt sich, dass die „Menschenrechte“ nur dann ein Thema sind, wenn sie dazu herhalten müssen, neokoloniale Kriege für einen Regimewechsel oder die Offensive des US-Imperialismus gegen seine strategischen Rivalen Russland und China zu rechtfertigen.

Es gibt sowohl wirtschaftliche als auch geostrategische Gründe dafür, dass die USA und die großen kapitalistischen Mächte die Massenunterdrückung in Kaschmir ignorieren. Unter der Führung von Washington wollen alle westlichen Großmächte Indien als militärisch-strategisches Gegengewicht zum chinesischen Einfluss in Asien aufbauen. Modis rechtsextreme Regierung stellt sich uneingeschränkt in den Dienst dieser Bestrebungen. Sie hat Indiens Häfen und Basen für US-Kriegsschiffe und -Kampfflugzeuge geöffnet. Außerdem ist sie der von den USA geführten strategischen Allianz mit Japan und Australien beigetreten und hat Indien zu einem US-Frontstaat in der Konfrontation mit Peking gemacht.

Es gibt allerdings noch einen tieferen Grund für das Schweigen zu Modis Vorgehen. Alle westlichen Regierungen können sich vorstellen, ähnliche Methoden anzuwenden, um soziale Massenunruhen in ihren eigenen Ländern niederzuschlagen, und haben zweifellos bereits umfangreiche Vorbereitungen dafür getroffen.

Die Regierung von Donald Trump in den USA konsolidiert mit zunehmend autoritären Methoden eine präsidiale Diktatur, die auf der Unterstützung rechtsextremer und faschistischer Elemente basiert. Zu diesem Zweck setzt sie auf polizeiliche Maßnahmen gegen Flüchtlinge und Einwanderer. In Frankreich hat Emmanuel Macron den Ausnahmezustand zum Normalzustand gemacht und nutzt ihn für weitreichende soziale Angriffe. Er hat die Armee gegen die „Gelbwesten“ eingesetzt und seine Bewunderung für den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain kundgetan. Die Regierung von Angela Merkel kultiviert und schützt die extreme Rechte in Deutschland, darunter faschistische Banden und Hitler-Apologeten. In ihrer Amtszeit wurde die rechtsextreme AfD zur wichtigsten Oppositionspartei im Bundestag.

Überall zerbrechen demokratische Herrschaftsformen unter dem Druck der zunehmenden sozialen Ungleichheit. Die kapitalistischen Oligarchien reagieren auf die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, die Zunahme von Handelskriegen und geostrategischen Konflikten und vor allem auf das Wiederaufleben des Klassenkampfs weltweit, indem sie auf diktatorische Maßnahmen und Faschismus setzen.

Kein Arbeiter sollte sich vormachen, dass es in seinem Land nicht zu einem derart brutalen Vorgehen wie in Kaschmir kommen könnte. Das Abschalten des Internets, die Überflutung der Straßen mit Soldaten, die Verhängung von Ausgangssperren rund um die Uhr, Schüsse auf Demonstranten – und Schlimmeres – kann und wird auch in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und jedem anderen Land stattfinden, wenn die Arbeiterklasse nicht auf internationaler Ebene aktiv wird und sich dabei auf ein sozialistisches Programm zum Sturz des Kapitalismus stützt.

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