Merkel und Orbán: Einigung auf Kosten von Flüchtlingen und Demokratie

Manchmal übertrifft die Realität die übelste Phantasie. Das war am Montag im westungarischen Sopron der Fall, wo die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze vor dreißig Jahren feierten. Sie stimmten Lobeshymnen auf die „Freiheit“ an und überboten sich gegenseitig mit Komplimenten – zu Lasten von Flüchtlingen und demokratischen Rechten und im Interesse einer engeren militärischen Zusammenarbeit.

Am 19. August 1989 hatte das damalige stalinistische Regime Ungarns über 600 angereisten DDR-Bürgern erlaubt, die bisher hermetisch abgeriegelte Grenze zwischen Ost- und Westeuropa zu passieren. Damit begann eine Massenflucht aus der DDR, die zweieinhalb Monate später zum Fall der Mauer und zur Einführung des Kapitalismus in ganz Osteuropa führte.

Orbán, der die südliche Grenze Ungarns durch einen 175 Kilometer langen, vier Meter hohen Stacheldrahtzaun hermetisch gegen Flüchtlinge abgeriegelt hat, und Merkel, die mit ihrer rigorosen Flüchtlingspolitik maßgeblich zum Massensterben im Mittelmeer beiträgt, priesen das Niederreißen des Grenzzauns vor dreißig Jahren als großen Beitrag zur „Freiheit“.

Von einem Journalisten auf den offensichtlichen Widerspruch angesprochen, erwiderte Orbán, der Abbau des Grenzzauns vor dreißig Jahren habe der „Freiheit“ der Bürger des damaligen Ostblocks gedient. Nun diene der Bau eines Zauns an den Grenzen zu Serbien und Kroatien ihrer „Freiheit und Sicherheit“: „Wir haben jetzt an den südlichen Grenzen Mauern gebaut, damit jene Deutschen, für die vor 30 Jahren Mauern abgebaut wurden, heute in Sicherheit leben können. Diese beiden Dinge hängen zusammen. Wir sind die Burghüter der Deutschen.“

Merkel widersprach ihm nicht. „Wir sind uns einig, dass Grenzschutz wichtig ist“, erklärte sie und stellte die Gemeinsamkeiten mit Orbán heraus: den Kampf gegen Fluchtursachen in Afrika, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und den besseren Schutz der EU-Außengrenzen. Sie lobte die guten deutsch-ungarischen Beziehungen und stellte mehr Handel, mehr gemeinsame Forschung und vor allem mehr militärische Zusammenarbeit in Aussicht.

Bis vor kurzem war das Verhältnis zwischen Berlin und Budapest äußerst frostig gewesen. Die Bundesregierung hatte Orbáns Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, pro forma kritisiert, auch wenn sie mit der Abschottung der europäischen Außengrenzen eine ähnliche Politik betreibt.

Im letzten Herbst hatte das Europaparlament mit großer Mehrheit ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Ein im Auftrag des Parlaments erstellter Bericht war zum Schluss gelangt, dass in Ungarn eine „systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte“ herrsche. Gestützt auf offizielle Befunde der Vereinten Nationen, der OSZE und des Europarats kritisierte der Bericht Einschränkungen der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit, eine Schwächung des Verfassungs- und Justizsystems, das Vorgehen der Regierung gegen Nichtregierungsorganisationen, Verstöße gegen die Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen sowie Korruption und Interessenkonflikte.

Im März dieses Jahres hatte die Europäische Volkspartei, der auch Merkels CDU angehört, Orbáns Partei Fidesz suspendiert, weil sie im Europawahlkampf gegen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gehetzt hatte. Orbán hatte daraufhin gedroht, mit rechten Nationalisten, wie der italienischen Lega und dem französischen Rassemblement National, gemeinsame Sache zu machen.

Doch nun waren diese Differenzen wie weggeblasen. Orbán überschüttete Merkel mit Lob, versicherte ihr die „Wertschätzung der ungarischen Nation“ und lobte ihr „unermüdliches Engagement für die europäische Einheit“. Merkel enthielt sich jeder Kritik an Orbáns diktatorischen Herrschaftsmethoden.

Grund für die Versöhnung von Merkel und Orbán ist ein schmutziger Deal. Orbáns Fidesz – und die ebenso nationalistische polnische PiS von Jaroslaw Kaczynski – hatten dafür gesorgt, dass Merkels Kandidatin Ursula von der Leyen bei der Wahl zur Präsidentin der EU-Kommission die erforderliche Mehrheit erhielt. Dafür waren offenbar Gegenleistungen zugesagt worden.

Laut einem Bericht der Zeitung Die Welt soll die ungarische Seite vor der Wahl unter anderem folgende „klare Bitten“ formuliert haben: Berücksichtigung der Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien bei der Besetzung wichtiger EU-Posten; Ablösung des bisherigen EU-Kommissars für Rechtsstaatlichkeit Frans Timmermans, der Ungarn wiederholt kritisiert hatte, von diesem Zuständigkeitsbereich; Unterstützung der Kandidatur des ehemaligen ungarischen Justizministers László Trócsányi für einen Posten als EU-Kommissar; Aufhebung der Suspendierung der EVP-Mitgliedschaft der Fidesz.

Vor allem aber verbinden Berlin und Budapest massive wirtschaftliche und militärische Interessen. Deutschland ist der größte Investor in Ungarn. Insbesondere Unternehmen der Autoindustrie wie Audi und Bosch nutzen das nahe gelegen Land, in dem die Arbeitskosten nur ein Viertel der deutschen betragen, als Niedriglohnplattform. Derzeit arbeiten in Ungarn 300.000 Beschäftigte in 6000 deutschen Unternehmen. Das Handelsvolumen betrug im vergangenen Jahr 55 Milliarden Euro.

Inzwischen ist Ungarn auch der größte Abnehmer der deutschen Rüstungsindustrie. Allein im ersten Halbjahr 2019 lieferten deutsche Unternehmen Waffen im Wert von 1,76 Milliarden Euro an die Donau, mehr als doppelt so viel wie nach Ägypten, der Nummer 2 auf der deutschen Waffenexportliste.

Die Regierung Orbán ist dabei, die Militärausgaben zu verdoppeln und die ungarischen Streitkräfte weit über das Zwei-Prozent-Ziel der Nato hinaus aufzurüsten. „Die Verteidigung Ungarns ist nicht die Aufgabe der Nato und auch nicht der EU, sondern die unsrige“, begründete Orbán dies im Mai. „Es kann kein starkes Ungarn geben ohne starke Armee. Eine Nation, die ihr Land nicht zu verteidigen vermag, verdient ihr Land nicht.“

Von Deutschland, das schon unter den Nazis mit Ungarn verbündet war, wird dieses Vorhaben unterstützt. Der Grund dafür sind nicht nur die Profite der Waffenindustrie. Deutschland rüstet selbst massiv auf und strebt wieder eine Rolle als Weltmacht an. Dazu braucht es Verbündete. Das ist der Grund, weshalb sich Merkel mit Orbán versöhnt.

Der dreißigste Jahrestag der Grenzöffnung wurde dafür nicht zufällig ausgewählt. Die damalige Öffnung der ungarischen Grenze war kein Schritt in Richtung „Freiheit“, sondern in Richtung Kapitalismus und einer neuen Form von Unterdrückung.

Die Mauer und der Eiserne Vorhang, die Menschen zwangsweise an der Ausreise hinderten, waren zweifellos reaktionär. Sie dienten der Sicherung der stalinistischen Herrschaft, der Macht einer privilegierten bürokratischen Kaste, die vom staatlichen Eigentum schmarotzte und jede Form von Arbeiterdemokratie unterdrückte.

Es gab aber zwei Formen von Opposition gegen den Stalinismus. Die eine griff ihn von rechts an, die andere von links. Die erste strebte die Beseitigung des gesellschaftlichen Eigentums und die Einführung kapitalistischer Ausbeutung an, die zweite den Sturz der Bürokratie und die Errichtung einer wirklichen, sozialistischen Arbeiterdemokratie.

Die Grenzöffnung vom 19. August 1989 gehört eindeutig zur ersten Kategorie. Das zeigt schon ihr Anlass – ein „paneuropäisches Picknick“, organisiert von der erzreaktionären Paneuropa-Union, an deren Spitze damals der österreichische Thronfolger Otto von Habsburg stand.

Die Opposition gegen den Stalinismus nahm damals in ganz Osteuropa explosionsartig zu. Sie äußerte sich in Forderungen nach Demokratie und richtete sich gegen die stalinistischen Herrscher und ihre Privilegien, nicht gegen das gesellschaftliche Eigentum. Die Öffnung der Grenze diente dazu, Druck abzulassen und die Bewegung in eine pro-kapitalistische Richtung zu lenken.

Gyula Horn, der ungarische Außenminister, der für die Grenzöffnung verantwortlich war, verkörperte den Flügel der stalinistischen Bürokratie, der ihre gefährdeten Privilegien durch die Einführung kapitalistischen Eigentums zu sichern versuchte. Er orientierte sich an Michail Gorbatschow, der 1985 die Führung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion übernommen hatte und deren Auflösung einleitete. Nach der Wende war Horn von 1994 bis 1998 ungarischer Ministerpräsident und organisierte die kapitalistische Restauration.

Für die Arbeiterklasse ist das Ergebnis nicht „Freiheit“, sondern eine soziale Katastrophe. Das einst gute Bildungs- und Gesundheitssystem ist zerfallen. Auch dreißig Jahre nach der Wende dominieren Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Zerfall. Und anstelle von Demokratie kehren autoritäre Herrschaft, Faschismus und Krieg zurück.

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