30 Jahre seit dem Fall der Mauer

Heute vor dreißig Jahren leitete der Fall der Mauer das Ende der DDR ein. Wir veröffentlichen dazu einen Artikel von Peter Schwarz, der erstmals vor fünf Jahren, am 8. November 2014, unter dem Titel „25 Jahre seit dem Mauerfall – eine Bilanz“ auf der WSWS erschien.

Am Sonntag den 9. November jährt sich zum 25. Mal der Fall der Berliner Mauer. Er leitete 40 Jahre nach ihrer Gründung den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik ein.

In Berlin finden zum Jahrestag ausgedehnte Feierlichkeiten statt. 8.000 leuchtende Ballons markieren den Verlauf der Mauer und steigen abends um 19 Uhr zu den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ in die Luft. Bejahrte Popstars wie Udo Lindenberg und Peter Gabriel sowie die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim geben am Brandenburger Tor ein Konzert.

Sämtliche Programme des Regionalsenders rbb widmen sich einen Tag lang dem Mauerfall. Sie „lassen zum Jubiläum die grenzenlose Freude von 1989 wiederaufleben und wollen den Wahnsinn von damals spürbar machen“, heißt es dazu in einer offiziellen Mitteilung.

Bundespräsident Joachim Gauck hatte bereits am 9. Oktober in Leipzig einen Festakt zum Thema „25 Jahre Friedliche Revolution“ zelebriert. Er stellte dort die Proteste gegen das DDR-Regime vor 25 Jahren in eine Reihe mit den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich und „der deutschen Freiheitsbewegung von 1848“.

„Zehntausende überwanden ihre Angst vor den Unterdrückern, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht“, verkündete Gauck. „Aus dem Aufbruch der wenigen Mutigen war eine Bewegung der Massen geworden, die unaufhaltsam zu einer Friedlichen Revolution heranwuchs.“

Der Versuch, das Ende der DDR als freiheitliche Revolution zu verklären und die euphorische Stimmung anlässlich des Mauerfalls zu beschwören, dient vor allem einem Ziel: Er soll verhindern, dass nach einem Vierteljahrhundert eine nüchterne Bilanz der Wiedervereinigung gezogen und darüber nachgedacht wird, was im Herbst 1989 tatsächlich geschah. Je trüber die Gegenwart, je fortgeschrittener der soziale Zerfall der Gesellschaft, der Niedergang ihrer demokratischen Institutionen und die Rückkehr des Militarismus, desto heller soll sie im Licht einer „freiheitlichen Revolution“ erstrahlen.

Soziale Konterrevolution

Sozial war das Ende der DDR keine Revolution, sondern eine Konterrevolution. Mit dem Kapitalismus hielten auch Arbeitslosigkeit, krasse Ausbeutung, schreiende soziale Ungleichheit und bittere Armut wieder Einzug im Osten Deutschlands.

Die gut ausgebaute Industrie, die Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit garantierte, wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Die Treuhandanstalt wickelte insgesamt 14.000 volkseigene Betriebe ab. Einige verkaufte sie, die meisten legte sie still. Innerhalb von drei Jahren wechselten oder verloren 71 Prozent aller Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Heute arbeiten im produzierenden Gewerbe der neuen Bundesländern nur noch ein Viertel so viele wie 1989.

Die Folge ist die Entvölkerung und Überalterung ganzer Landstriche. Lebten 1989 noch 16,7 Millionen Menschen auf dem Gebiet der DDR, waren es 2006 nur noch 14,6 Millionen, ein Rückgang von 13 Prozent. Da über 60 Prozent der Abgewanderten jünger als 30 Jahre sind und die Geburtenrate dramatisch sank, stieg der Altersdurchschnitt der Bevölkerung stark an.

Das gut ausgebaute Bildungs- und Sozialsystem sowie das dichte Netz kultureller Einrichtungen, über das die DDR verfügte, wurden zerschlagen. Allein in Sachsen, das rund vier Millionen Einwohner zählt, sind seit der Wende über 1000 Schulen stillgelegt worden.

Die Behauptung, es handle sich dabei lediglich um einen Übergangs- und Anpassungsprozess, haben spätestens die Hartz-Gesetze und die Finanzkrise 2008 widerlegt.

Auch 25 Jahre nach der deutschen Einheit klaffen die Lebensverhältnisse in Ost und West weit auseinander. 2013 lag das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers in den östlichen Bundesländern 25 Prozent unter dem im Westen. Das Vermögen eines Haushalts war im Osten mit 67.000 Euro im Schnitt nur halb so hoch wie im Westen mit 153.000 Euro.

Wenn es überhaupt eine Annäherung gab, dann wurden die Einkommen im Westen an die niedrigeren Osteinkommen angepasst. Laut den Daten des Statistischen Bundesamts lagen die durchschnittlichen Reallöhne in ganz Deutschland 2013 unter dem Niveau von 1995. Die Stundenlöhne von Geringverdienern gingen seit 1995 real sogar um bis zu 20 Prozent zurück. Die Spitzeneinkommen stiegen dagegen deutlich an.

Staatsaufrüstung

Die Diktatur der SED und der Stasi wurde nach der Wende durch die Diktatur der Banken und Konzerne abgelöst, samt ihren gekauften Politikern, ihren gelenkten Medien und ihren rechtslastigen Geheimdiensten.

Rückblickend erscheint die DDR-Staatssicherheit neben der amerikanischen NSA und ihren deutschen Partnern, deren gewaltiges Überwachungsnetz der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt hat, wie ein Amateurverein. Das ehemalige Stasi-Hauptquartier an der Normannenstraße nimmt sich neben der neuerbauten BND-Zentrale an der Chausseestraße geradezu bescheiden aus.

Die Verfassungsschutzämter, die die Stasi im Innern ablösten, haben sich als Brutstätten des Rechtsextremismus entpuppt. So hat das Bundesverfassungsgericht 2003 ein Verbot der rechtsextremen NPD abgelehnt, weil jeder siebte Funktionär auf den Gehaltslisten des Verfassungsschutzes stand und es sich bei ihr „der Sache nach um eine Veranstaltung des Staates“ handelte. Der thüringische Verfassungsschutz hat die rechtsextreme Szene des Landes, aus der die Terrorgruppe NSU hervorging, mit Hunderttausenden Euro finanziert.

Auch die Mauer, deren Fall am Sonntag gefeiert wird, ist neu entstanden – an den Außengrenzen Europas. Neben den 25.000 Opfern, die seit 1990 allein im Mittelmeer auf der Flucht nach Europa gestorben sind, nehmen sich die 100 bis 150 Mauertoten der Jahre 1961 bis 1989 vergleichsweise gering aus.

Selbst demokratische Rechte, die lange Zeit als unangreifbar galten, stehen inzwischen unter Beschuss. Zwei Tage vor der Jubelfeier zum Mauerfall hat die Deutsche Bahn AG mit Unterstützung der Bundesregierung versucht, den Streik der Lokführer zu verbieten und das Streikrecht faktisch abzuschaffen. Das Gesetz zur Tarifeinheit, das die Bundesregierung derzeit auf den Weg bringt, verschafft dem DGB ein Monopol, wie es in der DDR einst der FDGB besaß. Jede Kampfmaßnahme, die nicht den Segen des DGB hat, wäre mit dem neuen Gesetz illegal.

Auch die „freien Wahlen“, die 1989 viele Demonstranten forderten, haben sich als Betrug entpuppt. Statt einer Einheitsliste können die Wähler zwar verschiedene Parteien und Kandidaten ankreuzen, aber deren Politik unterscheidet sich nicht. Sie wird von den Interessen der Wirtschaft bestimmt. Als Folge ist die Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern inzwischen unter 50 Prozent gesunken, ein historischer Tiefstand.

Rückkehr des Militarismus

Die verheerendste Folge der kapitalistischen Wiedervereinigung ist die Rückkehr des deutschen Militarismus.

Der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer, ein schamloser Vertreter des deutschen Imperialismus, verkündet in seinem jüngsten Buch, Deutschland sei zwei Jahrzehnte nach der Einigung „von dem alten Widerspruch der deutschen Mittellage“ eingeholt worden: „Deutschland ist und bleibt zu groß für Europa und zu klein für die Welt.“

1914 und 1939 hatte Deutschland diesen Widerspruch zu lösen versucht, indem es Europa eroberte, um so zur Weltmacht zu werden. Hauptstoßrichtung war dabei der Osten, die Zurückdrängung Russlands. Nun beschreiten die herrschenden Eliten wieder denselben Weg.

Unterstützt von sämtlichen Medien und Parteien propagieren der Bundespräsident und die Bundesregierung das „Ende der militärischen Zurückhaltung“. In der Ukraine haben sie in enger Zusammenarbeit mit Nazi-Kollaborateuren aus dem Zweiten Weltkrieg einen Putsch organisiert, um einem rechten, EU-freundlichen Regime an die Macht zu verhelfen. Die Kriegshetze gegen Russland eskaliert. Ein atomarer Krieg zwischen der Nato und Russland ist inzwischen keine theoretische Hypothese mehr, sondern eine reale Gefahr. Auch im Nahen Osten hat die Bundesregierung mit der Bewaffnung der kurdischen Peschmerga angekündigt, dass sie bei der nächsten Runde der gewaltsamen Aufteilung der Region aktiv dabei sein wird.

Was 1989 geschah

Die Demonstrationen, die 1989 das Ende der DDR einleiteten, waren keine freiheitliche Revolution. Sie werden als klassisches Beispiel für eine Bewegung in die Geschichte eingehen, die, ausgelöst durch ein allgemeines Gefühl der Ausweglosigkeit und Unzufriedenheit mit dem Regime, politisch manipuliert und in eine Sackgasse gelenkt wurde, weil ihr eine tragfähige Perspektive fehlte.

Entgegen der offiziellen Mythen ging die Initiative zur Einführung des Kapitalismus in der Sowjetunion, Osteuropa und der DDR von der herrschenden stalinistischen Bürokratie selbst aus. Diese privilegierte Kaste hatte in den 1920er Jahren in der Sowjetunion die Macht usurpiert, indem sie die marxistische Opposition verdrängte, unterdrückte und schließlich physisch liquidierte.

Sie stützte ihre Herrschaft auf die fortschrittlichen Eigentumsverhältnisse, die die Oktoberrevolution 1917 geschaffen hatte. Aber sie tat das als Parasit, der seinen Wirt aussaugt und letztlich zerstört. Indem sie die Arbeiterdemokratie unterdrückte, erdrosselte sie das kreative Potential des gesellschaftlichen Eigentums. Auf internationaler Ebene erstickte sie und die von ihr abhängigen Kommunistischen Parteien jede revolutionäre Bewegung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die stalinistische Bürokratie zu einer wichtigen Säule des Status Quo, der die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft im Weltmaßstab sicherte. Sie dehnte ihre Herrschaft in Absprache mit den westlichen Alliierten auf Osteuropa aus und beseitigte dort das kapitalistische Eigentum, unterdrückte aber – wie am 17. Juni 1953 bei der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR – jede unabhängige Regung der Arbeiterklasse.

Dieser Zustand konnte nicht ewig anhalten. Leo Trotzki, der führende marxistische Gegner des Stalinismus, hatte dies schon 1938 vorausgesehen. „Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus“, schrieb er im Gründungsprogramm der Vierten Internationale.

Die Globalisierung der 1980er Jahre stürzte die national beschränkten Volkswirtschaften der stalinistischen Länder in die Krise. Die Bürokratie reagierte, wie es Trotzki vorausgesagt hatte: Sie versuchte, mit der Einführung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse eine neue Grundlage für ihre Privilegien zu schaffen. Darin bestand die Bedeutung der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im Jahr 1985.

SED-Generalsekretär Erich Honecker zögerte, es Gorbatschow gleichzutun. Doch die Mehrheit der SED-Führung hatte sich längst für den Weg zum Kapitalismus und zur Wiedervereinigung entschieden. Drei Wochen vor dem Mauerfall stürzte das Zentralkomitee Honecker und ersetzte ihn erst durch Egon Krenz und dann durch Hans Modrow.

Modrow, der als ihr letzter SED/PDS-Ministerpräsident das Ende der DDR besiegelte, bekannte später in seinen Erinnerungen: „Nach meiner Einsicht war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden.“ Günter Mittag, der viele Jahre für die Wirtschaft der DDR verantwortlich war, vertraute dem Spiegel an, er sei schon 1987 zur Erkenntnis gelangt: „Jede Chance ist verspielt.“

Die Demonstrationen, die sich im Oktober 1989 über das ganze Land ausbreiteten, rannten offene Türen ein. Den Verantwortlichen im Westen war dies klar. „Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert“, vertraute der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 2001 seinem Biographen Heribert Schwan an. Diese Vorstellung entstamme dem „Volkshochschulhirn von Thierse“, einem ostdeutschen SPD-Politiker. Tatsächlich sei die Entscheidung in Moskau gefallen: „Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er das Regime nicht halten konnte.“

Die Bürgerrechtsbewegungen, die in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen, stimmten mit der stalinistischen Bürokratie im Ziel der kapitalistischen Restauration überein. Kaum gegründet, setzten sie sich mit der SED an den „Runden Tisch“ und traten schließlich sogar der Regierung Modrow bei, um die Vereinigung Deutschlands vorzubereiten. Sie rekrutierten sich vorwiegend aus dem Kleinbürgertum. Zu ihren Wortführern zählten Pfarrer, Rechtsanwälte und Künstler. Was sie an der DDR störte, war nicht die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse, sondern die Tatsache, dass sie keine lukrativen Karrierechancen hatten, wie ihre Kollegen im Westen. Angela Merkel, die derzeitige Bundeskanzlerin, und Joachim Gauck, der Bundespräsident, begannen hier ihre politische Laufbahn.

Die Demonstranten, die im Herbst 1989 freie Wahlen forderten und „Wir sind das Volk“ skandierten, verstanden diese Zusammenhänge nicht. Sie machten ihrer Empörung über die herrschende Bürokratie Luft. Die Bewegung hatte ursprünglich als Flucht in den Westen begonnen, war sozial heterogen, politisch konfus und hatte weder ein klar umrissenes Ziel, noch verstand sie die gesellschaftlichen Kräfte, mit denen sie konfrontiert war. Daher ließ sie sich leicht manipulieren und für fremde Zwecke missbrauchen.

Die Perspektive der SGP

Nur eine Partei hatte diese Entwicklung vor 25 Jahren vorausgesehen – der Bund Sozialistischer Arbeiter, die heutige Sozialistische Gleichheitspartei. In zahlreichen Aufrufen, Artikeln und Flugblättern, die wir später unter dem Titel „Das Ende der DDR“ auch als Buch veröffentlichten, warnten wir vor den verheerenden sozialen Folgen der kapitalistischen Restauration.

Auch die Rückkehr des deutschen Militarismus sagten wir damals voraus: „Der deutsche Imperialismus findet sich immer mehr der Möglichkeit beraubt, auf ‚friedlichem’, d.h. rein ökonomischem Wege zu expandieren. Das führt unweigerlich zu einer Wiederbelebung des traditionellen Mittels deutscher Expansionspolitik, des Militarismus“, heißt es in einer Erklärung des BSA vom 2. Juni 1990.

Der BSA verfügte in der DDR nicht über genügend Einfluss, um die Einführung des Kapitalismus aufzuhalten. Das SED-Regime hatte die trotzkistische Bewegung jahrzehntelang erbittert verfolgt und die marxistische Kritik am Stalinismus unterdrückt. Darin lag sein größtes Verbrechen, und nicht darin, dass es die „Freiheit“ von kapitalistischen Geschäftemachern, Spekulanten und kleinbürgerlichen Karrieristen einschränkte.

1989 wurden die Arbeiter der DDR überrumpelt. Abgeschnitten von der eigenen Geschichte durch die Fälschungen des Stalinismus, daran gehindert, sich politisch auszutauschen und frei zu organisieren, hatten sie dem Kapitalismus nichts entgegenzusetzen. Aber keines der damaligen Probleme ist gelöst. Die Arbeiterklasse ist heute überall auf der Welt mit sinkenden Einkommen, Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Staatsaufrüstung und Kriegsgefahr konfrontiert.

Eine Bilanz der letzten 25 Jahre und ein Verständnis der damaligen Ereignisse, des Charakters der DDR und der Rolle des Stalinismus sind wichtige Voraussetzungen, um den Kampf dagegen zu führen.

Loading