Krieg in Syrien eskaliert nach Angriff auf türkische Soldaten

Der Konflikt um die nordsyrische Provinz Idlib eskaliert. Allen Appellen der Vereinten Nationen, der Nato und mehrerer Regierungen zum Trotz, weitet sich die Konfrontation zwischen der Türkei und Russland immer mehr zum offenen Krieg aus. Dadurch steigt die Gefahr eines katastrophalen Weltkriegs.

Am 27. Februar wurden bei einem Angriff auf einen Konvoi nach offiziellen Angaben 33 türkische Soldaten getötet (anderen Darstellung zufolge könnten es bis zu 50 sein). Die türkische und die russische Seite, die in Syrien diametral entgegengesetzte Ziele verfolgen, stellten den Hergang unterschiedlich dar, und die Türkei reagierte mit Vergeltungsschlägen gegen Einheiten der Syrischen Arabischen Armee.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar (Dritter von rechts) bei der Beerdigung des in Syrien getöteten türkischen Soldaten Halil Ibrahim Akkaya in Bahce (Provinz Osmaniye, Türkei) am 28. Februar 2020 (AP Photo)

Ein deutliches Anzeichen für die wachsende Kriegsgefahr war am Freitag, 28. Februar, die Mitteilung der russischen Regierung, ihre Marine werde zwei Kriegsschiffe mit Marschflugkörpern vom Typ Kalibr aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer verlegen. Sie werden gemeinsam mit einer ähnlich bewaffneten, bereits dort stationierten Fregatte vor der syrischen Küste operieren. Die drei Kriegsschiffe bedrohen unmittelbar 10.000 in Idlib stationierte türkische Soldaten.

Am selben Freitag äußerten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der russische Präsident Wladimir Putin in einem Telefongespräch laut dem Gesprächsprotokoll, das der Kreml anschließend veröffentlichte, die „ernsthaften Bedenken“ beider Länder wegen einer Eskalation des Konflikts in Idlib. Von großer Bedeutung sei, wie es heißt, eine „effektivere Koordination zwischen den Verteidigungsministerien Russlands und der Türkei“.

Ein Kreml-Sprecher gab außerdem bekannt, dass sich die beiden Präsidenten in dieser Woche in Moskau treffen wollen, um die Krise zu entschärfen.

Allerdings widersprechen sich die Schilderungen des russischen und des türkischen Verteidigungsministeriums über den Angriff vom Donnerstag. Zwar stimmen beide Seiten darin überein, dass der Angriff nicht von russischer, sondern von syrischer Seite ausgeführt worden sei. Die Türkei macht jedoch einen Luftangriff für die Todesopfer verantwortlich (und die meisten Bombenangriffe auf Idlib werden von russischen Kampfjets ausgeführt. Aus Moskau wurde jedoch versichert, dass kein Flugzeug in diesem Gebiet unterwegs gewesen sei.) Die russische Seite versicherte ihrerseits, ein syrischer Artilleriebeschuss habe die Soldaten getötet. Dass beide Seiten Syrien für den tödlichen Angriff verantwortlich machen, ist Ausdruck ihres Bestrebens, eine direkte russisch-türkische Konfrontation zu vermeiden.

Die Türkei betonte, sie habe das russische Militär über die Position ihrer Truppen informiert, und erklärte, diese Information sei von Moskau nicht an die syrischen Regierungstruppen weitergegeben worden. Dazu sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar am Freitag: „Ich möchte feststellen, dass sich während dieses Angriffs keine bewaffneten Gruppen in der Nähe unserer Militäreinheiten befanden.“

Aus dem russischen Verteidigungsministerium heißt es jedoch, die türkischen Soldaten hätten sich „unter Kampfformationen terroristischer Gruppen“ bewegt und seien in ein Gebiet eingerückt, „in dem sie nicht hätten sein dürfen“. Zudem sei das russische Militär nicht gewarnt worden.

Der Angriff kam inmitten eines erbitterten Kampfs, den die Syrische Arabische Armee gegen Milizen führte, die ihr mit türkischer Unterstützung die Kontrolle über die Stadt Saraqeb streitig machen. Diese Stadt liegt an einer strategisch wichtigen Autobahn zwischen der syrischen Hauptstadt Damaskus und der zweitwichtigsten Stadt Syriens, Aleppo. Die syrischen Regierungstruppen hatten Saraqeb Anfang letzter Woche eingenommen, aber die „Rebellen“ konnten sie erneut überrennen.

Die Regierungen in Ankara und Moskau werfen sich gegenseitig vor, gegen das russisch-türkische Abkommen von Sotschi aus dem Jahr 2018 zu verstoßen. Durch dieses wurde Idlib zur „entmilitarisierten Zone“ erklärt, in der Waffenstillstand herrschen müsse. In dieser Zone darf es kein schweres Kriegsgerät, Raketensysteme und Granatwerfer und keine „radikalen Rebellen“ (im Gegensatz zu „gemäßigten“ Rebellen) mehr geben.

Die Türkei wirft der syrischen Regierung und ihren wichtigsten Verbündeten, Russland und Iran, vor sie habe das Abkommen verletzt, als sie eine Offensive zur Rückeroberung großer Teile von Idlib führte. Russland dagegen wirft der Türkei vor, die „radikalen“ nicht von den „gemäßigten“ Rebellen zu trennen und beide Gruppen militärisch zu unterstützen und mit bewaffneten Drohnen und Artillerie auszurüsten.

Die wichtigsten bewaffneten „Rebellen“ in Idlib sind die Hayat Tahrir al-Sham. Diese Gruppe, die unter Führung eines syrischen Ablegers von al-Qaida steht, wird von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft. Der ehemalige US-Chefdiplomat des Feldzugs gegen den Islamischer Staat, Brett McGurk, bezeichnete die Provinz Idlib als „die größte al-Qaida-Zuflucht seit dem 11. September“ und als „riesiges Problem“. Russland wiederum befürchtet, dass die al-Qaida-nahen Kräfte, die in Idlib konzentriert sind, auch in den Kaukasus eindringen könnten, wo sie Terrorismus schüren und das russische Staatsgebiet untergraben könnten.

Der türkische Verteidigungsminister Akar behauptete am Freitag, die Türkei habe als Vergeltung für den Angriff auf seine Soldaten in Idlib mehr als 300 syrische Soldaten „neutralisiert“ und Dutzende von syrischen Hubschraubern, Panzern und Haubitzen zerstört.

Kurz darauf erklärte ein Sprecher der syrischen Regierung, die Türkei verbreite übertriebene Behauptungen, um „die schwindende Moral der Terroristen zu stärken“.

Am selben Freitag, 28. Februar, fand auf Antrag der Türkei eine Diskussion über den Konflikt in Idlib in der Nato und eine weitere im UN-Sicherheitsrat statt.

Die Reaktion der Nato bestand aus Beileids- und Solidaritätserklärungen, allerdings deutete sie keine nennenswerte Unterstützung für die türkischen Operationen in Syrien an. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte in einer Stellungnahme die „willkürlichen“ Luftangriffe des syrischen Regimes und der russischen Streitkräfte, rief aber alle Parteien in dieser „gefährlichen Lage“ zur Deeskalation auf.

Die amerikanische Nato-Botschafterin, Kay Bailey Hutchinson, erklärte zwar, hinsichtlich Syrien sei „alles auf dem Tisch“, betonte aber auch: „Ich hoffe, dass Präsident Erdogan erkennt, dass wir in der Vergangenheit sein Verbündeter waren und es in der Zukunft sein werden. Und sie müssen auf die S-400 verzichten.“ Damit meinte sie die Entscheidung Ankaras, für 2,5 Milliarden Dollar russische Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 zu kaufen. Diese Entscheidung hatte dazu geführt, dass die USA und andere Nato-Mitgliedsstaaten die Türkei beschuldigt hatten, sie würde aus dem Einflussbereich des Bündnisses ausscheren und sich Russland anschließen.

Die Regierung Erdogan hat bestätigt, dass die USA ihrer Bitte um Patriot-Raketenbatterien nicht nachgekommen sind. Mit diesen Raketen hätte die Türkei Russland die Kontrolle über den syrischen Luftraum streitig machen können. Zwei Tage vor dem Angriff auf die türkischen Truppen hatten US-Verteidigungsminister Mark Esper und Generalstabschef Mark Milley vor Kongressausschüssen erklärt, Washington habe nicht die Absicht, erneut in den Bürgerkrieg in Syrien einzugreifen. Letztes Jahr hatten die USA ihre Truppen von der syrisch-türkischen Grenze abgezogen. Allerdings befinden sich immer noch 500 US-Soldaten in der nordostsyrischen Provinz Deir Ezzor. Sie sollen offenbar die Kontrolle über die Ölfelder des Landes sicherstellen und der Regierung in Damaskus den Zugang zu diesen strategisch wichtigen Ressourcen verwehren.

In einer Art Erpressungsversuch gegenüber den europäischen Nato-Mächten gab die türkische Regierung bekannt, sie werde die 3,5 Millionen Flüchtlinge in ihrem Land nicht mehr an der Weiterreise nach Europa hindern, es sei denn, Europa stelle sich im Syrienkonflikt ausdrücklich hinter Ankara. Seither kursieren TV-Videos von Flüchtlingen in Booten und zu Fuß, welche die Ägäis überqueren und die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien überschreiten. Am Wochenende setzte die griechische Polizei in der Demarkationszone zwischen Griechenland und der Türkei Tränengas „zur Abschreckung“ gegen Flüchtlinge ein. Bulgarien begann, tausend Soldaten an die Grenze zu verlegen.

Großbritannien und andere Nato-Mächte erklärten auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrats ihre Solidarität mit der Türkei und verurteilten Syrien und Russland. Der UN-Generalsekretär António Guterres warnte vor potenziell „dramatischen Folgen“, wenn es in Idlib weitere solche direkte militärische Konfrontationen geben sollte. Er rief alle Seiten auf, „von einer weiteren Eskalation abzusehen“. Im Sicherheitsrat appellierte er, das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation der Kämpfe „in Anbetracht der vielen Soldaten, die in und um Idlib stationiert sind, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen“.

Kurz zuvor hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell eine ähnliche Warnung geäußert. Auf Twitter schrieb Borrell, bei den Zusammenstößen in Syrien bestehe das Risiko, „in eine große offene internationale militärische Konfrontation zu rutschen“.

Was die türkische Arbeiterklasse angeht, so lehnt sie die Militärintervention der Erdogan-Regierung in Syrien zutiefst ab. Um eine weitere Ausbreitung der Antikriegsstimmung zu verhindern, wurden am Donnerstababend sogar die sozialen Netzwerke abgestellt.

Auch die türkischen Finanzmärkte reagieren beunruhigt auf die drohende Eskalation des Konflikts mit Russland. Der Aktienindex Borsa Istanbul 100 sank am Freitag um zehn Prozent, und der Wert der türkischen Lira fiel den fünften Tag in Folge. Erst kurz zuvor hatte sich die Türkei aufgrund von Geschäften mit Russland von der jüngsten Rezession leicht erholt. So wurde erst im Januar die Pipeline Turkstream eingeweiht, die russisches Gas durch die Türkei nach Europa transportieren wird.

Die Gefahr besteht, dass der Syrienkonflikt in einen katastrophalen Weltkrieg ausarten könnte. Sie ist sogar wesentlich größer, als die Regierungen oder die Mainstreammedien einräumen. Letzte Woche veröffentlichte die russische Nachrichtenwebsite Gaseta.ru eine Kolumne ihres wichtigsten Militäranalysten, des ehemaligen Oberst Michail Chodarenok. Dieser behauptete, falls Russland gegenüber der Türkei nachgeben würde, wäre das ein „politisch-militärisches Fiasko“, obwohl die türkischen Streitkräfte in Idlib „zahlenmäßig und materiell deutlich überlegen“ seien. Seine Schlussfolgerung bestand darin, dass Russland sich nur durchsetzen könne, wenn es mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen drohe oder diese sogar tatsächlich einsetze.

In Idlib entladen sich gewaltige Spannungen, die nicht von heute auf morgen entstanden sind. Sie sind das Produkt des weltweit eskalierenden Kriegskurses, dessen Wurzeln in der unlösbaren Krise des Weltkapitalismus liegen. Ihre Ursache ist in erster Linie das Bestreben des US-Imperialismus, den Niedergang seiner Hegemonialstellung mit militärischen Mitteln umzudrehen. Nur der Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung der Arbeiterklasse im Nahen Osten und auf der ganzen Welt kann die Gefahr bannen, dass dieser Konflikt in einen Weltkrieg zwischen Atommächten münden könnte.

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