Rapider Anstieg der Corona-Infizierten in Deutschland und erster Todesfall

Am Sonntag erlag erstmals ein deutscher Staatsbürger nachweislich der neuartigen Lungenerkrankung Covid-19. Medienberichten zufolge handelt es sich um einen 60 Jahre alten Mann, der vor einer Woche als Tourist nach Ägypten gereist war. Es ist zugleich der erste Todesfall im Zusammenhang mit dem Corona-Virus in Afrika. Am Wochenende stieg die Zahl der Corona-Toten und -Infizierten in vielen Ländern rapide an.

Ein Mitarbeiter mit Gesichtsmaske und Handschuhen wartet hinter der Tür des Corona-Diagnostikzentrums in Düsseldorf auf den nächsten Patienten. (AP-Foto/Martin Meissner)

In Deutschland sind laut offiziellen Angaben (Stand Sonntagabend) mittlerweile mehr als 900 Menschen mit dem Erreger Sars-CoV-2 infiziert. Alleine von Freitag auf Samstag stieg die Anzahl um 155 Fälle. Anfang der Woche waren es noch 150. Schwerpunkt ist Nordrhein-Westfalen. Das Düsseldorfer Gesundheitsministerium berichtete am Sonntagmittag von 484 bestätigten Infektionen – 107 mehr als am Samstag. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief dazu auf, Reisen in dieses Bundesland zu unterlassen.

Mittlerweile sind, mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt, offiziell in jedem Bundesland Infektionen nachgewiesen. Aber auch dort wurden bereits Einrichtungen geschlossen und Menschen unter Quarantäne gestellt. In Zerbst wurde am Wochenende ein Krankenhaus für neue Patienten und Besucher gesperrt, da in der Einrichtung ein Arzt aus Sachsen arbeitet, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde.

Bereits am Freitag waren mehrere Schülergruppen aus dem Risikogebiet Südtirol nach Sachsen-Anhalt zurückgekehrt. Die Schüler und ihre Betreuer sollen vorerst zwei Wochen in Quarantäne bleiben. In zahlreichen Bundesländern kommt es zu Schulschließungen, allein in Berlin sind derzeit drei Schulen betroffen. Hunderte von Verdachtsfällen befinden sich in Quarantäne, und gegenwärtig ist kein Rückgang der Zunahme an Infektionen abzusehen.

Europaweit ist der Erreger zwischenzeitlich verbreitet. In Nachbarland Frankreich steigen die Fallzahlen ähnlich schnell wie in Deutschland. Mittlerweile hätten sich 1126 Menschen infiziert, teilten die französischen Gesundheitsbehörden am Sonntagabend mit. Die Zahl der Todesopfer wurde mit 19 angegeben. Auch in den Niederlanden gab es den ersten Toten. In Österreich sind mittlerweile über 100 Fälle bekannt und in der Schweiz sind es bereits über 280 (zwei Tote).

Am stärksten in Europa ist Italien betroffen. Innerhalb von nur einem Tag sind in der Lombardei 103 Menschen an einer Corona-Infektion gestorben. Damit liegt die Zahl der Opfer landesweit bei mehr als 330. Zudem stieg die Zahl der Infizierten landesweit von mehr als 5880 am Samstag auf mehr als 7370 am Sonntag. Die italienische Regierung reagierte mit weitgehenden Maßnahmen und erklärte weite Teile Norditaliens mit 16 Millionen Menschen – inklusive der Großstädte Mailand und Venedig – zur Sperrzone.

Es steht zu befürchten, dass sich die Situation in den nächsten Tagen weiter verschärfen wird. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler erklärte, es sei nicht abzusehen, wann in Deutschland der Höhepunkt der aufkommenden Epidemie erreicht werde. Ebenso unklar sei, wie sich das Virus künftig verhalten werde.

Die massive Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland zeigt sowohl die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Gefahren für die Bevölkerung, als auch den prekären Zustand des Gesundheitssystems im Land, das in den letzten Jahren systematisch kaputtgespart wurde.

Als Gesundheitsminister Spahn vor zwei Wochen bemerkte, auch Deutschland stehe vor einer Corona-Epidemie, fügte er lediglich hinzu, man sei darauf vorbereitet. Tatsächliche Maßnahmen unterblieben jedoch.

Auch Spahns jüngste Regierungserklärung zum Thema war an Ignoranz kaum zu überbieten. Während er darin gebetsmühlenartig zur „Besonnenheit“ im Umgang mit dem Virus aufrief, erklärte er lapidar, man wisse zwar wenig über Corona, habe aber „viel Erfahrung im Umgang mit allen möglichen Gefahren“.

Die einzige Maßnahme, die Spahn konkret vorstellte, waren Exportbeschränkungen für Schutzanzüge und Schutzmasken aus Deutschland. Auf einem Treffen der EU-Gesundheitsminister in Brüssel protestierten mehrere Staaten gegen das Vorgehen. Diese Art einseitiger Maßnahmen berge das Risiko, einen „kollektiven Ansatz“ zu untergraben, warnte EU-Katastrophenschutzkommissar Janez Lenarcic.

Trotz andauernder Kampagnen, die zur „Besonnenheit“ mahnen, halten nur noch 69 Prozent der Deutschen die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus für ausreichend. Im Februar waren es noch 80 Prozent. Schon jetzt halten 26 Prozent die Vorkehrungen für zu gering.

Zahlreiche renommierte Experten haben vor den Gefahren der Ausbreitung gewarnt und mögliche Maßnahmen gegen eine Ausbreitung dargelegt. So schlug der Virologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle, Professor Alexander Kekulé, vor, Schulen und Kitas zu schließen und Großveranstaltungen abzusagen. So könne man die Ausbreitung des Virus eindämmen und die Zahl der Erkrankten und auch der Toten „erheblich reduzieren“, so Kekulé. Die Untätigkeit der Bundesregierung kommentierte er mit den Worten: „Denkt BM Spahn, die Deutschen seien gegen Coronavirus immun?“

Tatsächlich scheinen die Regierungen auf Bundes- und Landesebene jedes Risiko in Kauf zu nehmen. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hatte am Mittwoch mitgeteilt, das Gesundheitsamt der Stadt Mönchengladbach sehe keinen Grund für eine Absage des Bundesliga-Spitzenspiels zwischen Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund am Samstag.

Am Ende fand das Spiel vor 50.000 Zuschauern nur wenige Kilometer entfernt von Heinsberg statt, dem Hot-Spot der Verbreitung des Virus in Deutschland. Die Stadt Mönchengladbach begründete ihre völlig unverantwortliche Entscheidung damit, sie rechne „bei diesem Spiel nicht mit einer Situation, wo sich übermäßig Leute infizieren“, wie der Sprecher der Stadt Wolfgang Speen am Freitag erklärte. Man gehe davon aus, dass Infizierte unter Quarantäne seien und sich „kein positiver Fall sich auf den Weg macht in Richtung Stadion“.

Bereits jetzt, wo davon ausgegangen werden kann, dass der Höhepunkt der Ausbreitung noch lange nicht erreicht ist, zeigt sich der marode Zustand des Gesundheitssystems in einem der reichsten Staaten Europas. Bernd Mühlbauer, Professor für Gesundheitsökonomie an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, machte in einem Interview auf den Personalnotstand im Zusammenhang mit der Virusausbreitung aufmerksam.

Gegenüber der Tagesschau bemerkte Mühlbauer, dass schon jetzt „17.000 Pflegekräfte allein in der stationären Krankenhausversorgung“ fehlen. Wenn sich die besonders gefährdeten Berufsgruppen wie Ärzte und Pflegekräfte selbst anstecken, müssen diese in Quarantäne und die Patienten müssen dann in die umliegenden Krankenhäuser verlegt werden. „Für diese Situation müssten wir uns eigentlich schon jetzt wappnen.“, so Mühlbauer.

Tatsächlich führt der extreme Personalnotstand dazu, dass Richtlinien zur Eindämmung der Infektionen nicht eingehalten werden. Wenn ein Klinik-Mitarbeiter Kontakt zu einem Infizierten hatte oder sich selbst infiziert, müsste dieser laut Empfehlung des RKI für 14 Tage unter Quarantäne gestellt werden. Nun erklären immer mehr Kliniken, dieser Empfehlung nicht folgen zu können, da sonst das gesamte Gesundheitssystem kollabieren würde.

„Wenn wir das gesamte medizinische Personal, das mit Infizierten Kontakt hatte, in Quarantäne schicken, bricht die medizinische Versorgung für die Bevölkerung zusammen“, erklärte der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, der Neuen Osnabrücker Zeitung. Drosten kündigte an, dass die Charité die RKI-Empfehlungen nicht mehr eins zu eins umsetzen werde.

An der Uniklinik in Aachen, einer Region mit besonders vielen Fällen, war eine Pflegekraft auf der Frühgeborenen-Station positiv auf das Coronavirus getestet worden. Weil die Frau auf der Intensivstation Kontakt mit 45 Klinik-Mitarbeitern hatte, hätten diese nach RKI-Empfehlungen 14 Tage lang unter Quarantäne gestellt werden müssen. Damit wäre die Arbeit auf der Intensivstation zum Erliegen gekommen, betonte die Klinik und begründete damit ihr Hinwegsetzen über die Empfehlung.

Auch die Ärzte außerhalb der Kliniken, beispielsweise Hausärzte, arbeiten teils unter katastrophalen Bedingungen und werden von Behörden nicht unterstützt. In der Frankfurter Rundschau berichtete Hausärztin Martina Schaffner darüber, dass sie für ihre Praxis und Patienten weder Mundschutz noch Handschuhe oder Desinfektionsmittel bestellen könne. Aus der Not heraus musste sie Atemmasken im Baumarkt kaufen.

„Ich habe jetzt noch einen Farben- und Lackehändler gefunden, der mir zum Wochenanfang 50 Masken liefern kann. Ansonsten gibt es keine. Oder sie sind so teuer, dass es unbezahlbar wird. Die Kassenärztliche Vereinigung hat mir auf Nachfrage mitgeteilt, dass die Krankenkassen sich derzeit weigern, die Kosten dafür zu übernehmen. Die Kosten bleiben demnach an mir hängen“, so die Ärztin.

Nach Schätzungen der WHO werden schon jetzt jeden Monat weltweit 89 Millionen Atemschutzmasken und 76 Millionen Untersuchungshandschuhe benötigt. Bei einem weiterhin exponentiellen Anstieg der Infektionen wird dieser Bedarf noch massiv steigen. Obwohl es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Infektionsausbrüchen gekommen ist, war die Prämisse stets, die Schutzmaterialien so günstig wie möglich und in der geringst möglichen Menge vorzuhalten.

Gleichzeitig gibt es keine Ansprechpartner für niedergelassene Ärzte, die Hilfestellung in den zahlreichen, komplexen Fragen um den Umgang mit dem Erreger geben würden, beklagt Schaffner. So können in kleinen Praxen keine Isolierräume vorgehalten werden. Selbst größere Kliniken kommen mit ihren Kapazitäten hier mittlerweile an die Grenzen. Auch können Hausärzte in vielen Regionen Verdachtsfälle nicht flächendeckend testen, da es an Schutzausrüstung und Abstrich-Röhrchen fehlt.

Auch die ärztlichen Dienste der Behörden sind aufgrund von Personalmangel schon jetzt hoffnungslos überfordert. Martina Hänel, leitende Amtsärztin im Gesundheitsamt Marzahn-Hellersdorf (Berlin), erklärte der Berliner Morgenpost bereits im Februar: „Die Hälfte der 22 Arztstellen ist aktuell nicht besetzt.“ Amtsärzte sind beispielsweise für die Verhängung und Überwachung von Quarantänemaßnahmen zuständig. Für eine derart drastische Zunahme der Fälle sind die Behörden nicht gerüstet.

Die Situation ist die Folge der radikalen Sparpolitik der letzten Jahre und der Unterordnung gesellschaftlicher Bedürfnisse unter das Profitstreben. Der Krankenhaus Rating Report 2019 des RWI bescheinigt der deutschen Kliniklandschaft eine weitere Verschlechterung der Situation. Der Anteil der Krankenhäuser mit einem negativen Jahresergebnis auf Konzernebene hat sich deutlich erhöht: auf 28 Prozent gegenüber 16 Prozent im Vorjahr. Rund zwölf Prozent der Kliniken sind damit einer erhöhten Insolvenzgefahr ausgesetzt.

Schon jetzt werden immer häufiger ganze Einheiten in Kliniken wegen Personalmangel geschlossen. Viele Kliniken können die Notfallversorgung nicht mehr aufrechterhalten. Dies wohlgemerkt unter „normalen“ Bedingungen. Während einer Krise – wie aktuell mit dem hoch ansteckenden Corona-Erreger – potenzieren sich die Anforderungen an die Kliniken. Trotzdem liegen bereits viel weitergehende Kürzungspläne in den Schubladen.

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem letzten Jahr plädiert dafür, mehr als die Hälfte aller Kliniken in Deutschland zu schließen. Von den momentan rund 1400 Krankenhäusern sollen weniger als 600 erhalten bleiben, heißt es in der Untersuchung, die das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung im Auftrag der Stiftung erstellt hat. Mit der grotesken Argumentation, nur durch die Schließung von Kliniken könnten mehr Personal, bessere Ausstattung und höhere Qualität erreicht werden, fordert der Bericht auch eine weitere Reduzierung der Krankenhausaufenthalte und eine noch stärkere Ausrichtung an der Erwirtschaftung von Profit.

In der sich ausweitenden Pandemie erweisen sich die kapitalistischen Eliten in Deutschland Europa und weltweit als unwillig und unfähig, wirksame Maßnahmen gegen die Verbreitung des tödlichen Virus einzuleiten. Jahrzehntelange Spardiktate haben die Gesundheitssysteme ruiniert. Es bedarf jetzt massiver Investitionen, um eine flächendeckende Vorsorge und Behandlung auf internationaler Ebene gegen den Virus sicher zu stellen. Dies macht eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig.

Siehe auch:

Was im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie getan werden muss

[7. März 2020]

Die katastrophale Reaktion des Kapitalismus auf die Coronavirus-Pandemie

[5. März 2020]

Die Coronavirus-Pandemie und die Notwendigkeit einer global vergesellschafteten Medizin

[28. Februar 2020]

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