Untätigkeit der Regierungen gefährdet Millionen von europäischen Pflegekräften

Am Dienstag stieg die Zahl der COVID-19-Todesfälle in Europa um weitere 3.226 auf 30.226. Die Zahl der Erkrankten stieg um 34.922 auf 450.949.

Frankreich verzeichnete mit 499 Toten den bisher größten Anstieg an einem Tag. Die Gesamtzahl der Toten stieg auf 3.523, womit das Land nach China, Italien und Spanien ebenfalls die 3.000er-Marke überschritten hat. Laut dem Direktor der staatlichen Gesundheitsbehörden, Jerome Salomon, befinden sich weitere 5.107 Menschen in kritischem Zustand und sind auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen.

In Italien stieg die Zahl der Toten erneut um 837 auf 12.428, in Spanien um 748 auf 7.967. Großbritannien meldete 381 neue Todesfälle, damit stieg die Gesamtzahl auf 1.789. In Deutschland stieg sie um 129 auf 774 Tote.

Unter den Todesopfern befinden sich auch viele junge Menschen und solche ohne Vorerkrankungen. Letzte Woche wurde eine 16-jährige aus Paris ohne sonstige gesundheitliche Probleme das jüngste Opfer Europas. Von den 260 Menschen, die in Großbritannien am letzten Samstag starben, hatten 13 keine anderen Erkrankungen.

Vor allem das Pflegepersonal, das an vorderster Front gegen die Pandemie kämpft, wird durch die Krise sehr großen Belastungen ausgesetzt. Diese unzumutbare Situation bedroht die Gesundheit und das Leben des medizinischen Personals und ihrer Familien sowie den Fortbestand des ohnehin schon überlasteten Gesundheitssystems.

In Italien waren am Montag 8.358 Pflegekräfte infiziert, 61 von ihnen sind bereits gestorben. Ärzte ohne Grenzen hat ein Team nach Codogno im Norden des Landes geschickt, das sich um die Beschäftigten und Hilfskräfte der Krankenhäuser kümmern soll.

Laut dem Chef der spanischen Notfall-Koordinationsstelle, Fernando Simón, waren bis Freitag 9.444 Pflegekräfte infiziert, eine knappe Woche zuvor waren es nur 3.475. Diese Zahl entspricht zwölf Prozent der aktuell bekannten Fälle. Allerdings sind die tatsächlichen Zahlen vermutlich noch deutlich höher. Mindestens drei medizinische Mitarbeiter sind bisher gestorben.

In Großbritannien ist laut dem Royal College of Physicians (RCP) ein Viertel aller Ärzte des National Health Service (NHS) krank oder befindet sich in häuslicher Quarantäne mit kranken Familienmitgliedern. Insgesamt muss laut dem Royal College of Nursing (RCN) ein Fünftel aller Pflegekräfte im direkten Patientenkontakt frei nehmen, um sich selbst zu isolieren. Am Wochenende wurden die ersten zwei Todesfälle unter dem medizinischen Fachpersonal gemeldet. Die Gewerkschaft GMB geht davon aus, dass sich 4.100 oder etwa 17 Prozent der Sanitäter in häusliche Quarantäne begeben haben.

Die renommierte britische medizinische Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte vor kurzem eine Studie, laut der in der chinesischen Provinz Hubei, dem ersten Epizentrum der Pandemie, 70 Prozent der medizinischen Arbeitskräfte im direkten Patientenkontakt unter extremem Stress standen. 50 Prozent von ihnen litten an depressiven Störungen, 44 Prozent an Angstzuständen und 34 Prozent an Schlaflosigkeit. In mehreren Berichten aus Norditalien war von Selbstmorden unter Pflegekräften die Rede.

Zudem kursieren zahlreiche Berichte über die unzureichende Versorgung und qualitative Minderwertigkeit persönlicher Schutzausrüstung. Die Verantwortlichen für die Tragödien, die sich in den Krankenhäusern in ganz Europa abspielen, sind eindeutig die herrschenden Eliten. Sie haben es versäumt, für einen ausreichenden Schutz des medizinischen Personals zu sorgen.

In Frankreich behelfen sich die Ärzte mit überschüssigen Masken von Baustellen und Fabriken. Der Biologe Francois Blanchecott erkläre gegenüber dem Radiosender France Inter: „Wir fragen bei Bürgermeisterämtern, Industrien und allen Betrieben nach, in denen es einen Vorrat an Masken geben könnte.“

Der 61-jährige Arzt Alain Colombie veröffentlichte ein Nacktfoto von sich, auf dem er nur eine Armbinde mit dem Wort „Kanonenfutter“ trug, um auf den Mangel an Schutzausrüstung hinzuweisen. Zu dem Bild schrieb er: „Präsident Macron, Sie fordern Ihre Soldaten auf, ohne Waffen oder Schutz (Masken, Gel, Westen), und natürlich ohne nachzudenken, an die Front zu gehen.“

Colombie erklärte, er wollte „die ganze Familie der Pflegekräfte verteidigen“ und fügte hinzu: „Ich verurteile den kriminellen Mangel an Vorbereitung, obwohl ich bereits seit Ende Januar über COVID-19 berichtet habe.“

In Berlin warnten Ärzte vor einer möglichen Schließung von kleineren Krankenhäusern aufgrund fehlender Masken, Brillen und Schutzanzügen.

Der medizinische Direktor des Clinico San Carlos in Madrid, Professor Julio Mayol, erklärte: „Es ist eine schlimme Lage, sie ist wirklich schlimm und wird täglich schlimmer, weil die Zahl der positiv getesteten Patienten immer weiter ansteigt.

Wir können zusätzliche Betten liefern, aber wir brauchen persönliche Schutzausrüstung, und es gibt weltweit Engpässe. Deshalb ist es für uns sehr schwer, Pflegekräfte ohne passende Schutzausrüstung an die Front zu schicken. ... Die Zahl der infizierten Pflegekräfte steigt. Wenn wir nichts unternehmen, könnten es in absehbarer Zukunft 25 Prozent sein.“

Dr. Natalia Silva aus dem Krankenhaus San Juan de Deu bei Barcelona erklärte gegenüber Al-Dschasira: „Wir müssen Masken tragen, die man eigentlich nach einmaligem Gebrauch wegwerfen sollte. Stattdessen müssen wir sie tagelang tragen. Wir tragen Schutzbrillen in der falschen Größe, die wir uns mit mehreren Ärzten teilen müssen.“

Um die schnell wachsende Lücke zu schließen, musste die spanische Regierung 50.000 zusätzliche medizinische Kräfte einstellen, darunter frisch gebackene Absolventen und pensionierte Ärzte sowie Pflegekräfte.

Am Samstag schrieb der Chefredakteur der The Lancet, Richard Horton, einen Artikel, in dem er die Reaktion der britischen Regierung auf die Krise scharf verurteilte:

„Der NHS war auf diese Pandemie völlig unvorbereitet. ... Im Februar hätte die Kapazität für Coronavirus-Tests ausgeweitet, von der WHO zugelassene Schutzausrüstung verteilt und Ausbildungsprogramme und Richtlinien zum Schutz des NHS-Personals eingeführt werden müssen. Sie haben nichts davon getan. Das Ergebnis waren Chaos und Panik im ganzen NHS. Es wird vermeidbare Todesfälle unter Patienten und NHS-Personal geben. Es ist wirklich ein ,nationaler Skandal‘, wie ein Beschäftigter aus dem Gesundheitswesen letzte Woche schrieb. Wie schwerwiegend dieser Skandal ist, ist immer noch nicht verstanden worden.“

Horton druckte eine Auswahl von erschütternden Briefen ab, die ihm von Pflegekräften aus ganz Großbritannien geschickt worden waren:

„Für das Personal ist es momentan bedrohlich. Immer noch keine Schutzausrüstung oder Tests.“

„Wir haben das Gefühl, wir würden den Patienten bewusst schaden.“

„In vielen Krisengebieten, in denen ich als Landesdirektor war, gab es eine bessere Vorbereitung.“

„Die Krankenhäuser in London sind überlastet.“

„Die Öffentlichkeit und die Medien wissen nicht, dass wir heute [in London] in einer Stadt ohne funktionierendes Gesundheitssystem nach westlichem Standard leben.“

„Wie sollen wir unsere Patienten und unser Personal schützen? ... Ich bin sprachlos. Es ist völlig gewissenlos. Wie können wir das tun? Es ist kriminell... Der englische NHS war nicht vorbereitet... Wir fühlen uns völlig hilflos.“

Obwohl die konservative Johnson-Regierung Massentests für Beschäftigte im Gesundheitswesen versprochen hat, wurden am Wochenende nur 900 NHS-Beschäftigte auf COVID-19 getestet.

Die Regierung hat vor zwei Wochen eine Umfrage unter Textilherstellern durchgeführt, welche Schutzausrüstung sie herstellen könnten. Allerdings hat sie sich nicht mehr bei den Herstellern gemeldet, die auf diese Anfragen reagiert haben. Jetzt werden die gleichen Unternehmen von lokalen Krankenhäusern angefleht, ihnen alles zu liefern, „was sie nur herstellen können“.

Am Montag geriet eine Bestandsaufnahme des nordirischen Gesundheitsdienstes an die Öffentlichkeit. Laut diesem Dokument waren 32 der 33 Schutzausrüstungs-Produkte, die für die Behandlung von COVID-19 benötigt werden, nicht mehr lieferbar. Einige Lieferanten warnen, dass Schutzausrüstung erst wieder im Sommer verfügbar sein wird.

Viele Beschäftigte müssen bereits selbst Schutzausrüstung kaufen oder provisorisch herstellen. Auf Twitter verbreitet sich der Hashtag #GetMePPE, und Ärzte und Pflegekräfte bitten über die Crowdsourcing-Website „GetUsPPE.org“ um Spenden. Am Wochenende veröffentlichte Public Health England Richtlinien für den Einsatz von Schutzausrüstung, mit denen der Standard deutlich unter die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesenkt wird.

Nahezu täglich kommen neue Informationen ans Licht, die belegen, dass Warnungen ignoriert und Vorbereitungen unterlassen wurden. Im Jahr 2017 ignorierte das britische Gesundheitsministerium die Empfehlung eines unabhängigen Beraterkomitees, „für alle Beschäftigten in Krankenhäusern, Kommunen, alle Sanitäter und alle Sozialfürsorger, die während einer Grippepandemie in engen Kontakt mit Patienten kommen, Augenschutz zur Verfügung zu stellen“. Das Komitee wurde laut dem Protokoll des Treffens angewiesen, ihre Empfehlung wegen der „sehr hohen und wachsenden Kosten für zusätzlichen Augenschutz“ zu überdenken und letztlich zurückzunehmen.

Laut dem Guardian wurde ein Bericht über die biologische Sicherheitsstrategie Großbritanniens, die im Juli 2019 durchgeführt werden und sich auf die Vorbereitung von Infektionskrankheiten konzentrieren sollte, zuerst verschoben und danach abgesagt. Professor Sir Ian Boyd, ein ehemaliger Berater der Regierung, der an der Ausarbeitung der Strategie beteiligt war, erklärte: „Es war schon schwer, auch nur genug Mittel für die Ausarbeitung einer ordentlichen Biosicherheitsstrategie zu bekommen. Die Mittel für eine angemessene Umsetzung der Ergebnisse zu bekommen war unmöglich.“

Die Arbeiterklasse ist bereits dabei, Widerstand gegen diese Politik der kriminellen Nachlässigkeit zu leisten. Nachdem in den USA und Europa Arbeiter Streiks und Proteste für sichere Arbeitsbedingungen begonnen haben, legten am Samstag die Beschäftigten eines Lagerhauses der britischen Modekette ASOS in Barnsley (South Yorkshire) die Arbeit nieder, um gegen unsichere Bedingungen zu protestieren.

Nun gilt es eine internationale Massenkampagne für die Schließung aller nicht-lebensnotwendigen Betriebe und Lagerhäuser zu organisieren. Sie muss fordern, dass Arbeiter in unentbehrlichen Betrieben sowie im Gesundheits- und Pflegebereich von der Regierung und den Arbeitgebern umfassende Schutzausrüstungen erhalten. Die Maßnahmen müssen aus den horrenden Vermögen der Superreichen bezahlt werden.

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