Hessen: Politiker und Unternehmer setzen Arbeiter Infektionsgefahr aus

Die Auswirkungen der Coronakrise entlarven die Propaganda von der gemeinsamen Krisenbewältigung („Wir sitzen alle im selben Boot“) immer offener als Lüge. Hunderttausende Arbeiter machen die Erfahrung, dass die privilegierten Oberschichten sich selbst und ihre Familien in Sicherheit bringen, während sie die von ihnen abhängigen Beschäftigten unter unsicheren Bedingungen zur Weiterarbeit zwingen.

In der WSWS-Redaktion treffen Berichte und Hinweise aus den verschiedensten Arbeitsbereichen ein, die sich in diesem Punkt alle gleichen: Superreiche Unternehmer, hochdotierte Politiker und wohlsituierte Gewerkschaftsfunktionäre erpressen die Arbeiter mit der Alternative, entweder eine Ansteckung mit Covid-19 zu riskieren, oder ihre finanzielle Lebensgrundlage zu verlieren.

Ein Beispiel aus Hessen ist die Müllabfuhr von Frankfurt am Main. „Als Müllwerker kannst du kein Home-Office machen“, so der Kommentar eines gestressten Müllmanns im Frankfurter Westen. Wie er sagte, stellen er und seine Kollegen zurzeit fest, dass „die Tonnen jetzt, wo so viele Menschen daheim bleiben, so voll sind wie nie“. Dabei sind die Müllwerker in keiner Weise vor einer Ansteckung geschützt.

Wie die Hessenschau am 6. April berichtete, hat die Frankfurter Entsorgungs- und Service GmbH (FES) die Entscheidung getroffen, den Arbeitern keinen Gesichtsschutz zur Verfügung zu stellen, mit der Begründung, man wolle nicht dem medizinischen Personal „dieses knappe Gut wegnehmen“. Zweitens sei es mit den schweren Arbeitshandschuhen gar nicht möglich, während der Arbeit eine Gesichtsmaske zu richten, rechtfertigt die FES die Entscheidung auf ihrer Homepage. Und „drittens stellt das Tragen von Mundschutz bei schwerer körperlicher Arbeit den ganzen Tag über per se eine zusätzliche Belastung dar und erhöht damit das Gesundheitsrisiko“.

Die FES hat auch die Duschräume abgeschlossen. Seither sind die Müllmänner gezwungen, in der verdreckten Kluft in ihre Privat-PKWs zu steigen. Sie müssen ungewaschen nachhause fahren, um erst dort zu duschen, was ihre Familien einer zusätzlichen Gefahr aussetzt. Auch die Kantine wurde geschlossen, und für die Verpflegung gibt es im Wesentlichen nur noch Snacks- und Getränkeautomaten.

Das Unternehmen FES ist seit 1998 teilprivatisiert und gehört seither je zur Hälfte der Stadt Frankfurt und dem Remondis-Konzern, dem größten deutschen Recycling-Wasserwirtschafts- und Service-Unternehmen. FES-Aufsichtsratsvorsitzende ist die Frankfurter Umweltdezernentin Rosemarie Heilig (Die Grünen). Wie üblich gehören mehrere Verdi-Gewerkschafter dem Aufsichtsrat an, und FES-Betriebsratschef Oliver Dziuba ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.

Auf den Bericht in der Hessenschau reagierte die Stadtdezernentin Heilig am Dienstag mit einer offiziellen Erklärung auf der Website der FES. Darin heißt es: „Wir müssen auch in diesen schwierigen Zeiten die Müllentsorgung sicherstellen.“ Für die Mitarbeiter der FES bedeute dies, „dass ihr schon normalerweise schwieriger Job jetzt unter erheblich schwierigeren Bedingungen ausgeübt wird“. Heilig versicherte am 7. April (!), dass ab sofort die Fahrzeuge der Entsorgung alle drei Tage desinfiziert werden würden. „Um Ängsten entgegenzutreten“, heißt es weiter in der Mitteilung, würden den Müllwerkern „sogenannte Loop-Schals“– also weiterhin keine Masken, sondern schweißtreibende Halsbinden – zur Verfügung gestellt.

Viele Baumärkte und Werkstoffhöfe sind nach wie vor für das Publikum geöffnet und haben Hochbetrieb. Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Behörden die Pandemie-Maßnahmen der WHO und der Wissenschaftler wenig ernst nehmen. Zahlreiche gut betuchte Unternehmer treiben mit den Corona-Vorschriften Schindluder, damit ihre Profite nicht leiden. Sie begrüßen die verantwortungslosen Rufe und Aufforderungen von Politikern, den Lockdown nach Ostern zu beenden.

Wie kriminell gefährlich das ist, haben ernsthafte Virologen immer und immer wieder dargelegt. Zuhause zu bleiben ist das einzige Mittel, die Infektionskette zu unterbrechen, wenn es ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr möglich ist, einen Fall komplett zurückzuverfolgen und alle Kontakte zu isolieren. Das hat am Freitag der Charité-Virologe Christian Drosten erneut betont, als er sagte, der Lockdown sei die einzige Möglichkeit, um „so eine Epidemie dennoch zu stoppen… Dann muss man auch keine Fälle mehr verfolgen, dann sind alle zu Hause.“

Es liegt auf der Hand, dass die Missachtung dieser Regel die Auswirkungen der Pandemie unnötig verschärft. Allein in Hessen nähert sich die Zahl der Infektionen jetzt 6000, und 123 Menschen sind in Hessen schon an Covid-19 gestorben. Gleichwohl werden immer neue Fälle bekannt, bei denen Unternehmer schnell und gerne bereit sind, die Krise als Chance zu betrachten und ihre Arbeiter sinnlos der Gefahr auszusetzen.

Ein angehender Fachinformatiker berichtete der WSWS von seinem Betrieb, einem Maschinenbauunternehmen für die Herstellung von Koordinatenmessgeräten. In Absprache mit dem Betriebsrat hat der Vorstand Kurzarbeit für zwölf Monate angekündigt. Gleichzeitig werden Azubis als „systemrelevant“ eingestuft und weiter im Betrieb beschäftigt. Sie sollen die Produktion am Laufen halten, obwohl die Herstellung von Koordinatenmessgeräten kaum als lebenswichtig gelten kann. Gleichzeitig werden ausgebildete Fachkräfte, die natürlich für das Unternehmen deutlich teurer wären, in Absprache mit dem Betriebsrat in Kurzarbeit geschickt, wobei das Unternehmen nicht einmal das Kurzarbeitergeld aufstockt.

Die kaufmännische Leitung schickte mehreren Auszubildenden einen Brief für den Fall einer Ausgangssperre des Inhalts, dass sie „systemrelevant“ und am Arbeitsort unabkömmlich seien. Darüber hinaus wurde mindestens ein Azubi aufgefordert, er solle seinen Urlaub für Juli und August zurückziehen. „Das haben bestimmt viele erhalten“, heißt es im Bericht, der die WSWS erreichte. Und weiter: „Im Brief steht auch, dass für Juli und August möglichst keine Urlaube genehmigt werden sollen, und dass auch die Betriebsferien entfallen.“ Die Stimmung im Betrieb sei entsprechend.

So bedienen sich Unternehmer gerade der am schlechtesten bezahlten, oft prekär beschäftigten Arbeiter, Jugendlichen und Angestellten, um Kosten zu sparen und die offiziellen Corona-Anweisungen zu umgehen.

Der Musikequipment-Handel Session mit Filialen in Walldorf und Frankfurt am Main gilt als größtes Musikhaus im Rhein-Main-Gebiet. Sein Besitzer und Geschäftsführer, der SAP-Erbe Udo Tschira, gehört (laut Rankings von Manager-Magazin, Bilanz und Forbes) zu den 25 reichsten Familien Deutschlands. Zusammen mit seinem Bruder verfügt er über ein Privatvermögen von 11,7 Mrd. US-Dollar. Auch Tschira hat zusammen mit seinem Betriebsratsvorsitzenden Jochen Rautenstrauch in einer „gemeinsamen Mail“ Kurzarbeit angekündigt.

Der Multimilliardär besteht jedoch darauf, dass viele Mitarbeiter trotz der Ansteckungsgefahr weiter zur Arbeit erscheinen, und der Betriebsrat segnet das ab.

Ein Session-Beschäftigter schreibt der WSWS: „Dass Session das geplante Kurzarbeitergeld von 60 auf 80 % aufstocken will, ist kein Trost. Die Bezahlung bei Session ist derart mies, dass es selbst ohne Lohneinbußen schon schwierig ist, in der Bankenmetropole Frankfurt zu überleben.“ Mit dem Kurzarbeitergeld werde er „wahrscheinlich die Miete meiner kleinen Wohnung nicht mehr bezahlen können ... Der Großteil der Arbeiter hat zuletzt eine Lohnerhöhung vor 7 bis 10 Jahren erhalten, und die Bezahlung der einzelnen Mitarbeiter ist sehr willkürlich.“

Er fährt fort: „Die Betriebsräte sagen, man könne dagegen nichts unternehmen, weil zu wenige Mitarbeiter in der Gewerkschaft wären. Damit machen die Betriebsräte die einfachen Arbeiter für ihre eigene Untätigkeit und Kumpanei mit der Geschäftsleitung verantwortlich. Aber die Gewerkschaften sind unter der Belegschaft zu Recht völlig diskreditiert. Sie sind die erste Instanz, die betriebsbedingten Kündigungen widerstandslos zustimmen würde. Das ist die aktuelle Lage in einem Betrieb mit einem der reichsten Männer Deutschlands an der Spitze.“

Die Häufung dieser Fälle und die große Unzufriedenheit, die unter den betroffenen Arbeitern vorherrscht, machen deutlich, dass es jetzt notwendig ist, mit einer kollektiven Antwort der Arbeiterklasse darauf zu reagieren. Die WSWS ruft Arbeiter dazu auf, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen, mit Kollegen darüber zu diskutieren und unabhängige Aktionskomitees zu gründen. Nur so können sie zu ihrem eigenen Schutz in der Corona-Pandemie entscheidende Forderungen durchsetzen.

Zu diesen Forderungen gehört es, dass alle nicht-lebenswichtigen Tätigkeiten sofort eingestellt werden müssen. Für alle Arbeiter, ganz gleich, ob sie von Krankheit, Kurzarbeit oder Schließung betroffen sind, muss ein voller Lohnausgleich bezahlt werden! All diese Entscheidungen müssen unter der Kontrolle der unabhängigen Aktionskomitees der Arbeiter stehen.

Schreibt uns über eure Erfahrungen mit der Reaktion der Unternehmer auf die Corona-Pandemie. Schreibt auch, wenn Ihr den Aufbau von solchen, gewerkschaftsunabhängigen Arbeiterkomitees unterstützen möchtet, und registriert Euch als aktive Unterstützer der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), der deutschen Sektion der Vierten Internationale.

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