EU forciert Rückkehr zur Arbeit trotz Corona-Pandemie

Sechs Wochen nachdem mitten in der Corona-Pandemie in ganz Südeuropa die Ausgangsbeschränkungen eingeführt wurden, verschärfen die Europäische Union (EU) und die Regierungen der europäischen Staaten den Druck auf die Arbeiter, trotz der Pandemie wieder an die Arbeit zurückzukehren. Am Sonntag wurden in ganz Europa 23.680 neue Covid-10-Fälle bestätigt, die Gesamtzahlen liegen europaweit bei 1,27 Millionen Infizierten und 121.800 Toten. Die Entscheidung, die Eindämmungsmaßnahmen aufzuheben, wird die Ausbreitung der Pandemie deutlich beschleunigen. Sie ist politisch kriminell und wird viele Tausende von Menschenleben kosten.

Das Beispiel der chinesischen Provinz Hubei, dem ursprünglichen Epizentrum der Pandemie, wird dabei ignoriert. Dort konnte die Ausbreitung durch deutlich längere Eindämmungsmaßnahmen, die vom 23. Januar bis zum 8. April dauerten, aufgehalten werden. Mittlerweile gibt es nur noch ein paar Dutzend Fälle in China, die meisten davon sind importiert. In Europa hingegen gab es allein am Wochenende 6.865 neue Fälle in Spanien, 4.681 in Italien, 2.272 in Frankreich, 2.178 in Deutschland und 9.376 in Großbritannien. Trotzdem drängen die Regierungen auf eine Rückkehr an die Arbeit und setzen sich dabei über die Meinungen von Wissenschaftlern und der arbeitenden Bevölkerung hinweg.

Zuvor hatte die EU am Donnerstag bei einem Gipfeltreffen ein Rettungspaket im Wert von einer Billion Euro angekündigt und sich dazu verpflichtet, die „Zurück an die Arbeit“-Politik auf dem ganzen Kontinent durchzusetzen. Der Präsident des Europäischen Rats und ehemalige belgische Ministerpräsident, Charles Michel, erklärte nach dem Gipfel: „Wir haben über den Fortschritt in den verschiedenen Bereichen der europäischen Reaktion auf die Pandemie diskutiert und uns auf den gemeinsamen Fahrplan zur Aufhebung der Eindämmungsmaßnahmen verständigt.“

Der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, bei einer Pressekonferenz über die Reaktion der Europäischen Union auf die Corona-Krise am 15. April 2020 im EU-Hauptquartier in Brüssel. (John Thys, Pool Photo via AP)

An diesem Dienstag wird der spanische Ministerrat vermutlich den Plan von Ministerpräsident Pedro Sánchez genehmigen, die Eindämmungsmaßnahmen zu beenden. Der französische Premierminister Édouard Philippe wird ebenfalls die Pläne seiner Regierung für ein Ende der Ausgangssperre in Frankreich ankündigen.

Auch der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte hat für „spätestens“ diese Woche die Veröffentlichung von Plänen zur Wiedereröffnung nicht-systemrelevanter Unternehmen am 4. Mai angekündigt.

Diese Regierungen haben es weitgehend vermieden, konkrete Details über die geplante Politik nach dem Ende der Eindämmungsmaßnahmen bekanntzugeben. Da es noch keinen Impfstoff und keine Heilmethode für das Virus gibt, ist jedoch bereits jetzt klar, dass diese Politik zu einer deutlichen Erhöhung der Infektionen und Todesfälle durch Covid-19 führen wird.

In Spanien, wo 59 Prozent der Bevölkerung eine Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen unterstützen und nicht ihre Aufhebung, hat das Koordinationszentrum für Gesundheitswarnungen und Notfälle (CCAES) Intensivstationen aufgerufen, die Zahl der verfügbaren Betten nach dem Ende der Eindämmungsmaßnahmen zu verdoppeln. Das CCAES machte deutlich, dass die spanische Regierung nicht das Ziel verfolgt, die Krankheit auszurotten. Stattdessen versucht sie, die Zahl der Fälle „auf einem Niveau zu halten, das das Gesundheitssystem verkraften kann, ohne dass [wie in der ersten Welle der Epidemie] eine Überlastung droht.“

Das CCAES wies außerdem darauf hin, dass die Strategie der „Herdenimmunität“, die von einigen europäischen Regierungen vorgeschlagen wird, inakzeptabel ist, weil damit das Gesundheitssystem überfordert und die Zahl der Todesfälle massiv steigen würde. „Es ist nicht vernünftig, die Strategie zur Kontrolle der Pandemie darauf zu gründen, dass ein ausreichend großer Prozentsatz der Bevölkerung eine vollständige oder teilweise Immunität entwickelt. Die Zahl der Erkrankten und Toten würde auf ein inakzeptabel hohes Niveau ansteigen.“

In Frankreich kam eine epidemiologische Studie des Universitätsklinikums von Rouen (CHU) zu dem Schluss, dass die Zahl der Toten in den Krankenhäusern durch die Ausgangsbeschränkungen bis zum 19. April um mindestens 61.739 (83,5 Prozent) reduziert wurde. Es kam außerdem zu der Einschätzung, dass ohne die Ausgangssperren mittlerweile 23 Prozent der Bevölkerung die Krankheit hätten. Damit haben die Ausgangsbeschränkungen laut dem CHU „etwa 590.000 Einweisungen in Krankenhäuser und 140.000 Aufnahmen in Intensivstationen verhindert“. Bei nur 10.500 Intensivpflegebetten in Frankreich wäre das Gesundheitssystem damit völlig überlastet gewesen. Zudem hat sich die Zahl der Betten nur dank der Notstandsmaßnahmen des Krankenhauspersonals seit Beginn der Pandemie verdoppelt.

Dies entspricht in etwa den Prognosen des Londoner Imperial College, die Politik der „Herdenimmunität“ würde alleine in Großbritannien mindestens 250.000 Todesopfer fordern. Auf die Bevölkerung des ganzen europäischen Kontinents übertragen, würde das Millionen Todesopfer bedeuten.

Dies verdeutlicht die immensen Gefahren, die bei einem vorschnellen Ende der Ausgangsbeschränkungen drohen, und die politische Kriminalität der Forderungen des britischen Premierministers Boris Johnson und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit Covid-19 durch „Herdenimmunität“ fertig zu werden. Dennoch forciert der französische Präsident Emmanuel Macron genau diesen Kurs.

Mehrere staatliche wissenschaftliche Einrichtungen warnten vor den Maßnahmen, die Macron vorschlägt, u.a. eine Rückkehr an die Arbeit und die Wiedereröffnung der Schulen am 11. Mai. Der wissenschaftliche Rat der Regierung unter Führung von Dr. Jean-François Delfraissy forderte in einer Stellungnahme, die Schulen noch bis zum September geschlossen zu halten und die Eindämmungsmaßnahmen beizubehalten, bis die Intensivstationen wieder eine normale Auslastung aufweisen. Die Direction Générale de la Santé erklärte, die Zahl der Patienten an Beatmungsgeräten sei am Sonntag trotz der insgesamt rückläufigen Zahl an Infektionen um 28 angestiegen.

Innerhalb der Macron-Regierung treten erbitterte Zerwürfnisse zutage, da die Minister bei der Aussicht auf einen Ausbruch des Volkszorns im Falle einer zweiten Welle von Covid-19-Fällen in Panik geraten. Ein Minister klagte anonym gegenüber L'Obs über Berichte, laut denen die Strategie der Herdenimmunität (d.h. die Bevölkerung wird immun, wenn viele das Virus hatten) unbrauchbar sei: „Wir scheinen gerade zu entdecken, dass man sich mehrfach mit dem Coronavirus anstecken kann, aber unsere ganze Strategie basierte darauf, dass man Immunität entwickelt. Unsere Lage ist derart, dass wir in den Abgrund stürzen.“

Die europäische Bourgeoisie forciert eine kriminelle Politik der Rückkehr an die Arbeit. Während Konzernmanager und reiche Investoren leicht zu Hause bleiben können, stehen die herrschenden Kreise der EU dem potenziellen Tod von Millionen Arbeitern, die wieder an die Arbeit zurückkehren und ihre Profite steigern, mit der Gleichgültigkeit eines ägyptischen Pharaos gegenüber, der zusieht, wie die Sklaven beim Bau der Pyramiden sterben.

Beispielhaft für diese toxische Verachtung der herrschenden Klasse gegenüber Menschenleben war die Äußerung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, einem der wichtigsten Architekten der Wiedereinführung des Kapitalismus in Ostdeutschland 1989 und des Austeritätskurses der EU nach dem Crash von 2008. In einem Interview mit dem Tagesspiegel griff er die Forderungen an, angesichts der Pandemie Menschenleben zu schützen: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig [...] Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Schäubles erschreckender Eifer, Todesopfer in Kauf zu nehmen, ist jedoch nicht einfach ein persönlicher Charakterzug. Sie ist ein besonders brutaler Ausdruck der Profitinteressen der ganzen herrschenden Klasse Europas.

Die europäische Finanzaristokratie ist sich durchaus bewusst, dass sich schon vor Beginn der Corona-Pandemie eine Finanzkrise abzeichnete. Sie reagierte auf die Pandemie, indem sie sich selbst mit massiven Rettungspaketen aus Steuergeldern überschüttete. Die Europäische Zentralbank (EZB) kündigte an, sie werde für 750 Milliarden Euro verschiedene Formen von Schulden aufkaufen, um die Investoren der Großbanken zu bezahlen. Die größeren EU-Regierungen kündigten jeweils Geldspritzen an die Konzerne in Höhe von hunderten Milliarden Euro an, die EU selbst ein Rettungspaket im Wert von 540 Milliarden Euro, die mehrheitlich an Großkonzerne gehen. Letzten Donnerstag kündigte sie bei ihrem Gipfeltreffen eine erneute Geldspritze in Höhe von einer Billion Euro an.

Noch während riesige Summen für die Rettung von Unternehmen wie Air France-KLM (zehn Milliarden Euro) oder des Autobauers Renault (fünf Milliarden Euro, geplant) ausgegeben werden, fordert die Finanzwelt die Rückkehr an die Arbeit, um Profite aus den massiven Mengen von fiktivem Kapital zu erarbeiten, das ins Finanzsystem gepumpt wird. VW in Deutschland, Toyota in Frankreich und andere Unternehmen in nicht-systemrelevanten Branchen nehmen bereits wieder die Arbeit auf und werden dabei von den Gewerkschaften unterstützt.

Natürlich präsentieren die kapitalistischen Politiker die verschiedensten scheinbar verständlichen Argumente für ein Ende der Ausgangsbeschränkungen. Sie betonen, sie seien zu zerstörerisch und verursachen zu hohe Kosten für Kleinunternehmen und Lohnabhängige. Das hat Conte in einem Interview mit La Repubblica aufgegriffen, in dem er erklärte: „Wir können mit diesen Ausgangsbeschränkungen nicht weitermachen. Wir riskieren zu große Schäden an der sozioökonomischen Struktur des Landes.“

Tatsächlich ist der Hauptgrund, warum die Ausgangsbeschränkungen zu Notlagen führen, dass die EU-Staaten unzählige Arbeiter und Kleinunternehmer nahezu ohne Einkommen gelassen haben. In Arbeitervierteln von Paris, Madrid und anderen europäischen Städten sind lange Schlangen an den wenigen Lebensmitteltafeln entstanden.

Die Arbeiter müssen diese falsche Wahl zwischen Arbeiten und Sterben in der Pandemie und Verhungern durch die Eindämmungsmaßnahmen ebenso zurückweisen wie die Behauptung, massenhaft Tote seien unvermeidlich. Die moderne Wissenschaft und Technologie macht es möglich, die Masse der Arbeiter in häuslicher Quarantäne zu halten und sie zu Hause mit der notwendigen Nahrung und Medizin zu versorgen, während die Wissenschaftler an Impfstoffen und Behandlungsmethoden für Covid-19 arbeiten. Dies würde jedoch die Enteignung der riesigen Summen erfordern, die die Finanzaristokratie aus den öffentlichen Haushalten geplündert hat. Genauso erforderlich ist ein politischer Kampf für den Sturz der reaktionären Regierungen in ganz Europa und für die Machtübernahme der Arbeiterklasse.

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