Versuche am Menschen zur Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus werden vorangetrieben

Berichte über Möglichkeiten, die Impfstoffentwicklung gegen Covid-19 durch Versuche am Menschen zu beschleunigen, erregen derzeit wenig Aufsehen. Kurz gesagt würden bei solchen Versuchen gesunde Freiwillige nach Erhalt des experimentellen Impfstoffs absichtlich mit dem Coronavirus infiziert, um die Wirksamkeit des Impfstoffes zu bestimmen.

Der Abgeordnete Bill Foster von der Demokratischen Partei vertritt eine diesbezügliche parlamentarische Initiative von 35 Mitgliedern des US-Repräsentantenhauses. In einem Schreiben der Gruppe an die amerikanische Zulassungsbehörde für Impfstoffe heißt es: „In Bezug auf den Impfstoff gegen Covid-19 ist wahrscheinlich ein risikotoleranterer Entwicklungsprozess angebracht. Die enormen menschlichen Kosten der Covid-19-Epidemie verändern die Optimierung der Kosten-Nutzen-Analyse.“

Josh Morrison, Sprecher der angeblichen Grassroots-Initiative 1 Day Sooner, sagte der Zeitschrift Nature: „Wir wollen so viele Menschen wie möglich rekrutieren, die dies machen wollen, und unter Ihnen einen Vorauswahl treffen, so dass sie an einer Testreihe teilnehmen können, falls diese stattfindet. Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit klinischen Versuchen am Menschen informierter getroffen werden, wenn man auch die Stimmen derjenigen hört, die an solchen Tests teilnehmen.“ Nach Angaben der Gruppe haben sich Tausende aus über 50 Ländern freiwillig gemeldet.

Impfstoffentwicklungen sind bekanntermaßen langwierig, wobei optimistische Schätzungen von 12 bis 18 Monaten bis zur Masseneinführung der Impfung ausgehen. Ein Großteil der Zeit in der Impfstoffentwicklung wird darauf verwendet, die Sicherheit und Wirksamkeit eines Impfstoffs zu testen. Diese plazebokontrollierten Phase-III-Studien, bei denen eine Gruppe den Impfstoff und eine andere ein Plazebo erhält, umfassen in der Regel mehrere tausend Teilnehmer, die lange genug beobachtet werden, um Unterschiede in der Inzidenz, d.h. der Häufigkeit des Auftretens einer Krankheit in der Testpopulation, zu beurteilen.

Versuche am Menschen werden seit Hunderten von Jahren durchgeführt, zählen jedoch zum letzten Schritt im Zulassungsverfahren und finden nur unter besonderen Auflagen statt. Im Fall von Covid-19 wurden sie erstmals Ende März in einem im Journal of Infectious Diseases veröffentlichten Beitrag der Autoren Nir Eyal, Marc Lipstich und Peter G. Smith angesprochen. Sie schreiben in ihrem Abstract: „Indem die konventionellen Phase-III-Tests von Impfstoffkandidaten [durch klinische Studien am Menschen] ersetzt werden, könnte man das Zulassungsverfahren um Monate verkürzen, so dass wirksame Impfstoffe schneller verfügbar sind.“

Die Rolle von Impfstoffen für die globale Gesundheit ist kaum zu überschätzen. Die Pocken wurden 1977 ausgerottet, der letzte Fall trat in Somalia auf. Die Kinderlähmung wurde 1979 in den Vereinigten Staaten ausgerottet. Nach einer globalen Kampagne, die 1994 von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gestartet wurde, trat die Rinderpest, eine Virusinfektion bei Rindern und Hausbüffeln mit nahezu 100-prozentiger Letalität für Nutztiere, zuletzt 2001 bestätigt auf und wurde im Juni 2011 für ausgerottet erklärt.

Masern, ein Virus, das nur den Menschen als Wirt hat, tötete jährlich weltweit sieben bis acht Millionen Kinder, bis nach einem Jahrzehnt der Forschung schließlich 1963 ein Impfstoff entwickelt war. Trotz des wirksamen Impfstoffs infizieren sich immer noch mehr als eine halbe Million Menschen auf der ganzen Welt jedes Jahr mit Masern und mehr als 140.000 Menschen, meist Kinder unter fünf Jahren, sterben jedes Jahr an den Masern. Zu den Ländern mit den meisten Fällen zählen die Demokratische Republik Kongo, Liberia, Madagaskar, Somalia und die Ukraine - diese fünf Länder machen fast die Hälfte aller Fälle weltweit aus.

Das Impfprogramm in den Vereinigten Staaten hat nach Angaben der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC in den letzten 20 Jahren mehr als 21 Millionen schwere Erkrankungen und 732.000 Todesfälle bei Kindern verhindert. Unabhängig von der mit Impfungen verbundenen höheren Lebenserwartung beläuft sich der wirtschaftliche Nutzen in direkten Kosten auf 295 Milliarden Dollar und in gesamtgesellschaftlichen Kosten auf 1,38 Billionen Dollar.

Es werden Anstrengungen unternommen, einen Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus zu entwickeln. Viele sehen in einem Impfstoff die einzige Lösung für die Pandemie. Da es keine medizinische Behandlungen gibt, die deutlich die Sterblichkeit senkt, bleiben die gegenwärtigen Schutzmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Hygiene und die unterstützende medizinische Versorgung im Grunde die einzigen Mittel, um gegen das Coronavirus und seine Auswirkungen auf die menschliche Bevölkerung vorzugehen.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) finden derzeit sechs verschiedene klinische Studien am Menschen statt, um einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zu entwickeln. Moderna, in Zusammenarbeit mit NIAID, und INOVIO Pharmaceuticals sind US-basierte Studien, beide in Phase I. Moderna war das erste Unternehmen, das Mitte März mit Studien am Menschen begann, aufbauend auf früheren Arbeit bezüglich anderer Coronaviren. Die Universität von Oxford in Großbritannien befindet sich in einer Phase I/II-Studie mit einem nicht replizierenden viralen Vektor. Die Studie wird von Dr. Sarah Gilbert geleitet, die zuvor die Arbeit an der „Disease X“ leitete, einem hypothetischen Erreger mit Pandemiepotenzial, der von der WHO in die Liste der prioritären Krankheiten aufgenommen wurde. Die anderen drei Studien finden in China statt – durchgeführt von CANSINO Biological, SINOVAC und dem Beijing Institute of Biological Products. Siebenundsiebzig weitere Studien befinden sich in der präklinischen Auswertungsphase.

Im Oktober 2016 gab die Weltgesundheitsorganisation eine Erklärung zu regulatorischen Erwägungen für Impfstoffentwicklungen heraus, bei denen Studien am Menschen durchgeführt werden, um die Entwicklung dieser wichtigen Präventivbehandlung zu beschleunigen. Darin heißt es: „Es ist wesentlich, dass klinische Studien am Menschen innerhalb eines ethischen Rahmens durchgeführt werden, in dem eine tatsächliche informierte Zustimmung erfolgt. Wenn sie durchgeführt werden, sollten klinische Studien am Menschen mit viel Vorausschau, Vorsicht und Aufsicht durchgeführt werden. Die zu gewinnenden Informationen sollten die Risiken für Menschen klar begründen.“

Die WHO hält es für nicht angebracht, solche Studien in Betracht zu ziehen, wenn ein Erreger eine hohe Sterblichkeitsrate aufweist und es keine Therapien gibt, um die Erkrankung zu stoppen oder zu mindern und den Tod auszuschließen. Berichten zufolge soll es bald eine Antwort auf die vorgeschlagenen Covid-19-Studien am Menschen von Seiten der WHO geben.

Im weiter oben zitierten Aufsatz räumen die Autoren Eyal et al. in Bezug auf die Bedenken bezüglich einer Studie am Menschen zu Covid-19 ein, dass möglicherweise ein in der Studie am Menschen nachgewiesener Schutz durch einen Impfstoff bei der Anwendung des Impfstoffs in der Allgemeinbevölkerung nicht reproduziert wird.

Darüber hinaus gibt es weder ein abgeschwächtes SARS-CoV-2-Virus, das den Teilnehmern an einer Studie hilft, die mit Covid-19 verbundenen Gefahren abzuwenden, wie in den WHO-Leitlinien angegeben, noch gibt es ein Therapeutikum, das das Sterblichkeitsrisiko nach der Infektion der Teilnehmer sicher senken könnte. Noch besorgniserregender ist, so schreiben die Autoren, dass „einige Impfstoffkonstrukte gegen das Coronavirus nach einer Infektion möglicherweise eine schwerere Erkrankung auslösen können, wie in Tierversuchen sowohl bei SARS- als auch bei MERS-Impfstoffkandidaten berichtet wurde“. Aus diesem Grund empfehlen sie, kleine Gruppen nacheinander in die Studien einzubeziehen, um diesem Problem Rechnung zu tragen.

Zur Unterstützung des Vorschlags erklären sie, dass in diesem Fall Freiwillige bewusst zugestimmt haben, diese Risiken einzugehen. Sie schreiben: „Im vorliegenden Fall würde die Studie mehrere Nachfragen zum Verständnis aller Risiken beinhalten, so dass die Entscheidung zutiefst informiert und freiwillig ist Diese Teilnehmer würden in Behandlungseinrichtungen isoliert und die bestmögliche Versorgung erhalten.“

Sie rechtfertigten die Durchführung der Studie auch damit, dass 1) die Studie nur gesunde Teilnehmer rekrutieren wird, 2) der Impfstoff wahrscheinlich einigen der Teilnehmer der Studie zugute kommen wird, 3) in Ermangelung eines Impfstoffs diese wahrscheinlich ohnehin infiziert werden, 4) nur Personen mit einem hohen Ausgangsrisiko rekrutiert werden sollten, 5) die Teilnehmer die beste verfügbare Versorgung erhalten würden und 6) möglicherweise zwischenzeitig einige Therapeutika zur Verfügung stehen könnten, um die Morbidität bzw. Mortalität zu verbessern.

Dr. Beth Kirkpatrick, Professorin und Leiterin der Abteilung für Mikrobiologie und Molekulargenetik an der Universität von Vermont, die eine Versuchsabteilung für Klinische Studien am Menschen hat, stellt sich auf den Standpunkt, dass es für Covid-19 jetzt keine klinischen Studien am Menschen geben kann. Sie sagte, dass es angesichts all der damit verbundenen ethischen und regulatorischen Zwänge mehr als zwei Jahre dauern würde, eine solche Studie zu entwerfen und zu genehmigen.

Eine der Hauptüberlegungen bei einer solchen klinischen Studie am Menschen besteht darin, geeignete Endpunkte für Symptome – zum Beispiel grippeähnliche Krankheitssymptome oder Lungenentzündung - und die darauf bezogenen Auswirkungen mit Blick auf die Wirksamkeit des Impfstoffs festzulegen. Noch immer ist es für Wissenschaftler rätselhaft, warum bei Covid-19 manche Menschen erkranken und andere nicht, und warum symptomatische Patienten im Vergleich zu anderen eine bestimmte Konstellation von Symptomen aufweisen. Darüber hinaus gibt es Bedenken, ob die Daten aus einer solchen Studie in allen Alterskategorien Wirksamkeit belegt, da es sich bei der getesteten Bevölkerung um junge und gesunde Menschen handelt. Auch die Informationen über die Impfstoffsicherheit wären bei diesen kleineren Studien nicht gesichert.

Die Arbeiterklasse muss den angeblichen Nutzen solcher Behandlungen und die Art und Weise, wie solche Studien durchgeführt werden, mit großer Skepsis betrachten. Dies gilt umso mehr angesichts einer Pandemie mit einem neuartigen Coronavirus, das Wissenschaftler und Forscher beständig aufs Neue überrascht und verblüfft hat. Angesichts der Verwerfungen und Verzweiflung, die diese Pandemie hervorruft, werden die Freiwilligen für diese Versuche wahrscheinlich aus dem Kreis der Arbeiterinnen und Arbeiter kommen, die aufgrund ihrer Arbeit selbst das höchste Risiko haben, sich zu infizieren.

Es ist zutiefst beunruhigend, dass diese klinischen Studien am Menschen vom politischen Establishment energisch unterstützt werden. Normale Gefühle des Misstrauens, der Vorsicht und der Wachsamkeit zum Schutz der betroffenen Personen scheinen nicht vorhanden zu sein. Letztlich wurzelt dieser Wettlauf um die Entwicklung von Impfstoffen in den kapitalistischen Beziehungen, da dem Unternehmen, das sie herstellt, ein enormer Gewinn winkt. Hinzu kommt in den herrschenden Kreisen das allgemeine Streben nach Öffnung des Wirtschaftslebens und der Rückkehr an den Arbeitsplatz. Die klinischen Studien am Menschen dienen beiden Zwecken.

Der Versuch einer Abkürzung und der Beschleunigung von Studien hat bereits zu erbärmlichen Misserfolgen geführt, die auf lange Sicht nur die Entwicklung von wirksamen Therapeutika und Impfstoffe verzögern. Angesichts der Verwerfungen und Verzweiflung, die soziale Spannungen entfachen, ist es unbedingt notwendig, sich streng an wissenschaftliche Prinzipien zu halten. Auch in verzweifelten Zeiten werden diese Prinzipien Zeit, Leben und Ressourcen sparen.

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