Regierung beendet Lockdown und setzt Leben von Hunderttausenden aufs Spiel

Drei Wochen nach der Entscheidung der Bundes- und Landesregierungen, die im März verhängten Corona-Einschränkungen schrittweise zurückzunehmen, ist der Lockdown in Deutschland weitgehend beendet. Das verkündeten Kanzlerin Angela Merkel (CDU), der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) auf einer Pressekonferenz am Mittwoch.

Merkel und Söder auf der Pressekonferenz am 6. Mai (AP Photo/Michael Sohn, pool)

„Die jetzige Situation macht es möglich, weitere Öffnungen vorzunehmen“, begann Merkel ihre Ausführungen. „Wir haben die erste Phase der Pandemie hinter uns.“ Dann verkündete sie zusammen mit den Vertretern der Länder eine regelrechte Öffnungs- und Lockerungsorgie, die eine massive Ausbreitung des Covid-19-Virus heraufbeschwört und die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden aufs Spiel setzt.

Zunächst werden die bislang geltenden Kontaktbeschränkungen aufgeweicht. So sollen sich von nun an wieder Angehörige von zwei Haushalten treffen dürfen – also etwa zwei Paare, zwei Familien oder Angehörige aus zwei Wohngemeinschaften. Ebenfalls gelockert werden die Beschränkungen für Krankenhäuser, Pflegeheime und Behinderteneinrichtungen. Demnach soll jeder Patient oder Bewohner von einer bestimmten Person wiederkehrend besucht werden dürfen.

„Geschäfte können jetzt ohne Begrenzung öffnen“, verkündete Merkel weiter. Bislang bestehende Auflagen, wie die Beschränkung der Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter, fallen damit weg. Auch die Fußball-Bundesliga soll „ab der zweiten Mai-Hälfte wieder den Spielbetrieb aufnehmen“ und der Trainingsbetrieb im Breiten- und Freizeitsport unter freiem Himmel wieder erlaubt werden.

Auch in zahlreichen anderen Bereichen sind Lockerungen geplant. Die Bundesländer hätten dazu bereits „Konzepte vorbereitet, bei denen das zunehmend möglich ist“. Merkel erwähnte die „Ausweitung der Notbetreuung“, d.h. die schrittweise Öffnung der Kitas, und Konzepte, die für „Theater, Konzerthäuser und Kinos entwickelt werden“. Insgesamt habe es eine „sehr konstruktive Diskussion“ mit den Ministerpräsidenten der Länder gegeben.

Zwischen den Bundesländern findet mittlerweile ein regelrechter Wettbewerb darüber statt, wer welche Bereiche zuerst öffnet und dabei am weitesten geht. Bereits am Dienstag hatten Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen umfassende Pläne für die Rückkehr in den „Normalbetrieb“ bei Schulen und Kitas verkündet. Gestern stellte Söder die baldige Öffnung der bayrischen Biergärten in Aussicht. In Berlin sollen nach dem Willen des rot-rot-grünen Senats Restaurants und Cafés bereits in der nächsten Woche wieder öffnen. Und auch in Hessen plant die grün-schwarze Landesregierung die Wiedereröffnung von Restaurants, Hotels und Campingplätzen noch in diesem Monat.

Ein zentrales Ziel der Maßnahmen ist das Hochfahren der Wirtschaft und die Wiederbelebung der Industrie. „Wir haben in weiten Teilen der Wirtschaft keinerlei Verbote verhängt“, betonte Merkel. In anderen Ländern seien große Teile der Produktion stillgelegt worden. Deutschland gehe einen „sehr offenen und mutigen Weg“. Was dieser „mutige Weg“ für die Gesundheit der Arbeiter und ihre Familien bedeutet, erklärte Merkel nicht. In den vergangenen Wochen haben sich in einzelnen Betrieben Hunderte mit Covid-19 infiziert.

Wie schon in den vergangenen Wochen verband Merkel ihre Ankündigungen mit Appellen an die Bevölkerung, weiterhin „Vorsicht“ walten zu lassen und die „Erfolge“ nicht zu gefährden. „Wir wollen vermeiden, dass sich Infektionen schnell weiterverbreiten“, erklärte die Kanzlerin auf der Pressekonferenz. Angesichts der Politik der Bundesregierung kann man dies nur als zynisch und kriminell bezeichnen. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die beschlossenen Lockerungen zu einer erneuten Ausbreitung des Virus führen.

Laut den offiziellen Angaben des Robert-Koch-Instituts gab es am 4. Mai 679 Neuinfektionen, am 5. Mai 685 und am 6. Mai 947. Die Zahl der Toten nimmt ebenfalls zu. Am 4. Mai gab es 43 Tote, am 5. Mai 139 und am 6. Mai 165. Laut Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität stieg die Zahl der Toten am Mittwoch sogar um 282 und damit auf insgesamt 7.275. Die Zahl der Infizierten erreichte 168.162, davon sind 23.191 Fälle aktiv. In den Kliniken bleibt die Situation trotz der offiziellen Propaganda dramatisch. Gegenwärtig werden 1937 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt, 69 Prozent davon beatmet.

Auch international breitet sich die Pandemie weiter aus. So stieg die Zahl der Infektionen in den USA gestern erneut um über 25.000 auf mittlerweile über 1,26 Millionen, davon sind über 975.000 Fälle aktiv. In Europa gibt es über 784.000 aktive Fälle, bei insgesamt über 1,5 Millionen Infizierten. Allein gestern kamen fast 31.000 neue Fälle hinzu, die meisten davon in Russland (10.559), Großbritannien (6111) und Frankreich (3640). In ganz Europa erlagen erneut über 2500 Menschen dem Corona-Virus, womit die Gesamtzahl der Toten auf 146.631 stieg.

Die Behauptung der Regierung, unter diesen Bedingungen das Infektionsgeschehen in Deutschland kontrollieren zu können und einzugreifen, „wenn regional Infektionsherde auftreten“ (Merkel), ist absurd. Sie dient vor allem dazu, von der tödlichen Logik des eingeschlagenen Kurses abzulenken. Mit der Lockerungspolitik provoziert sie regelrecht eine Situation wie in Italien oder den USA, wo das Gesundheitssystem auf Grund rasant steigender Fallzahlen kollabiert ist und bereits Zehntausende unter fürchterlichen Bedingungen gestorben sind.

Wie Trump in den USA führt auch die herrschende Klasse in Deutschland einen regelrechten Krieg gegen die Bevölkerung und ist bereit, notfalls hunderttausende Menschenleben für ihre Interessen zu opfern. Von Anfang an hat sie die Coronakrise als Chance gesehen, ihre Klassenpolitik zu verschärfen und hunderte Milliarden in die Taschen der Großkonzerne und deren Aktionäre zu transferieren. Für die soziale und medizinische Versorgung und den Schutz der Bevölkerung gab es so gut wie nichts.

Im Gegenteil: Die gigantischen Summen, die im Rahmen der Corona-Notpakete vor allem an die Finanzelite geflossen sind, sollen nun wieder aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden. Deshalb die aggressive „Zurück an die Arbeit“-Offensive, die von allen Bundestagsparteien und den Gewerkschaften organisiert wird. Ein weiterer Faktor sind die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus, der sich gegen seine internationalen Rivalen in Stellung bringt, massiv aufrüstet und auf neue Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte schielt.

„Im Wirtschaftsministerium widmen sich mehrere Stäbe, unterstützt von einer Hundertschaft an Beratern, der Zeit nach der Krise: Es werden erste Szenarien entwickelt, wie Deutschland bei einer globalen Aufholjagd vorneweg laufen könnte“, berichtete Der Spiegel bereits Anfang April. Öffentlich wolle „man darüber noch nicht reden, die Krisenhilfe soll im Vordergrund stehen. Aber intern sieht man die Chance, all das Lähmende endlich abzustreifen.“ Was das bedeutet, wird nun in vollem Umfang sichtbar: Das „Lähmende“ sind nicht nur die sozialen Rechte der Arbeiter, sondern auch ihr Recht auf Leben.

Die Arbeiterklasse kann der existenziellen Gefahr, die von der Pandemie und der herrschenden Klasse gleichermaßen ausgeht, nur durch ihr eigenes Programm entgegentreten. Die Vermögen der Superreichen müssen beschlagnahmt und für die Bekämpfung der Pandemie sowie die Überwindung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns eingesetzt werden. Die großen Unternehmen und Banken müssen unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter gestellt und der Kapitalismus, der für die Mehrheit der Bevölkerung soziale Verelendung und Tod bedeutet, durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt werden.

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