Schwedens Gesundheitsbehörden geben zu: „Herdenimmunität“ hat „zu viele“ Todesopfer gefordert

Anders Tegnell, der als staatlicher Epidemiologe Schwedens für die Politik des Landes in Bezug auf die Corona-Pandemie verantwortlich war, musste zugeben, dass der Verzicht auf Lockdown-Maßnahmen zu Gunsten einer faktischen Strategie der „Herdenimmunität“ eine katastrophale Zahl an Toten verursacht hat. Seine Äußerungen sind nicht nur Ausdruck der zunehmenden Krise des politischen Establishments in Schweden, sondern auch ein Armutszeugnis für alle bürgerlichen Medien und Politiker im Rest der Welt, die das „schwedische Modell“ als Vorbild für die „Back-to-Work“-Kampagnen benutzt haben, die jetzt weltweit Millionen Menschenleben bedrohen.

Tegnell erklärte, es gebe „ganz offensichtlich Verbesserungspotential bei dem, was wir getan haben“. Auf die Frage, ob die Strategie der schwedischen Regierung, die meisten Schulen, Restaurants, Bars und Geschäfte offenzulassen und keine strengen Kontaktbeschränkungen einzuführen, zu viele Todesopfer verursacht habe, antwortete er: „Ja, absolut.“

Bis Freitagabend verzeichnete Schweden fast 43.000 Infektionen und 4.639 Todesopfer bei einer Gesamtbevölkerung von nur zehn Millionen Menschen. Im gleitenden Durchschnitt von sieben Tagen verzeichnete Schweden die weltweit höchste Sterberate in der siebentägigen Periode, die am 2. Juni endete. Schweden lag damit im vergangenen Monat weltweit zum zweiten Mal an erster Stelle in einem Zeitraum von sieben Tagen.

Ein Großteil der Verstorbenen waren Senioren, die in unterfinanzierten und schlecht ausgestatteten Pflegeheimen leben. In vielen Gebieten wurde ihnen faktisch die Intensivbehandlung in Krankenhäusern verweigert. Auch Immigranten und andere Gruppen mit niedrigem Einkommen, die soziale Distanzierungsmaßnahmen nicht einhalten konnten, waren stark betroffen. Im Vergleich zu seinen nordischen Nachbarstaaten, die viel härtere Lockdowns eingeführt hatten, hat Schweden durchschnittlich zehnmal mehr Einwohner verloren als Norwegen, siebenmal mehr als Finnland, und viereinhalbmal so viele wie Dänemark.

Der „schwedische Weg“ wurde von den Sprachrohren der Finanzelite und des Großkapitals angepriesen, denn kaum hatten sie die milliardenschweren Rettungspakete kassiert, konnten sie es nicht erwarten, die arbeitende Bevölkerung wieder zurück in die Betriebe zu zwingen. Thomas Friedman forderte in der New York Times in einer Kolumne mit dem Titel „Macht Schweden es richtig?“ Ende April, alle müssten „sich an das Coronavirus anpassen – bewusst – wie Schweden es versucht“. Weiter schrieb er, Stockholms Ziel sei „Herdenimmunität durch Exposition“.

Der Spiegel führte Anfang Mai ein längeres Interview mit dem Generaldirektor der schwedischen Gesundheitsbehörde, Johann Carlson, in dem dieser die Schließung von Schulen als „überzogen“ bezeichnete. Eine Woche später erschienen in der britischen Financial Times ein Leitartikel mit dem Titel „Schweden wählt einen dritten Weg beim Coronavirus“ und in dem einflussreichen US-Politikmagazin Foreign Affairs ein Artikel mit dem Titel „Schwedens Coronavirus-Strategie wird bald diejenige der ganzen Welt sein“. Der letztere Artikel stammte von Verfassern, die kein Fachwissen auf dem Gebiet von Infektionskrankheiten oder Medizin haben. Sie arbeiten für eine Denkfabrik, die vom schwedischen Arbeitgeberverband finanziert wird.

Das Ausmaß der Todesfälle durch diese kriminelle Politik wird immer deutlicher. Daher sollten diese Autoren und Publikationen allesamt zur Verantwortung gezogen werden. Ihre Propaganda hat zur verfrühten Aufhebung der Lockdown-Maßnahmen in Europa und Nordamerika beigetragen, u.a. zur Wiedereröffnung der Schulen und zur Rückkehr der Arbeiter an unsichere Arbeitsstätten. Sie haben faktisch bei der Umsetzung einer Politik mitgeholfen, die sich an der desaströsen Corona-Strategie Schwedens orientierte.

Die Regierungen der Nachbarstaaten mussten zugeben, dass Schweden weiterhin ein Hochrisiko-Gebiet für Infektionen ist. Während Norwegen, Dänemark und Finnland den Reiseverkehr zwischen ihren Ländern wieder zulassen, ist Schweden davon ausgeschlossen. Zypern lässt keine schwedischen Touristen einreisen, obwohl es seine Grenzen für Reisende aus ganz Europa öffnet – was leichtsinnig genug ist.

Angesichts der zunehmenden öffentlichen Kritik musste die Regierung einige Maßnahmen ergreifen, um ihr Gesicht zu wahren. Gesundheitsministerin Lena Hallengren kündigte am Donnerstag an, die Regierung würde allen Personen mit Symptomen einen Test auf das Coronavirus bezahlen. Dafür sollen fünf Milliarden Kronen (etwa 560 Millionen Euro) bereitgestellt werden. Schweden hat aufgrund seiner äußerst restriktiven Testpolitik durchgehend eine der niedrigsten Testraten in ganz Europa. Das Ziel der Regierung, bis Ende Mai 100.000 Tests pro Woche durchzuführen, wurde nie auch nur ansatzweise erreicht.

Dass zu wenige Tests durchgeführt wurden, war ein wichtiger Grund für die Krise in den Altenpflegeeinrichtungen. Für das Personal war es fast unmöglich, sich testen zu lassen, sodass sich das Virus unentdeckt ausbreiten konnte. Doch das Hauptproblem für die Pflegekräfte ist die prekäre Beschäftigung. Viele von ihnen werden stundenweise von privaten Arbeitsagenturen bezahlt. Ihre Löhne sind so niedrig und die Arbeitsplätze so unsicher, dass sie es sich selbst mit Symptomen nicht erlauben konnten, zu Hause zu bleiben. Bei einer stichprobenartigen Überprüfung von 57 Pflegekräften in einem Pflegeheim in Göteborg kam heraus, dass 40 Prozent der Beschäftigten Symptome hatten, u.a. Husten, Fieber und Halsschmerzen. Vier wurden positiv auf Covid-19 getestet.

Diese Situation ist das Ergebnis einer jahrelangen brutalen Sparpolitik. Laut einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Denkfabrik Arena Ide wollen dieses Jahr 96 Prozent aller Stadtverwaltungen in Schweden die Ausgaben für die Altenpflege kürzen.

Hallengren erklärt auch heute noch, sie hätte „keinen Lockdown gewollt“, wenn sie damals gewusst hätte, was sie heute weiß. Vor Kurzem versuchte sie dann in einem Interview mit The Local, die ganze Bevölkerung für diese Bedingungen verantwortlich zu machen: „Es ist ein Versagen der gesamten Gesellschaft, dass die Infektion in die Altenheime eindringen konnte und dass wir die Altenpflege nicht auf diese Situation vorbereiten konnten. Niemand kann etwas anderes sagen.“

Das ist gelogen. Die Privatisierung der Altenpflege und des Gesundheitswesens im Allgemeinen sind das Ergebnis der rechten neoliberalen Politik, die das politische Establishment jahrzehntelang betrieben hat – Sozialdemokraten ebenso wie Konservative. In Schweden werden zahlreiche Schulen und Krankenhäuser vom Staat finanziert, jedoch von privaten Konzernen betrieben.

John Mickelthwait und Adrian Wooldrridge, zwei ehemalige Redakteure des Magazins Economist, schrieben 2014 in einem Buch: „Durch die Straßen von Stockholm fließt das Blut der heiligen Kühe. Die dortigen Denkfabriken quellen über vor neuen Ideen über Sozial-Unternehmer und schlankes Management. Schweden hat tatsächlich am meisten umgesetzt von dem, wovon Politiker wissen, dass sie es tun sollten, aber selten den Mut haben, es zu versuchen.“

Diese reaktionären Ideen haben sich angesichts der Pandemie als tödlich erwiesen. Schwedens „schlankes“ Krankenhaussystem, das mit die geringste Anzahl von Betten pro Kopf der Bevölkerung in ganz Europa hat, brach angesichts des Ansturms von Covid-19-Patienten zusammen. Das Gesundheitssystem wurde stark rationalisiert, viele Bewohner von Altenheimen wurden nicht einmal ins Krankenhaus gebracht. Laut einer Studie des NDR erhielten weniger als 1 Prozent der über 80-jährigen Infizierten Intensivpflege; in Deutschland waren es 12 Prozent.

Die schnell steigende Zahl an Toten und die anhaltende Ausbreitung der Pandemie droht, das politische Establishment Schwedens zu destabilisieren. Die Regierung aus Sozialdemokraten und Grünen musste den Forderungen der konservativen Gemäßigten und der rechtsextremen Schwedendemokraten nach einer Untersuchungskommission vor der Sommerpause nachgeben. Ministerpräsident Stefan Löfven wollte die Untersuchung ursprünglich erst nach der Pandemie durchführen.

Grundlegender ist jedoch, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung zusammenbricht. Laut einer Umfrage von April hatten 63 Prozent der Schweden viel oder sehr viel Vertrauen in den Umgang der Regierung mit der Pandemie; in der aktuellen Umfrage, die am Donnerstag veröffentlicht wurde, waren es nur noch 45 Prozent.

Es ist kein Zufall, dass diese Woche in mehreren schwedischen Großstädten, u.a. in Stockholm und Malmö, Tausende Menschen an Massenprotesten gegen den brutalen Polizeimord an George Floyd und allgemein gegen Polizeigewalt teilgenommen haben. In Interviews mit der Presse erklärten Teilnehmer, ihnen gehe es auch um Probleme mit Rassismus der Polizei und Angriffen auf verarmte Immigranten im eigenen Land. In Malmö demonstrierten am Donnerstag etwa 2.900 Menschen. Einen Tag zuvor hatte die Polizei in Stockholm bei Protesten mit Tausenden Teilnehmern Pfefferspray gegen eine Gruppe von Demonstranten eingesetzt.

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