WHO: Coronavirus-Pandemie hat „neue und gefährliche Phase“ erreicht

Am Freitag (19. Juni) gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass die Covid-19-Pandemie am Vortag mit über 150.000 nachgewiesenen Neuinfektionen weltweit ihr bisheriges Tageshoch erreicht hatte. Laut der Datenbank der New York Times waren es insgesamt 166.099 Fälle. Die unabhängige Tracking-Plattform Worldometer wies für besagten Freitag mit 181.000 bestätigten Neuinfektionen eine noch höhere Zahl aus.

Seit dem 2. Mai ist der Sieben-Tage-Durchschnitt der weltweiten Covid-19-Fälle pro Tag kontinuierlich von etwa 81.000 auf einen Höchststand von 145.522 am Samstag gestiegen – ein Anstieg nahezu 80 Prozent. Der weltweite Sieben-Tage-Durchschnitt bei den Todesfällen erreichte am 26. Mai mit 4.079 Toten seinen Tiefpunkt und ist seither langsam auf 4.743 (Samstag, 20. Juni) gestiegen. Die Zahl der Todesopfer pro Tag liegt im Tagesdurchschnitt mittlerweile weltweit bei etwa 5.000.

Die massiven Lockdowns, die Milliarden Menschen zu spüren bekamen, brachten die Weltwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs. Vor diesem Hintergrund ist die Politik, die Betriebe zu öffnen, Bedenken in den Wind zu schlagen und alle geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten wieder aufzunehmen, schierer Wahnsinn. Es wird so getan, als ob die Pandemie besiegt und nur noch ein bloßer historischer Bezugspunkt wäre. Die Wissenschaft konstatiert eine völlig andere Realität. Dennoch stellt sich die herrschende Klasse in jedem Land taub gegenüber den Ratschlägen der Experten. Es geht ihr ausschließlich um den Profit.

Arbeiter eines Reinigungs- und Desinfektionsteams auf dem Weg in ein Pflegezentrum in Kirkland, Washington (AP Photo/Ted S. Warren)

Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus berichtete bei der regelmäßigen WHO-Pressekonferenz am 19. Juni: „Die Welt befindet sich in einer neuen und gefährlichen Phase. Viele Menschen haben es verständlicherweise satt, zu Hause zu bleiben. Die Länder sind verständlicherweise bestrebt, ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften zu öffnen, aber das Virus breitet sich immer noch schnell aus. Es ist immer noch tödlich, und die meisten Menschen sind gefährdet.“ Mehr als 81 Länder, darunter Indien, Chile, die Türkei, Mexiko, Pakistan, Südafrika und Bangladesch, verzeichneten in den letzten zwei Wochen einen Anstieg der akuten Covid-19-Erkrankungen, während weniger als die Hälfte der Länder weltweit rückläufige Zahlen meldete.

Laut dem Covid-19-Tracker von Worldometer haben sich bislang über 8,9 Millionen Menschen nachgewiesenermaßen mit dem Coronavirus infiziert. Obendrein wurden mehr als 467.000 Todesfälle gemeldet, die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen. Am Freitag, dem Tag der WHO-Pressekonferenz, entfiel der Löwenanteil der neuen Fälle auf Brasilien, wo mit katastrophalen 55.209 bestätigten Infektionen die bisher höchste Gesamtzahl pro Tag erreicht wurde. Auch am Samstag gab es in Brasilien erneut mehr als 31.000 neue Fälle. Als zweites Land nach den USA hat Brasilien damit die Schwelle von einer Million Infektionen überschritten. Die Zahl der Todesopfer pro Tag schwankt aktuell um 1000, die offizielle Gesamtzahl liegt mittlerweile bei über 50.000.

Jair Bolsonaro, der faschistische Präsident Brasilien, schert sich nicht im Geringsten um die Folgen der Coronavirus-Infektion für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit. Darin hat er viel gemeinsam mit US-Präsident Trump und seiner Regierung.

In einem Interview von Gray Television antwortete Trump kürzlich auf die Frage nach dem besorgniserregenden Anstieg neuer Fälle in 22 US-Bundesstaaten: „Wenn man sich die Zahlen ansieht, sind sie im Vergleich zu dem, was war, verschwindend gering. Es stirbt aus. Übrigens liegen wir bei Impfstoffen und Therapeutika gut im Rennen. Ich denke, dass es dazu in nicht allzu ferner Zukunft einige große Ankündigungen geben wird. Aber nein, wir sind nicht besorgt.“ Das ist die Stimme der Finanzoligarchie, deren Diktat Trump verkörpert.

Vizepräsident Mike Pence schrieb diese Woche in einem Kommentar im Wall Street Journal: „In der Berichterstattung geht die Tatsache unter, dass heute weniger als sechs Prozent der Amerikaner, die jede Woche getestet werden, den Virus haben... Die Wahrheit ist, dass wir in den letzten vier Monaten große Fortschritte gemacht haben, und das ist ein Beweis für die richtige Führung von Präsident Trump.“ Die tatsächlichen Zahlen ergeben ein ganz anderes Bild. Was Pence und Trump meinen, ist schlicht und einfach: Es wegen des erneuten Anstiegs der Infektionszahlen keine weiteren Lockdowns oder andere Schutzmaßnahmen geben.

Im US-Bundesstaat South Carolina sind die Infektionen von durchschnittlich weniger als 200 pro Tag Ende Mai auf einen Höchststand von 1.155 Fällen am Samstag gestiegen. Ein Teil dieses Anstiegs wird dem Tourismus zugeschrieben, insbesondere in Myrtle Beach. Mitte Mai erlaubte Gouverneur Henry McMaster, dass Hotels wieder Reservierungen entgegennehmen und Restaurants wieder öffnen dürfen. Am 1. Juni gab es 22 neue Fälle im Horry County, wo sich Myrtle Beach befindet, mittlerweile sind es mehr als 120. Gegenwärtig sind in diesem Bundesstaat 660 Krankenhausbetten mit Patienten belegt, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben.

Laut dem John-Hopkins-Dashboard schlug Florida am Freitag seinen bisherigen Rekord an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit jeweils knapp 4000 neuen Fällen. Der republikanische Gouverneur des Bundesstaats, Ron DeSantis, versuchte Kritik abzuwehren, indem er behauptete, dass mehr getestet worden sei und es Infektionen unter jüngeren, gesünderen Menschen gegeben habe. Er verweis auf Cluster von „überwiegend hispano-amerikanischen“ Tagelöhnern als Hauptfaktor für die steigenden Zahlen. „Einige dieser Jungs fahren in einem Schulbus zur Arbeit, und dort sind sie wie Sardinen auf engem Raum zusammengepfercht, fahren durch Palm Beach County oder einige andere Orte, und da gibt es all diese Möglichkeiten zur Übertragung.“ Die Landwirtschaftskommissarin von Florida, Nikki Fried, bestritt die Behauptungen des Gouverneurs. Die meisten Landarbeiter seien vor einigen Wochen nach dem Ende der Ernte weggegangen.

Texas meldete am Freitag 4.497 neue Fälle, ein Anstieg um mehr als zehn Prozent gegenüber dem Vortag, gefolgt von weiteren 4.250 Infektionen am Samstag. Es stimmt offenbar nicht, dass diese Zuwächse ausschließlich auf vermehrte Tests zurückzuführen sind. Experten des öffentlichen Gesundheitswesens haben festgestellt, dass der Prozentsatz der positiven Testergebnisse ebenfalls ansteigt, was auf eine unkontrollierte Ausbreitung schließen lässt. Im Großraum Houston gab es mehr als 26.000 Fälle, womit die Fallzahl 1,2-mal höher lag als in der Woche zuvor. Die Regierungschefin des Landkreises Harris County, Lina Hidalgo, erließ eine Verfügung, die alle Unternehmen dazu verpflichtet, ab dem 22. Juni das Tragen von Gesichtsmasken anzuordnen.

Am Freitag und Samstag verzeichnete Arizona einen starken Anstieg der Infektionen von jeweils mehr als 3.000 neuen Fälle, ein Anstieg von mehr als 25 Prozent gegenüber dem Donnerstag. Trotz des Drucks der medizinischen Fachwelt, die feststellt, dass die Intensivbetten knapper werden, hat der republikanische Gouverneur Doug Ducey darauf verzichtet, im ganzen Bundesstaat das Tragen von Masken verpflichtend zu machen. Er überlässt diese Entscheidung den Städten und Bezirken, was einer kriminellen Fahrlässigkeit gleichkommt. Am Donnerstag waren 85 Prozent der stationären Betten in Arizona belegt. Die Zahl der von Covid-19-Patienten genutzten Krankenhausbetten ist innerhalb von 24 Stunden von 1.667 am Mittwoch auf 1.832 gestiegen.

In einem Interview mit dem Wall Street Journal erklärte Präsident Trump: „Ich persönlich denke, dass das Testen überbewertet wird, obwohl ich die größte Testmaschine der Geschichte geschaffen habe.“ Er fügte allerdings hinzu, dass diese Zunahme an bestätigten Fällen „uns in vielerlei Hinsicht schlecht aussehen lässt“.

Einer solch herablassenden Haltung trat Dr. Ashish Jha vom Harvard Global Health Institute in CNN entgegen: „Wir mögen mit der Pandemie fertig sein, aber die Pandemie ist nicht fertig mit uns.“

Die Trump-Administration hat in jeder Phase der Pandemie Maßnahmen verzögert und damit massenhaft vermeidbare Todesfälle verursacht. Die von Trump befürwortete vorzeitige Wiedereröffnung des Landes wird zu einer Beschleunigung solcher Todesfälle führen und die ohnehin brüchige Infrastruktur des Gesundheitswesens überfordern.

Eine kürzlich durchgeführte Studie vermittelt einen quantitativen Eindruck vom Ausmaß dieser böswilligen Nachlässigkeit. Die Studie vergleicht die Reaktion der Vereinigten Staaten auf die Pandemie mit der anderer Länder wie Südkorea, Australien, Deutschland und Singapur und kommt zu dem Ergebnis, dass 70 bis 99 Prozent der Amerikaner, die an dem Virus gestorben sind, hätten gerettet werden können.

In einem Kommentar in Stat News erklärten die Forscher Isaac und James Sebenius: „Aufgrund der exponentiellen Ausbreitung des Virus waren unsere verspäteten Maßnahmen verheerend. Infolge der US-Reaktion starben in den vier Monaten nach den ersten 15 bestätigten Fällen 117.858 Amerikaner. Nach einem entsprechenden Zeitraum … wenn man die deutsche Bevölkerung von 83,7 Millionen auf die 331 Millionen Amerikaner hochrechnet, gäbe es in einem Deutschland von der Größe der USA 35.049 Covid-19-Tote zu beklagen.“

Die Studie stellt fest, dass die Reaktion der USA in den ersten 14 Tagen nach dem 15. bestätigten Fall „um Meilen“ hinter den genannten Ländern zurückblieb. Sie schätzt, dass die USA 99 Prozent der 120.000 Covid-19-Todesfälle hätten verhindern können, wenn sie mit dem Ausbruch so effektiv umgegangen wären wie die genannten anderen Länder.

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