Neue Corona-Ausbrüche: Warnung vor der zweiten Welle

Nach dem Massenausbruch von Corona-Infektionen in der Fleischfabrik Tönnies in Ostwestfalen breitet sich das Virus auch in anderen Betrieben und Regionen rasch weiter aus. Gescheitert sind die Versuche von Wirtschaft und Politik, die Hotspots durch Abschotten und Wegsperren eines Teils der Arbeiter und der sozial Schwächsten in Schach zu halten.

Tönnies-Arbeiter und ihre Familien in Verl (NRW) im Lockdown hinter Zäunen (AP Photo/Martin Meissner)

Bis Dienstag wurden bei Tönnies 1553 Schlachter und Fleischpacker positiv getestet. Besonders in der Fleischzerlegung, wo die harte Arbeit bei Temperaturen um 6° Celsius einen Ausbruch stark begünstigt, hatten sich hunderte Arbeiter infiziert. Mindestens 27 Personen mussten ins Krankenhaus gebracht werden, fünf davon auf eine Intensivstation. Mindestens zwei werden künstlich beatmet.

Die Wut über die Profitgier des Firmeninhabers Clemens Tönnies drückt sich in Mahnwachen der Anwohner und immer neuen Protestaktionen aus. Diese Woche prangte am Eingang der historischen Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen ein Banner mit der Aufschrift: „Keine Ausbeuter bei S04 – Tönnies raus!“ Die denkmalgeschützte Anlage war das erste Stadion des Fußballclubs Schalke 04, der als Arbeitersportverein entstanden war. Clemens Tönnies, milliardenschwerer Fleischbaron und Amigo der regierenden CDU, ist heute Aufsichtsratsvorsitzender und Sponsor des Erstligaclubs. Am Samstag wollen die Schalker Fans während eines Bundesligaspiels mit einer Menschenkette gegen Tönnies demonstrieren.

Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (NRW), hatte sich lange geweigert, den Lockdown erneut wieder auszurufen. Doch im Landkreis Gütersloh stieg die Anzahl der Neuinfektionen Anfangs der Woche über das Fünffache des kritischen Grenzwerts: Statt 50 betrug sie mehr als 270 pro 100.000 Einwohner. Auch im benachbarten Landkreis Warendorf stieg die Zahl der Infizierten.

Im Kreis Gütersloh hatte das Gesundheitsamt inzwischen mehr als 2000 Infizierte registriert, darunter 32 Personen, die nachweislich keinen direkten Bezug zum Unternehmen Tönnies haben. Schließlich sah sich die NRW-Landesregierung gezwungen, ab Mittwoch für die über 640.000 Einwohner der beiden benachbarten Landkreise wieder Kontaktbeschränkungen anzuordnen.

Der Fall Tönnies hat gezeigt, dass die Strategie der deutschen Wirtschaft und Politik nicht aufgeht. Aus Profitgier hatte Tönnies die Arbeiter vier Monate lang unter Pandemiegefahr weiterarbeiten lassen, und die Politik und die Behörden hatten mitgespielt, getreu dem von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) geprägten Begriff einer „faktischen Quarantäne bei gleichzeitiger Arbeitsmöglichkeit“.

Als der jüngste Ausbruch bekannt wurde, versuchten Armin Laschet und andere Politiker zuerst, feindliche Stimmungen gegen osteuropäische Arbeiter zu schüren. Sie behaupteten, das Virus sei nach den Feiertagen von Rumänen und Bulgaren eingeschleppt worden – obwohl diese in Wirklichkeit im Schlachthof am Band durchgearbeitet hatten. Diese Tönnies-Arbeiter hatten an den Feiertagen gar nicht frei bekommen.

Das Virus kennt aber weder nationale noch regionale Grenzen. So ist auch der Versuch, seine Ausbreitung in Deutschland durch polizeilich abgeriegelte Ghettos zu unterbinden, klar zum Scheitern verurteilt.

Dabei ist Tönnies in Gütersloh beileibe kein Einzelfall. Das zeigt schon das Beispiel der Schlachterei Müller Fleisch in Birkenfeld (Baden-Württemberg), wo das zuständige Landratsamt am 24. April der Fortführung der Produktion zustimmte, als schon mindestens 230 Arbeiter des Betriebs positiv getestet worden waren. Seither sind weitere Schlachthöfe, wie beispielsweise Vion in Schleswig-Holstein, von Corona betroffen. Auch in Nordrhein-Westfalen gab es bisher schon Ausbrüche: zum Beispiel bei Westfleisch (Coesfeld und Oer-Erkenschwick) und bei Boeser Frischfleisch in Schöppingen (Borken).

Am letzten Montag, 22. Juni, musste dann der Schlachthof Bochum stillgelegt werden, der von Willms Fleisch betrieben wird. Auch dort hatten sich zwei Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt; beide wohnen in Privatwohnungen und nicht in Sammelunterkünften. Auch in Moers haben sich inzwischen in einer Döner-Produktion mehrere Beschäftigte angesteckt; dort sind bisher 17 von 275 Mitarbeitern positiv auf das Corona-Virus getestet worden.

Inzwischen gibt es neue Ausbrüche in anderen Bundesländern. In Niedersachsen hat Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die Anreise von Touristen aus Gütersloh ausdrücklich nur mit ärztlichem Attest gestattet. Aber gleichzeitig haben sich gleich mehrere niedersächsische Schlachthöfe zu neuen Hotspots entwickelt.

Im Kreis Oldenburg ergab eine Reihentestung bei einem Putenschlachthof der Wiesenhof-Gruppe, dass sich schon mindestens 35 Arbeiter infiziert hatten. Eine Unterkunft für 200 Arbeiter wurde unter Quarantäne gestellt. Ein weiterer Geflügelverarbeitungsbetrieb derselben Gruppe im Landkreis Lohne ist ebenfalls betroffen. Auch bei einem Schlachthof von Danish Crown im Kreis Cloppenburg haben sich mindestens drei Arbeiter angesteckt.

Bundesweit gehen die Corona-Zahlen wieder hoch. Besonders über die wieder geöffneten Schulen verbreitet sich das Virus. Corona-Hotspots werden aus Magdeburg, Göttingen, Berlin-Neukölln, Berlin-Charlottenburg und zahlreichen weiteren Städten gemeldet. Überall werden ganze Wohnkomplexe durch Polizeihundertschaften abgeriegelt und hinter Bauzäunen weggesperrt. In Göttingen wurde am Wochenende sogar Pfefferspray gegen die Menschen in Quarantäne eingesetzt. Solche Szenen erinnern fatal an die Durchsetzung eines Ghettos mit Polizeigewalt.

Am Dienstag stieg der R-Wert nach Angaben des Robert-Koch-Instituts kurzfristig auf 2,76 und erreichte damit wieder ein ähnlich hohes Niveau wie im vergangenen März, ehe die Schulen geschlossen wurden. Zwar ist dieser Wert seither wieder gesunken, aber ein stabilerer zweiter R-Wert, der die lokalen Ausbrüche weniger stark gewichtet, liegt seit Tagen deutlich über eins. Laut RKI-Chef Lothar Wieler lag dieser zweite Wert am Dienstag bei 1,83 und am Mittwoch bei 1,1. Er gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, und zeigt damit, dass das Coronavirus wieder dabei ist, sich exponentiell auszubreiten.

Dabei sind die offiziellen Zahlen definitiv zu niedrig angesetzt, wie die Gesundheitsämter selbst einräumen, und die Dunkelziffer ist sehr hoch. Viele Gesundheitsämter testen zu wenig und leiten relevante Zahlen nicht weiter, hauptsächlich weil ihnen das nötige Personal fehlt. Das im Lockdown zusätzlich verfügbare Personal wurde ihnen wieder entzogen, da der Lockdown offiziell als beendet erklärt wurde. Auch neigen frei nach Donald Trumps Motto, „Testen ist ein zweischneidiges Schwert“, die meisten Politiker eher dazu, das systematische Testen zu vermeiden, weil sie die Konsequenzen scheuen.

Die Pandemie lässt sich nicht per Dekret abschalten. „Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen“, formulierte es Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité, in seinem jüngsten Corona-Update am 23. Juni. „Die Wissenschaft ist nicht so, dass man sich mit ihr nochmal auf der Tonspur unterhalten und hinten herum sagen kann: Hey, wir sind uns doch einig und wollen in Wirklichkeit alle das Gleiche; jetzt änderst du mal ein bisschen deine Meinung. Die Wissenschaft hat keine Meinung.“

Der Name der Sendung lautete, „Das Virus kommt wieder“, und Drosten zeigte sich darin aufrichtig besorgt. Er warnte vor einer zweiten Welle im Herbst, wenn die Schulen alle wieder öffnen. Zur Ausbreitung im Kreis Gütersloh sagte er, dort sei „das Virus schon in die Bevölkerung hinausgetragen“ worden, denn die Erkrankung werde ja verzögert festgestellt. Zu erwarten sei, dass die Zahl der Krankenhausaufnahmen noch zunehmen werde.

Die Entwicklung bestätigt auch in Deutschland, was das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) in seinem Statement schrieb: „Die globale Coronavirus-Pandemie ist außer Kontrolle … Gleichgültigkeit, Inkompetenz und absichtsvolles Handeln von Regierungen“ führen zur katastrophalen Ausbreitung der Seuche, an der weltweit schon weit über neun Millionen Menschen erkrankt und fast eine halbe Million gestorben sind.

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