WHO warnt: „Sehr erhebliches“ Wiedererstarken der Corona-Pandemie in Europa

Der europäische Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Dr. Hans Henri Kluge warnte am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Kopenhagen vor einem „sehr erheblichen“ Wiedererstarken der Corona-Pandemie in ganz Europa. Letzte Woche war die Gesamtzahl der Neuinfektionen zum ersten Mal seit Monaten erneut angestiegen.

Mit Blick auf die Einstellung der Lockdown-Maßnahmen durch europäische Regierungen erklärte Kluge: „Seit Wochen spreche ich von der Gefahr eines Wiederaufflammens infolge der Anpassung der Maßnahmen in den Ländern. In einigen Ländern der Europäischen Region ist dieses Risiko nun eingetreten – 30 Länder haben in den vergangenen zwei Wochen einen Anstieg der neuen kumulativen Fallzahlen erlebt.“ Das sind mehr als die Hälfte der 54 Staaten, aus denen die Europa-Region der WHO besteht.

Kluge fügte hinzu: „In elf dieser Länder hat eine beschleunigte Übertragung zu einem signifikanten Wiederanstieg geführt, der ohne entschlossene Gegenmaßnahmen die Gesundheitssysteme in der Europäischen Region erneut an ihre Belastungsgrenzen stoßen lassen wird.“ Die meisten dieser Länder liegen in Osteuropa: Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Kasachstan, Kosovo, Kirgisistan, Moldau, Nordmazedonien und die Ukraine, außerdem Schweden in Nordeuropa.

Die Warnung des WHO-Regionaldirektors erschien in einer Situation, in der sich die Ausbreitung des Virus weltweit beschleunigt. Am Sonntag vor einer Woche betrug die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von vierundzwanzig Stunden 183.000 – ein nie dagewesener Wert. Mit mehr als 2,5 Millionen Fällen meldete Europa beinahe ein Viertel der weltweiten Gesamtzahl. Jeden Tag kommen europaweit fast 20.000 Fälle und 700 Todesopfer hinzu.

Der Grund für den erneuten Anstieg der Pandemie ist der Kurs der Regierung auf eine vollständige und uneingeschränkte Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit. Ohne Rücksicht auf die Gefahren für die arbeitende Bevölkerung sollen die Konzerne wieder Profit erwirtschaften.

In den westeuropäischen Staaten, wo vergleichsweise strikte Lockdown-Maßnahmen umgesetzt und mittlerweile wieder aufgehoben wurden, deutet vieles darauf hin, dass sich die Auswirkungen dieser Maßnahmen erschöpft haben und die Ausbreitung der Pandemie sich wieder beschleunigt.

Die Hotspots des Virus konzentrieren sich zunehmend auf die Wohngebiete der ärmeren Bevölkerung und der Arbeiterklasse, in denen viele Menschen ungeschützt in engen Verhältnissen leben.

Am Mittwoch und Donnerstag setzte die italienische Regierung Bereitschaftspolizisten und Soldaten gegen die Proteste von Einwohnern einer Sozialwohnsiedlung in der Küstenstadt Mondragone ein (im Süden des Landes, 60 Kilometer von Neapel entfernt). Die 700 verarmten Siedlungsbewohner – überwiegend Arbeitsmigranten aus Bulgarien – arbeiteten zu Armutslöhnen als Obstpflücker und waren unter Quarantäne gestellt worden, wodurch sie ihr gesamtes Einkommen verloren. Der italienische Corriere della Sera beschreibt den Wohnkomplex als „eines von tausenden Ghettos in Italien, in denen mehr oder weniger schreckliche Lebensbedingungen herrschen“. In der Siedlung wurden mindestens 45 Fälle registriert.

Ähnliche Verhältnisse herrschen auch in dem Hochhauskomplex in Göttingen, der letzte Woche von der Polizei unter Quarantäne gestellt wurde, nachdem dort 120 Fälle registriert wurden. In den Wohnungen leben ganze Familien mit mehreren Kindern auf 19 bis 37 Quadratmetern. Als die Bewohner unter diesen Bedingungen begannen, gegen die Quarantäne zu protestieren, setzte die Regierung die Bereitschaftspolizei gegen sie ein.

Der Reproduktionswert – d.h. die Zahl der Personen, die ein Träger des Virus im Durchschnitt ansteckt – ist in Deutschland in der letzten Woche auf 2,88 angestiegen, nachdem in einem Tönnies-Schlachthof in NRW eine riesige Clusterinfektion festgestellt worden war. Ein Reproduktionswert von über 1 bedeutet, dass sich das Virus exponentiell ausbreitet. Der sieben-Tage-Durchschnittswert – eine stabilere Kennzahl – stieg durch den registrierten Ausbruch von 1,55 auf 2,03.

Bei Tönnies wurden mindestens 1.558 Arbeiter positiv getestet – das sind mehr als ein Fünftel der Gesamtbelegschaft und mehr als zwei Drittel der Arbeiter im Zerteilungsbereich. Die Beschäftigten leben in überfüllten Unterkünften, die vom Konzern bereitgestellt werden.

In der portugiesischen Hauptstadt Lissabon wurden am Donnerstag 19 der 24 Stadtteile mindestens bis zum 14. Juli unter Lockdown gestellt. Das Gesundheitsministerium bestätigte am Donnerstag 311 neue Fälle, von denen fast 80 Prozent aus Lissabon stammen.

In sieben der dreizehn Regionen Frankreichs steigt der R-Wert an, d.h. die Verbreitungsrate beschleunigt sich. In den drei Départements Normandie, Auvergne-Rhones-Alpes und Occitanie liegt der R-Wert über 1. In der zentral gelegenen Region Ile-de-France, zu der auch Paris gehört, liegt er bei 0,94. Der landesweite Durchschnitt über den Zeitraum zwischen dem 6. und dem 12. Juni lag bei 0,93; Anfang Juni betrug er noch 0,88.

Im französischen Überseegebiet Französisch-Guyana, das an Brasilien grenzt, ist die Lage besonders ernst. Die Fallzahl je 100 000 Einwohner ist dort innerhalb von nur einer Woche von 88 auf 308 regelrecht explodiert.

Am Mittwoch verkündete die Macron-Regierung die Aufhebung aller noch verbliebenen Einschränkungen, die nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai für Arbeitgeber noch gegolten hatten. Arbeitsministerin Muriel Pénicaud veröffentlichte neue Richtlinien, die von den Arbeitgebern nicht länger verlangen, jedem Beschäftigten eine Fläche von vier Quadratmetern zu garantieren, damit die Distanz zwischen Kollegen gewahrt werden kann.

Die Vorgabe von vier Quadratmetern wird durch einen „Leitfaden“ ersetzt, der Arbeitern erklärt, wie sie untereinander einen Abstand von einem Meter einhalten können. Doch dies ist nicht verbindlich und damit letztlich wirkungslos. Die neuen Empfehlungen besagen, dass die Arbeitnehmer Masken tragen sollten, falls sich der Abstand von einem Meter nicht durchsetzen lässt, andernfalls müssen sie keine Masken tragen. In Frankreich sind mehr als 29.700 Menschen an dem Virus gestorben.

In Großbritannien, wo weiterhin täglich Hunderte an dem Virus sterben, kündigte Premierminister Boris Johnson für Dienstag die Aufhebung der restlichen Lockdown-Maßnahmen an. Genau wie in Frankreich wurden die Distanzierungsvorgaben durch die bedeutungslose „Empfehlung“ ersetzt, einen Meter Abstand zu wahren.

Indem die europäischen Regierungen Kurs auf eine vollständige Wiedereröffnung der Wirtschaft setzen, verfolgen sie stillschweigend die mörderische und pseudowissenschaftliche „Theorie“ der „Herdenimmunität“. Die Ausbreitung des Virus soll geduldet werden, damit dem Geldscheffeln der Wirtschafts- und Finanzelite nichts mehr im Weg steht.

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