Brasilien: Trotz mehr als zwei Millionen Coronavirus-Fällen wird der Kurs auf Wiedereröffnung beibehalten

Brasilien hat die Marke von zwei Millionen bestätigten Coronavirus-Fällen überschritten. Die Zahl der Corona-Todesfälle ist auf über 78.000 gestiegen, und das Land verzeichnete an mehreren Tagen die höchste Sterblichkeitsrate pro Tag weltweit.

Diese erschütternden Zahlen, die aufgrund der wenigen Tests die tatsächliche Lage mit Sicherheit beschönigen, sind ein Ergebnis der Öffnungspolitik, die von allen politischen Parteien der brasilianischen herrschenden Klasse unterstützt wird.

Von Anfang Mai bis zur dritten Juniwoche kehrten laut einer Umfrage des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) mehr als 5 Millionen der 16,6 Millionen Menschen, die aufgrund der Pandemie freigestellt waren, wieder an die Arbeit zurück.

Als Anfang Mai die Aussetzung aller Maßnahmen zur Eindämmung des Virus veranlasst wurde, gab es in Brasilien noch 100.000 bestätigte Fälle und etwas mehr als 6.000 Todesfälle. In den folgenden Monaten stiegen die Infektionen stark an. Mehr als 500.000 neue Fälle, d. h. 25 Prozent der Gesamtzahl, wurden allein im noch laufenden Monat Juli verzeichnet. In zehn brasilianischen Bundesstaaten hat die Zahl der Coronavirus-Todesfälle vergangene Woche stark zugenommen.

Friedhofsarbeiter tragen den Sarg von Bruno Correia, der laut seiner Familie an Covid-19 gestorben ist, zu seiner Grabstätte auf dem Friedhof Campo da Esperanca in Brasília, 17. Juli 2020 (AP Photo/Eraldo Peres)

Statt die katastrophalen Folgen seiner Politik anzuerkennen, setzt das brasilianische politische Establishment unter Führung des faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro seine Öffnungspolitik weiter um.

In São Paulo, dem am stärksten vom Virus betroffenen Bundesstaat, behauptete der rechte Gouverneur João Doria von der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei (PSDB), der Bundesstaat sei auf einem Infektions-„Plateau“ angelangt, und verfügte die umfangreichste Lockerung von sozialen Distanzierungsmaßnahmen seit Beginn der Pandemie. Es sei Zeit für eine „Rückkehr zur Normalität“.

Das „Plateau“ des Virus in São Paulo läuft in den Worten von Dimas Covas, Direktor des Forschungszentrums des Butantan-Instituts und Mitglied des staatlichen Coronavirus-Notstandszentrums, auf die „tägliche Explosion einer Boeing 747“ hinaus. Am vergangenen Donnerstag wurden in São Paulo 398 neue Todesfälle registriert. Covas erklärte: „Das kann bis ins nächste Jahr so weitergehen.“

Am selben Tag trat die Hauptstadt von Rio de Janeiro, dem am zweitschwersten betroffenen Bundestaat, in die „Phase 4“ der wirtschaftlichen Wiedereröffnung ein. Dabei wurde die Kapazität von Fitnesscentern und Einkaufszentren erweitert und der Mannschaftssport an den Stränden wieder aufgenommen. Am selben Tag registrierte der Staat 133 Todesfälle und mehr als 1.600 Neuinfektionen. Bürgermeister Marcelo Crivella von der rechtsgerichteten Republikanischen Partei plante auch die Wiedereröffnung der Kindergärten, trat aber angesichts des massiven Widerstands von Eltern und Erziehern den Rückzug an.

Bolsonaro sind die von den Gouverneuren und Bürgermeistern ergriffenen Maßnahmen jedoch zu zaghaft. Seit er vorletzte Woche positiv auf Covid-19 getestet wurde, drängt er darauf, die allgemeine Wiedereröffnung der Wirtschaft im ganzen Land zu beschleunigen.

Am selben Tag, an dem Brasilien die Zwei-Millionen-Marke an Infektionen überschritt, erklärte der Präsident in seinem Live-Stream: „Wir können die Wirtschaft nicht weiterhin abwürgen. Können Sie verstehen, dass die fehlenden Löhne, die fehlenden Arbeitsplätze töten, und zwar mehr töten als das Virus selbst? Ist es schwierig, das zu verstehen?"

Bolsonaro hält seine soziopathischen Positionen aus Sicht der Profitinteressen der herrschenden Klasse Brasiliens für voll und ganz gerechtfertigt. Seit den ersten Fällen von Covid-19 im Land hat er sich gegen jede Maßnahme gewandt, die die kapitalistische Produktion beeinträchtigen könnte, und den Arbeitern gedroht, dass sie verhungern, wenn sie der Arbeit fernbleiben.

Und so erklärte er weiter: „Jetzt registriert die Presse so langsam, wovon ich damals gesprochen habe. Aber wenn man das damals sagte, entsprach man nicht der Stimmung, es war nicht politisch korrekt. Allein gegen den Strom zu schwimmen, ist nicht einfach. Die Menschen sagten sich auch: Er ist allein, er ist der einzige Führer der Welt, der darüber spricht.“

Bolsonaro lobt das große Exportvolumen des Agrarsektors, das seiner Meinung nach „sehr gut für Brasilien ist. Es gab keine Arbeitslosigkeit, die Leute auf dem Land arbeiteten, im Unterschied zur Stadt, wo sich viele Gouverneure und Bürgermeister für den Lockdown entschieden haben.“

Die Aufrechterhaltung der Agrarwirtschaft inmitten der Pandemie, insbesondere in der fleischverarbeitenden Industrie, sorgte für ein beträchtliches Wachstum der Exporte. Sie stiegen in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 um 17,5 Prozent. Gleichzeitig war diese Branche die Hauptquelle für die Verbreitung des Virus im ganzen Land.

Ganze Städte wurden durch die Ausbrüche in den Fleischverarbeitungsbetrieben kontaminiert. Eine im Juni durchgeführte Studie in Taquari, einer Fleischindustrie-Stadt im Bundesstaat Rio Grande do Sul, zeigte, dass die Kontaminationsrate dort 14-mal höher war als im übrigen Bundesstaat.

Seitdem haben die Infektionen unter Arbeitern in der Fleischverarbeitung in Rio Grande do Sul um 40 Prozent zugenommen und über 6.000 bestätigte Fälle erreicht. In den Bundesstaaten Santa Catarina und Paraná, ebenfalls im Süden des Landes, gibt es 3.132 bzw. 3.246 infizierte Arbeiter in den Fleischverarbeitungsbetrieben. In den letzten zwei Wochen stieg die durchschnittliche Zahl der Todesfälle in Rio Grande do Sul um 98,5 Prozent, in Paraná um 95,8 Prozent und in Santa Catarina um 47,7 Prozent.

Die tatsächlichen Zahlen sind sicherlich viel höher. Laut der Staatsanwältin für Arbeitsrecht von Rio Grande do Sul, Priscila Schvarcz, werden die Infektionen von den Fleischverarbeitungsunternehmen vertuscht. In einem Interview mit Folha de São Paulosagte Schvarcz: „Wenn sie von 20 Fällen sprechen, sind es in Wirklichkeit 200 bis 300. Es sind mindestens zehnmal so viele, wie sie zunächst sagen.“

Schvarcz prangerte insbesondere die Weigerung des in Brasilien ansässigen transnationalen Lebensmittelkonzerns JBS an, eine Vereinbarung über Regeln in seinen Betrieben zu unterzeichnen, z.B. die Verwendung von Masken oder Transportprotokolle für die Beschäftigten.

Für solche Unternehmen gelten so gut wie keine Einschränkungen des normalen Ablaufs ihrer Geschäftstätigkeiten, obwohl sie für die Arbeitnehmer und die öffentliche Gesundheit tödliche Risiken bergen.

In Paraná zog die Regierung von Ratinho Júnior von der Sozialdemokratischen Partei (PSD) vergangene Woche eine „strengere“ Regelung für Fleischverarbeitungsbetriebe zurück, die einen Abstand von ca. 2 m zwischen den Arbeitern und eine bezahlte Freistellung für „Gefährdete“ vorgesehen hatte. Bei einem Treffen zwischen Regierung und Führungskräften von JBS wurden kurz zuvor eine Investition von 800 Millionen Real (ca. 148 Millionen US-Dollar) in diesem Bundesstaat und massive Steuererleichterungen für das Unternehmen vereinbart.

Allen Bemühungen von Regierungen und Unternehmen zum Trotz kann die katastrophale Situation in den Fleischverarbeitungsbetrieben nicht vollständig vertuscht werden. China, dessen wirtschaftlicher Aufschwung die Aussichten auf eine hohe Rentabilität der fleischverarbeitenden Unternehmen verbessert hat, lehnt die Produkte einer Reihe brasilianischer Fleischverarbeitungsbetriebe mittlerweile ab, weil das Risiko einer Coronavirus-Kontamination zu hoch sei.

Dem hielt Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina entgegen, dass „es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, dass Covid-19 durch Lebensmittel übertragen werden kann“. Sie behauptete auch, dass die Fleischverarbeitungsbetriebe „alle Regeln einhalten“. Das Problem sei, dass „sie eine Menge Leute testen... Wenn sie sie nicht testen würden, gäbe es vielleicht nicht all diese negativen Auswirkungen auf diesen Sektor.“

Die Äußerungen der Ministerin unterstreichen nicht nur ihre Bereitschaft, alles zu sagen, was den Wirtschaftsinteressen dient, sondern auch den wahnwitzigen Charakter des Profitprinzips, wie es von Bolsonaro hochgehalten wird.

Ungeachtet gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten ist kein kapitalistischer Politiker in der Lage, einen alternativen Weg aufzuzeigen. Die brasilianischen Gewerkschaften, die so genannte „strategische" nationale Interessen verteidigen, demonstrierten letzte Woche vor dem Wirtschaftsministerium für eine „Agenda zur wirtschaftlichen Erholung“, schlecht getarnt mit leeren Phrasen für mehr Sicherheit.

Eine wirkliche Erholung der Wirtschaft kann nur unter der Kontrolle der Arbeiter stattfinden. Notwendig ist der Aufbau von Sicherheitskomitees, die sichere Arbeitsabläufe in den Betrieben und soziale Distanzierung in den Wohngebieten gewährleisten und demokratisch festlegen, welche Produktion unbedingt erforderlich ist und wohin die Produkte gehen sollen.

Dieser Kampf ist seinem Wesen nach international und erfordert die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse weltweit für einen direkten Kampf gegen die transnationalen Konzerne, die Finanzoligarchie und ihre Regierungen.

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