US-vermittelter Waffenstillstand gescheitert: Immer mehr Todesopfer im armenisch-aserbaidschanischen Krieg

Die Zahl der Todesopfer im Krieg zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan um die Kontrolle über die umstrittene Region Bergkarabach steigt rapide. Der Konflikt, der im Vorfeld der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991 ausbrach, führte von 1988 bis 1994 zu einem Krieg mit 30.000 Todesopfern, und eine Million Menschen mussten fliehen.

Seit Beginn des aktuellen Konflikts am 27. September wurden bereits Tausende getötet, da beide Seiten schwere Waffen gegen die Zivilbevölkerung der jeweils anderen Seite einsetzen. Am 10. und 18. Oktober handelte Moskau zweimal Waffenruhen zwischen Armenien und Aserbaidschan aus, um die Kämpfe zu beenden. Sie wurden jedoch bereits wenige Stunden nach ihrem Inkrafttreten gebrochen. In dieser Woche versuchte auch Washington, einen Waffenstillstand auszuhandeln, der jedoch mit dem Eindringen aserbaidschanischer Truppen in von Armenien kontrolliertes Gebiet scheiterte.

US-Regierungsvertreter hatten versucht, ein Abkommen auszuhandeln, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin dazu aufgerufen hatte. Putin hatte letzte Woche in einem Fernsehauftritt erklärt: „Es gibt auf beiden Seiten viele Todesopfer, mehr als 2.000 auf jeder Seite.“ Er erklärte weiter, die Zahl der Toten nähere sich der Marke von 5.000 und liege damit deutlich höher als beide Seiten öffentlich zugeben. Weiter erklärte er, er „telefoniere mehrmals täglich“ mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew. Er rief Washington auf, „mit Moskau zusammenzuarbeiten“, um die Kämpfe im Kaukasus zu beenden.

Der armenische Außenminister Zohrab Mnatsakanian und sein aserbaidschanischer Amtskollege Jeyhun Bajramow reisten im Oktober nach Washington und trafen sich mit dem stellvertretenden US-Außenminister Stephen E. Biegun. Einen Tag später veröffentlichte das Außenministerium eine Erklärung, in der es die „intensiven Verhandlungen“ lobte und eine „humanitäre Waffenruhe für den 26. Oktober 2020 ab 8 Uhr morgens Ortszeit“ verkündete.

Aserbaidschanische Soldaten feuern mit einem Granatwerfer an der Kontaktlinie der selbst ernannten Republik Bergkarabach. (Filmmaterial vom 27. September, Aserbaidschanisches Verteidigungsministerium via AP).

US-Präsident Donald Trump beglückwünschte die Vertreter seiner Regierung per Twitter zu dem Abkommen: „Viele Leben werden gerettet werden. Bin stolz darauf, dass mein Team [Außenminister Mike Pompeo] und Steve Biegun und [der Nationale Sicherheitsrat] den Deal ausgehandelt haben!“

Aserbaidschanische Regierungsvertreter behaupteten jedoch, armenische Streitkräfte hätten den Waffenstillstand nur wenige Minuten nach Inkrafttreten „grob verletzt“, indem sie die Stadt Terter beschossen. Armenische Regierungsvertreter dementierten dies und behaupteten, Aserbaidschan habe nach Inkrafttreten des Waffenstillstands mit Artillerie auf armenische Truppen geschossen.

Die Zahl der tödlichen Angriffe auf die Zivilbevölkerung nimmt zu. Am Mittwoch behauptete die aserbaidschanische Regierung, armenische Streitkräfte hätten die aserbaidschanische Stadt Barda mit Smertsch-Raketen beschossen, die mit Streubomben-Sprengköpfen bestückt gewesen seien. Berichten zufolge traf der Angriff ein dicht besiedeltes ziviles Stadtviertel, tötete mindestens 25 Menschen und verwundete Dutzende weitere.

Armenische Regierungsvertreter wiederum erklärten, aserbaidschanische Streitkräfte hätten fünf Raketen auf Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach, abgefeuert, von denen eine die städtische Entbindungsklinik zerstört haben soll. Das armenische Außenministerium erklärte: „Dieses Kriegsverbrechen ist ein grober Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und zeigt eindeutig, dass Aserbaidschan in Arzach die Bevölkerung angreift – Kleinkinder, Mütter und Alte.“

Aserbaidschanische Truppen rücken über die Enklave Bergkarabach auf den Latschin-Pass vor, der die Enklave mit Armenien verbindet. Der Abstand zwischen ihren Truppen und dem Pass ist von über 60 auf 30 Kilometer gesunken, sodass die Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach in Reichweite der aserbaidschanischen schweren Artillerie liegt. Die Bangkok Post schrieb in einem Artikel, aserbaidschanische Truppen hätten den Pass bereits erobert. Das würde bedeuten, dass die Hälfte der 146.000 Zivilisten, die noch nicht geflohen ist, in der Falle sitzt und weitgehend von der Versorgung von außen abgeschnitten ist.

Laut mehreren Berichten hat Aserbaidschan durch Drohnen, die es von der Türkei und Israel gekauft hat, einen entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber den armenischen Streitkräften. Hikmet Hajijew, ein Vertreter der aserbaidschanischen Regierung, erklärte gegenüber der Financial Times: „Wir erleben hier, dass Armenien jahrelang versucht hat, in gewisser Weise seine Unbesiegbarkeit zu propagieren... aber sie haben sich zu sehr auf veraltete Militärdoktrinen und Denkweisen verlassen: auf Panzer, schwere Artillerie und Befestigungen. Das erinnerte uns einfach nur an den Zweiten Weltkrieg. Stattdessen haben wir auf mobile Kräfte, Drohnentechnologie und eine moderne Herangehensweise gesetzt.“

Daneben zitierte die Financial TimesJack Watling von der Denkfabrik Royal United Services Institute: „Die Armenier wurden kalt erwischt. Eine Seite setzt moderne Waffen ein, die andere Kriegsgerät aus den 1970ern und 1980ern.“ Watling fügte hinzu, angesichts der Fähigkeit der aserbaidschanischen Streitkräfte beim Einsatz von Drohnen gegen Armenien sei es „offensichtlich, dass sie in erheblichem Umfang Beratung von der Türkei erhalten haben“.

In diesem Krieg treffen die nationalistischen Konflikte, die von der stalinistischen Bürokratie der Sowjetunion gefördert wurden, auf die explosiven geopolitischen Konflikte, die durch drei Jahrzehnte imperialistischer Kriege seit der Auflösung der Sowjetunion ausgelöst wurden. Während die Türkei die ethnisch-türkischen Aserbaidschaner aggressiv unterstützt, haben Russland und der Iran Sympathien für Armenien bekundet, während sie gleichzeitig versuchen, eine gewisse Neutralität zu wahren.

Die Spannungen verschärfen sich zwischen diesen regionalen Großmächten, die bereits wegen des seit zehn Jahren andauernden Nato-Krieges in Syrien in erbittertem Streit liegen. Während die türkische Regierung die von der Nato geförderten sunnitischen Milizen im Kampf für den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt, haben Russland und der Iran Truppen nach Syrien entsandt, um das Assad-Regime gegen die NATO-Mächte zu unterstützen. Der seit Langem bestehende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan über Bergkarabach heizt diese Spannungen weiter an, zumal es innerhalb Syriens bereits zu direkten Zusammenstößen türkischer und russischer Streitkräfte gekommen ist.

Dass Aserbaidschan in diesem Konflikt immer stärker die Oberhand gewinnt, verstärkt den Druck auf die russische und iranische Regierung. Nachdem aserbaidschanische und armenische Geschosse und Raketen auf iranischem Staatsgebiet niedergegangen sind, verstärkte die iranische Regierung am Dienstag ihre Luftabwehr an den Grenzen zu beiden Ländern. Am Mittwoch wurden Bodentruppen an die Grenze entsandt, während der Regierungsvertreter Abbas Araghchi zu einer Reise aufbrach, um sich mit Vertretern Aserbaidschans, Armeniens und Russlands zu treffen und einen Waffenstillstand auszuhandeln.

Zeitgleich schickte Moskau, das in Armenien bei Gjumri einen Militärstützpunkt unterhält, Grenztruppen an die armenische Grenze zu Bergkarabach. Dieser Schritt soll offenbar aserbaidschanische Streitkräfte daran hindern, nach der Eroberung von Bergkarabach in Armenien einzumarschieren.

Moskau und Teheran sind zunehmend beunruhigt über die zahlreichen Berichte, laut denen syrische Islamistenmilizen und private türkische Sicherheitsfirmen Islamisten nach Aserbaidschan schicken, um gegen armenische Streitkräfte zu kämpfen. Unbestätigten Berichten zufolge hat auch die al-Qaida-nahe Islamische Turkestan-Partei (ITP), die sich aus aus der muslimischen Minderheit der Uiguren im chinesischen Xinjiang rekrutiert, Kämpfer nach Aserbaidschan entsandt. Diese Truppenbewegungen werfen insgesamt die Frage auf, ob von der CIA unterstützte islamistische Milizen auch zu dem Zweck entsandt werden könnten, um religiöse oder ethnische Konflikt in Russland, dem Iran oder vielleicht auch China auszunutzen.

Die Konflikte, die dem aserbaidschanisch-armenischen Krieg zugrunde liegen, werden aufgrund der Ungewissheit in der US-Präsidentschaftswahl noch zusätzlich verschärft, da es fraglich bleibt, welche Außenpolitik der US-Imperialismus nach der Wahl verfolgen wird und ob er den Iran angreifen wird. Die Nachrichtenseite AI Monitor schrieb: „Aserbaidschan wird von Israel und der Türkei unterstützt, was den Iran beunruhigt. Deshalb steht der Iran in zunehmendem Maße unter Druck, die Kämpfe so schnell wie möglich zu beenden. Sollte ein größerer Krieg ausbrechen, würden die beiden Länder noch mehr Einfluss an seiner Grenze gewinnen.“

Diese Konflikte verdeutlichen die außergewöhnliche Gefahr einer Eskalation, die vom Krieg im Kaukasus ausgeht, und die Notwendigkeit, Arbeiter und Jugendliche weltweit in einer sozialistischen Antikriegsbewegung gegen die Gefahr großer regionaler oder globaler Kriege zu mobilisieren, die sich an den Konflikten in der Region entzünden.

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