Russland und die Türkei handeln Waffenruhe im armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Bergkarabach aus

Am 10. November trat im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Region Bergkarabach, der seit sechs Wochen andauert, ein mit Hilfe von Moskau und Ankara ausgehandelter Waffenstillstand in Kraft. Vertreter Russlands, Frankreichs und der USA hatten bereits zuvor Waffenruhen ausgehandelt, die jedoch sofort gescheitert waren. Dieser Waffenstillstand hat bisher gehalten, offenbar hauptsächlich deshalb, weil er von der aserbaidschanischen Regierung und ihrem wichtigsten internationalen Verbündeten, der Türkei, unterstützt wird.

Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken haben mehrfach Bruderkriege um die Region Bergkarabach geführt. Der erste begann 1988 im Vorfeld der Auflösung der Sowjetunion durch das stalinistische Regime (1991) und endete 1994 mit der Besetzung von Bergkarabach durch Armenien. Der aktuelle Waffenstillstand, den russische, armenische und aserbaidschanische Diplomaten ausgehandelt haben, macht jedoch beträchtliche Zugeständnisse an aserbaidschanische Gebietsansprüche und überlässt Aserbaidschan einen Großteil von Bergkarabach.

Aserbaidschanische Soldaten feuern mit einem Granatwerfer an der Kontaktlinie der Republik Bergkarabach. (Filmmaterial vom 27. September, aserbaidschanisches Verteidigungsministerium via AP).

In den letzten Wochen hatte Aserbaidschan mit türkischen und israelischen Drohnen durch verheerende Luftangriffe aus großer Höhe bedeutende Geländegewinne erzielt. Mit Taktiken, die auf dem Kampf gegen syrische und russische Streitkräfte in dem seit fast zehn Jahren andauernden Nato-Stellvertreterkrieg in Syrien basierten, konnten sie die veralteten armenischen Luftabwehrsysteme umgehen und Raketenbatterien, Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge zerstören. Nachdem aserbaidschanische Truppen am letzten Wochenende die Eroberung von Schuscha, der zweitgrößten Stadt von Bergkarabach, gemeldet hatten, stimmte Armenien dem Waffenstillstand zu.

Gemäß dem Waffenstillstand sollen armenische und aserbaidschanische Truppen vorerst in ihren derzeitigen Stellungen bleiben. Sobald eine 1.960-köpfige russische Friedenstruppe mit gepanzerten Fahrzeugen und Kriegsgerät entlang der Kontaktlinie stationiert ist, sollen sich die armenischen Truppen jedoch zurückziehen. Armenien wird die Teile von Bergkarabach behalten, die es derzeit besetzt hält, darunter auch die Hauptstadt Stepanakert. Allerdings muss es die Distrikte Agdam und Kalbajar, die es im Krieg von 1988 bis 1994 erobert hat, bis zum 20. November an Aserbaidschan zurückgeben.

Das Abkommen sieht obendrein die Sicherung schwieriger Landverbindungen durch die Bergregion vor. Aserbaidschan muss die Sicherheit des Latschin-Korridors garantieren, der Stepanakert mit Schuscha und Armenien verbindet. Zu diesem Zweck sollen dort russische Friedenstruppen patrouillieren. Armenien wird die Sicherheit der Landverbindungen von Aserbaidschan über Armenien in die Autonome Republik Nachitschewan gewährleisten, eine von Aserbaidschan verwaltete Enklave, die durch armenisches Staatsgebiet von Aserbaidschan getrennt ist.

Selbst wenn dieser brüchige Waffenstillstand nicht scheitert, wird er den Konflikt um Bergkarabach nicht lösen. Die kapitalistischen Regimes der Region können ihn seit dreißig Jahren nicht lösen. Die Waffenruhe wird die aggressiveren nationalistischen Elemente auf beiden Seiten ermutigen, Anspruch auf die gesamte Enklave zu erheben. Da die armenischen Behörden weniger als zehn Tage Zeit haben, um Regionen zu räumen, die sie seit fast einem Vierteljahrhundert kontrollieren, wird der Waffenstillstand vermutlich auch zu neuen Vertreibungen von Teilen der Bevölkerung führen.

Im jüngsten Krieg gab es erneut einen massiven Verlust an Menschenleben. Laut russischen Regierungsvertretern, die sich auf privat übermittelte Schätzungen aserbaidschanischer und armenischer Regierungsvertreter berufen, gab es vom 27. September bis zum 22. Oktober mindestens 5.000 Todesopfer. Die offiziellen Gesamtzahlen für aserbaidschanische und armenische Todesopfer wurden jedoch noch nicht veröffentlicht. Zudem wurden 90.000 Armenier und 40.000 Aserbaidschaner durch den Beschuss beider Seiten zur Flucht gezwungen.

Dennoch begrüßten Regierungsvertreter aus der ganzen Region das Abkommen, das laut offiziellen türkischen Quellen am letzten Samstag zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ausgehandelt wurde. Kreml-Pressesprecher Dmitri Peskow lobte die „nicht unerheblichen Anstrengungen“, die dafür unternommen wurden.

Das Außenministerium des Iran, der – genau wie Russland – Armenien traditionell unterstützt hat, erklärte sich „zufrieden über die Unterzeichnung eines Abkommens“ und äußerte die „Hoffnung, dass das Abkommen zu einer endgültigen Regelung über einen langfristigen Frieden im Kaukasus führen wird“.

Nachdem der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew den Waffenstillstand als „historisch bedeutend“ und als „Kapitulation“ Armeniens bezeichnet hatte, erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar am Mittwoch bei einem Besuch in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku: „Die derzeitige Situation ist für uns sehr befriedigend. Diese Operation ist ein Erwachen. ... Die aserbaidschanische Armee hat der ganzen Welt ihre Stärke gezeigt.“

In Armenien, wo die Regierung die zunehmenden militärischen Rückschläge weitgehend verheimlicht hatte, stürmten Demonstranten das Parlamentsgebäude und verprügelten Parlamentssprecher Ararat Mirsojan.

Die Waffenruhe ist eine demütigende Niederlage für den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan. Dieser war im Jahr 2018 nach Massenprotesten gegen seinen Amtsvorgänger Sersch Sargsjan gewählt worden und hatte ein chauvinistisches Programm vertreten, in dessen Rahmen er u.a. die volle internationale Anerkennung der armenischen Hoheit über Bergkarabach gefordert hatte.

Auf Facebook bezeichnete Paschinjan den Waffenstillstand, der Aserbaidschan die Kontrolle über einen Großteil von Karabach gibt, als „unaussprechlich schmerzhaft. ... Die Entscheidung basiert auf tiefgehenden Analysen der Gefechtssituation und Diskussionen mit den besten Experten in diesem Bereich. ... Das ist kein Sieg, aber es gibt keine Niederlage, solange man sich selbst nicht als besiegt betrachtet. Wir werden uns nie als besiegt betrachten, und deshalb soll dies der Beginn einer neuen Ära unserer nationalen Einheit und Wiedergeburt sein.“

Paschinjan musste sich verstecken, als Demonstranten seinen offiziellen Amtssitz stürmten, das Schild mit seinem Namen von seiner Bürotür rissen und skandierten: „Nikol hat uns verraten.“

Reporter von Middle East Eye berichteten von einer Demonstration in Jerewan, bei der eine Frau der Bereitschaftspolizei zurief: „Ich habe alle meine Angehörigen verloren. Ich habe mein Haus verloren. Was werden Sie dagegen tun?“ Ein armenischer ehemaliger Bewohner von Bergkarabach, der im Krieg von 1988 bis 1994 gekämpft hatte und im aktuellen Krieg nach Jerewan fliehen musste, begrüßte die Waffenruhe: „Wenn wir weitergekämpft hätten, dann hätten wir nur verloren. Es wären noch mehr Menschen getötet worden.“

Die Auflösung der Sowjetunion durch den Stalinismus hatte katastrophale geopolitische Konsequenzen, die im Nahen Osten und Zentralasien blutigen ethnischen Konflikten und imperialistischen Kriegen den Boden bereiteten.

Der Waffenstillstand ist immer noch sehr brüchig. Russland und die Türkei führen Stellvertreterkriege und unterstützen rivalisierende Seiten in den Bürgerkriegen, die durch die Nato-Interventionen in Libyen und Syrien ausgelöst wurden. Am 9. November haben aserbaidschanische Truppen einen russischen Hubschrauber vom Typ Mi-24 abgeschossen, was Baku später als „tragischen Fehler“ bezeichnete. Der Kreml scheint außerdem den Behauptungen der Türkei zu widersprechen, sie würde ebenfalls Friedenstruppen stationieren, um den Waffenstillstand durchzusetzen. Stattdessen erklärte der Kreml, es würden nur russische Friedenstruppen zum Einsatz kommen.

Die wohl größte Bedrohung geht von der explosiven politischen Krise in Washington nach den Präsidentschaftswahlen und der Gefahr neuer US-Kriege in der Region aus. Während Trump einen Putsch vorbereitet, um trotz des Wahlsiegs des Demokraten Joe Biden im Amt zu bleiben, haben Trump wie auch Biden eine höchst aggressive Politik signalisiert. Trump stand letztes Jahr unmittelbar davor, einen Krieg gegen den Iran zu beginnen – die Demokraten hingegen haben unablässig einen aggressiven Kurs gegen Russland gefordert und Trump als russischen Agenten bezeichnet.

Bezeichnenderweise haben sowohl Russland als auch der Iran vor syrischen Islamistenmilizen gewarnt, die von der CIA unterstützt werden und mit stillschweigender Unterstützung der Türkei aus dem Syrienkrieg nach Aserbaidschan gebracht wurden. Die staatliche iranische Nachrichtenagentur IRNA warnte: „Die entschlossene Reaktion der Islamischen Republik auf die Terroristen – sollten sie die iranische Grenze überschreiten – ist eine kalkulierte, entschlossene und strategische Position. ... Wenn gewisse Leute nach der Vertreibung der [al-Qaida-nahen Milizen] aus Syrien und dem Irak bei deren Verlegung an die iranischen Grenzen mitgeholfen haben, so haben sie sicherlich einen schweren Fehler gemacht.“

Russland, dessen vom Krieg erschütterte Regionen Tschetschenien und Dagestan auch an Aserbaidschan angrenzen, sprach ähnliche Warnungen aus. Außenminister Sergei Lawrow rief dazu auf, „die Verlegung von Söldnern zu verhindern, deren Zahl in der Konfliktzone laut verfügbaren Daten bereits fast 2.000 beträgt. Insbesondere hat Putin das Thema während eines Telefonats mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan am 27. Oktober und während regelmäßiger Unterredungen mit den Regierungschefs von Aserbaidschan und Armenien erwähnt.“

In der postsowjetischen kapitalistischen Oligarchie Russlands nimmt die Besorgnis zu, dass dieser Waffenstillstand möglicherweise nicht das Ende eines regionalen Kriegs im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist, sondern nur der Anfang. Die Wirtschaftszeitung Wedomosti brachte dazu am Mittwoch einen Artikel mit dem Titel „Wie Russland den Zweiten Bergkarabach-Krieg verloren hat“.

Der Artikel warnt davor, dass Ankaras erfolgreiche Unterstützung der türkisch-sprachigen Aserbaidschaner „pan-türkische Pläne“ ermutigen könnte. Weiter heißt es: „Auch das Kräftegleichgewicht in den türkisch-sprachigen Republiken Zentralasiens wird sich radikal verändern... Zweifellos werden auch türkisch-nationalistische und separatistische Gruppen in Russland entschlossener auftreten. ... Wir müssen angesichts der Tatsache, wie diese Operation durchgeführt wurde, auch davon ausgehen, dass sie nicht von den Aserbaidschanern oder den Türken geplant wurde.“

Der Artikel vonWedomosti weist darauf hin, dass das Nato-gestützte Regime in der Ukraine jetzt türkische Drohnen für seinen Konflikt mit Russland im Ostteil des Landes kauft, und forderte eine russische Aufrüstung mit „Angriffsdrohnen und Loitering Weapons“ (Lenkwaffen, die ohne Ziel längere Zeit in der Luft bleiben können, bis sie ein Ziel zugewiesen bekommen). Weiter hieß es: „Die Katastrophe in Armenien von 2020 muss als Warnung gelten, damit wir nicht irgendwann eine ähnliche Lektion erteilt bekommen.“

Diese Äußerungen verdeutlichen auf eindringliche Weise, wie notwendig der Kampf gegen ethnischen Nationalismus und seine Unterstützung durch stalinistische Kräfte ist und wie dringlich der Aufbau einer internationalen und sozialistischen – d.h. trotzkistischen – Antikriegsbewegung gegen den Imperialismus unter Arbeitern in der Region und der ganzen Welt ist.

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