Indien: Dutzende Millionen Arbeiter beteiligen sich an landesweitem Generalstreik

Am Donnerstag beteiligten sich Dutzende Millionen Arbeiter in ganz Indien an einem eintägigen Generalstreik gegen die „investorenfreundliche“ Politik von Narendra Modis amtierender Bharatiya Janata Party (BJP). Diese Politik bedeutet für die Arbeiter Austerität, Privatisierung, Arbeitsverhältnisse ohne Kündigungsschutz sowie die Aushöhlung der Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften und aller sonstigen Einschränkungen der kapitalistischen Ausbeutung.

Der Streik wurde zudem angetrieben durch die Wut der Massen über die stümperhafte Reaktion der Regierung auf die Corona-Pandemie. Genau wie die Regierungen im Rest der Welt hat auch für Modi und die BJP der Schutz der Unternehmensprofite und der Vermögen der Millionäre und Multimillionäre Vorrang vor dem Schutz des Lebens und der Lebensgrundlagen der Arbeiter.

Die Folge war eine medizinische und sozioökonomische Katastrophe.

Laut offiziellen Zahlen liegt Indien mit mehr als 9,2 Millionen Infizierten und fast 135.000 Toten in beiden Bereichen an weltweit zweiter Stelle. Diese Zahlen bilden die Auswirkungen der Pandemie jedoch zweifellos kaum ansatzweise ab. Die Testrate pro Kopf gehört zu den niedrigsten unter den stark betroffenen Ländern. Covid-19 breitet sich in den Slums von Delhi, Mumbai und anderen Ballungsgebieten wie auch in ländlichen Gegenden aus, in denen es kaum oder gar kein öffentliches Gesundheitswesen gibt. Selbst in normalen Zeiten werden nur 86 Prozent aller Todesfälle von den Behörden registriert und von diesen erhalten nur 22 Prozent einen ärztlich beglaubigten Totenschein.

Hunderte Millionen haben ihr Einkommen verloren – und das in einem Land, in dem bereits vor der Pandemie 50 Prozent aller Kinder unterernährt waren. Indiens Wirtschaft ist im Quartal April-Juni um 23,9 Prozent eingebrochen und wird im Haushaltsjahr 2020-21 vermutlich um etwa zehn Prozent schrumpfen. Viele Millionen haben ihre Arbeitsplätze dauerhaft verloren oder durch verkürzte Arbeitszeiten an Lohn eingebüßt. Der IWF berichtete letzten Monat, dass in Indien bis Jahresende durch die Pandemie weitere 40 Millionen in „extreme Armut“ rutschen würden, d. h. von weniger als 1,90 Dollar am Tag überleben müssen.

Abgesehen von der Gewerkschaft Bharatiya Mazadoor Sangh, die der BJP nahesteht, haben alle großen Gewerkschaftsbünde des Landes sowie viele unabhängige Gewerkschaften den landesweiten Proteststreik unterstützt. Sie rufen die rechtsextreme, hindu-chauvinistische BJP-Regierung dazu auf, ihr Privatisierungsprogramm einzustellen und die regressiven „Reformen“ des Arbeitsrechts und der Landwirtschaft zurückzunehmen, die sie vor kurzem durch das Parlament gepeitscht hat. Weiter fordern sie Notfallhilfen für die ärmsten Teile der Bevölkerung in Form einer einmaligen Zahlung von 7.500 Rupien (etwa 100 Dollar) an alle Familien, die keine Steuern zahlen, und zehn Kilogramm Nahrungsgetreide pro Monat für die bedürftigsten Familien.

Zu den Streikteilnehmern gehörten Beschäftigte der Zentral- und Bundesstaatsregierungen, der staatlichen Verkehrsbetriebe, der Kohlegruben, der Energiebranche, des Bankwesens und der zahlreichen Staatsbetriebe, denen die Privatisierung droht – darunter der Flugzeugbauer Hindustan Aeronautics und der Telekommunikationskonzern BSNL. Darüber hinaus nahmen auch viele Arbeiter aus dem „informellen Sektor“, wie Bauarbeiter oder Motor-Rikschafahrer, die so gut wie keine Rechte haben, am Protest teil.

Kleinbauern machen seit Wochen gegen die „Landwirtschaftsreform“ der BJP mobil, die auf ihre Kosten die Agrarkonzerne stärken soll. Auch sie haben für Donnerstag eine Protestveranstaltung in der Hauptstadt Delhi organisiert, die auf den landesweiten Proteststreik abgestimmt ist. Am Mittwoch setzte die Polizei im Nachbarstaat Haryana Wasserwerfer gegen Bauern ein, die auf dem Weg nach Delhi waren. Die Behörden dort benutzten die Gefahr durch Covid-19 als Vorwand, um die Proteste für illegal zu erklären.

Acht Monate nach dem Ausbruch der weltweiten Pandemie – der nur wegen der Untätigkeit der herrschenden Eliten und ihrer Konzentration auf Profite und Aktienkurse möglich war –bricht vor allem in der Arbeiterklasse sozialer Widerstand aus.

In Griechenland fand am Donnerstag ebenfalls ein Streik des öffentlichen Dienstes statt, zu dem die Gewerkschaft Adedy aufgerufen hat, weil Arbeiter darüber empört sind, dass sie nicht ausreichend gegen Covid-19 geschützt sind. In der Hauptstadt Athen streikten die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe auch gegen die Pläne der rechten Regierung, den Achtstundentag abzuschaffen und neue Einschränkungen des Streikrechts einzuführen.

In Südkorea streikten am Mittwoch fast 200.000 Arbeiter gegen ein arbeiterfeindliches Gesetz, das Streikenden die Besetzung bestimmter Einrichtungen und Arbeitsplätze verbietet. Gleichzeitig organisierten bei Kia Motors 30.000 Arbeiter einen Teilstreik für höhere Löhne und gegen Arbeitsplatzabbau.

Viele der Gewerkschaftsbünde, die zu dem Proteststreik am Donnerstag aufgerufen hatten, sind direkt mit den Oppositionsparteien verbündet, die eine wichtige Rolle bei der Einführung marktwirtschaftlicher Politik und kapitalistischer Umstrukturierung gespielt haben. Das gilt sowohl für den Indian National Trade Union Congress (INTUC), der der Kongresspartei nahesteht, für die Labour Progressive Federation (LPF), die die Gewerkschaft der Tamil-Nadu-regionalistischen DMK ist, sowie für das Centre of the Indian Trade Unions (CITU) und den All-India Trade Union Congress (AITIC), die gewerkschaftlichen Flügel der stalinistischen Parlamentsparteien – der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) (KPI-M) und der Kommunistischen Partei Indiens (KPI)

Bei den Gewerkschaftsbünden und Gewerkschaften, die angeblich politisch „unabhängig“ sind, sieht es nicht anders aus. Auch sie haben den Klassenkampf systematisch unterdrückt.

Für die Gewerkschaften war der Proteststreik ein Manöver, um die wachsende Wut der Arbeiterklasse vor den Karren der Oppositionsparteien zu spannen, vor allem der Kongresspartei. Diese war bis vor kurzem die bevorzugte Regierungspartei der indischen Bourgeoisie und richtet jetzt sinnlose Appelle an die BJP, ihre „arbeiterfeindliche, menschenfeindliche und antinationale“ Politik aufzugeben.

Die westlichen Medien hatten jahrelang über den Aufstieg Indiens berichtet, dabei aber die grundlegende Wahrheit verheimlicht, dass die kapitalistische Expansion Indiens in den letzten drei Jahrzehnten auf die extreme Ausbeutung der Arbeiterklasse zurückging. Der Löwenanteil des Reichtums ging an das indische und globale Großkapital, sodass Indien weltweit zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit zählt. Das reichste eine Prozent Indiens besitzt viermal so viel Reichtum wie die ärmsten 70 Prozent – d. h. mehr als 950 Millionen Menschen.

Die Pandemie hat die Brutalität des indischen Kapitalismus offengelegt.

In den ersten dreieinhalb Monaten des Jahres ignorierte die BJP-Regierung die Gefahr durch die Corona-Pandemie völlig. Am 24. März verhängte sie einen schlecht vorbereiteten und schlecht umgesetzten Lockdown, der vier Stunden später in Kraft trat. Er konnte das Virus jedoch nicht aufhalten, da die Regierung nicht gleichzeitig die notwendigen Gesundheitsmaßnahmen wie Massentests und Kontaktverfolgung umsetzte. Zudem hatte er schreckliche gesellschaftliche Folgen – beispielhaft dafür ist das Schicksal der Wanderarbeiter – weil die Behörden hunderte Millionen Menschen, die über Nacht ihre Arbeit und ihr Einkommen verloren hatten, im Wesentlichen ihrem Schicksal überließ.

Ab Ende April drängte die BJP-Regierung auf eine Rückkehr an die Arbeit und nutzte dabei das soziale Elend aus, das sie selbst verursacht hatte. Die Bundesstaatsregierungen, auch die von Oppositionsparteien gestellten, unterstützten diesen Kurs. Das Ergebnis war, dass sich die Pandemie wie ein Lauffeuer ausbreitete, vor allem nach der Aufhebung fast aller Lockdown-Maßnahmen Ende Mai.

Diese Politik der „Herdenimmunität“ war die treibende Kraft eines verschärften Angriffs auf die Arbeiterklasse. Mitte Mai versprach Modi einen „Quantensprung“ bei den investorenfreundlichen Reformen. Seither hat die BJP-Regierung ihre Privatisierungskampagne noch drastisch beschleunigt und „Reformen“ des Arbeitsrechts und der Landwirtschaft durchgesetzt, die das indische und internationale Kapital bereits seit langem fordern.

Zur selben Zeit hat die Modi-Regierung die Beziehungen zum US-Imperialismus verstärkt. Hierbei handelt es sich um das zweite wichtige politische Element, das alle indischen Regierungen seit 1991 verfolgt haben, und das Hand in Hand mit den Versuchen einher ging, Indien zu einem Paradies für das globale Kapital zu machen.

Mit nachdrücklicher Unterstützung durch die herrschende Elite Indiens hat sie den seit sechs Monaten andauernden Grenzstreit mit China ausgenutzt, um Indien immer mehr in Washingtons leichtsinnige militärisch-strategische Offensive gegen Peking einzubinden. In diesem Zusammenhang hat sie eine ganze Reihe von neuen Initiativen und Abkommen mit den USA, mit Japan und Australien, ihren wichtigsten Verbündeten im asiatischen Pazifikraum, ausgehandelt. Zudem hat sie wichtige Schritte zur Umwandlung des vierseitigen strategischen Dialogs mit den USA zu einem Militärbündnis unternommen.

Gleichzeitig haben Modi und seine BJP die Propagierung des anti-muslimischen Kommunalismus forciert, um reaktionäre Stimmungen zu schüren und die Arbeiterklasse zu spalten.

Da die Stalinisten die neoliberalen Reformen mehrerer aufeinanderfolgender Kongress-Regierungen unterstützt und in den Bundesstaaten, in denen sie die Regierung stellen konnten (u. a. in Westbengalen) selbst investorenfreundliche Politik umgesetzt haben, ist ihr Rückhalt in der Arbeiterklasse zusammengebrochen. Dennoch stellen sie die politische Führung für den Generalstreik am Donnerstag und sind von der Kongresspartei und den anderen Oppositionsparteien hochgeschätzt, weil sie ihnen eine falsche „progressive“ Fassade liefern.

Die KPI und die KPI-M sind seit Jahrzehnten Teil des politischen Establishments und haben auf die Verschärfung des Klassenkampfs der indischen Bourgeoisie mit einem weiteren Rechtsruck reagiert. Sie haben ihre Bestrebungen verdoppelt, die Arbeiterklasse an die rechte Opposition und die Institutionen des indischen Staates zu binden. Unter dem Vorwand, die hindu-chauvinistische BJP zu besiegen, sind sie vor kurzem zusammen mit der Kongresspartei zu den Wahlen im Bundesstaat Bihar angetreten; in den kommenden Monaten wollen sie das gleiche in Westbengalen und Tamil Nadu tun. Dort ist die Kongresspartei zweitstärkste Kraft in einem Block unter Führung der DMK.

Hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung des gleichen reaktionären Kurses, den sie in den letzten drei Jahrzehnten geführt haben, allerdings unter noch explosiveren und gefährlicheren Bedingungen. Ihr oberstes Prinzip, das sie mit dem Kampf gegen die hinduistische Rechte gerechtfertigt haben, war die Bindung der Arbeiterklasse an Oppositionsparteien, welche die gefährlichen antisozialen investorenfreundlichen Forderungen des indischen Großkapitals umsetzen. Indem sie die Arbeiterklasse politisch unterdrücken und daran hindern, ihre eigene sozialistische Lösung für die soziale Krise zu formulieren, haben die Stalinisten es der BJP ermöglicht, die Wut und Frustration der Massen über endemische Armut, Massenarbeitslosigkeit und die allgegenwärtige soziale Ungleichheit auszunutzen und sich so zur wichtigsten Regierungspartei zu entwickeln.

In den gleichen drei Jahrzehnten hat sich die Arbeiterklasse beträchtlich vergrößert und an sozialer Kraft gewonnen. Doch bevor diese Kraft mobilisiert werden kann, muss sie ihre Unabhängigkeit als Klasse erlangen, ihre getrennten Kämpfe vereinen, sich an der wachsenden internationalen Gegenoffensive der Arbeiterklasse orientieren und die unterdrückten Arbeiter in einem Kampf gegen den indischen und den Weltkapitalismus vereinen. Dazu müssen die indischen Arbeiter alle Parteien der Bourgeoisie, ihre stalinistischen Komplizen und deren kommunalistische, kastenbasierte und nationalistische Politik zurückweisen und ihren Kampf auf die Grundlage des Programms des internationalen Sozialismus stellen.

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