EU-Gipfel: Billionen für die Banken, nichts für die Arbeiter

Der EU-Gipfel vom 10. und 11. Dezember erinnerte an einen Streit in einer belagerten Festung. Er fand inmitten der tiefsten sozialen und wirtschaftlichen Krise der Europäischen Union seit ihrer Gründung statt.

Die Corona-Pandemie ist außer Kontrolle. Jeden Tag sterben in Europa mehr als 5000 Menschen an dem Virus und über 200.000 stecken sich neu an – mit steigender Tendenz. Wut, Empörung und Widerstand gegen die verantwortungslose Politik der Regierungen wachsen, die sich über alle wissenschaftlichen Warnungen hinwegsetzen und unverzichtbare Schutzmaßnahmen den Profitinteressen der Wirtschaft opfern.

Rom: Generalstreik im öffentlichen Dienst Italiens am 9. November 2020

Die Staats- und Regierungschefs trafen sich in Brüssel erstmals wieder persönlich, nachdem vorangegangene Sitzungen des Europäischen Rats online stattgefunden hatten. Sie entschieden sich für dieses riskante Vorgehen, weil die Differenzen und Spannungen ein Ausmaß angenommen hatten, das sich nicht mehr im Rahmen einer Videokonferenz überwinden ließ.

In stundenlangen Verhandlungen, die die gesamte Nacht von Donnerstag auf Freitag andauerten, gelang es ihnen schließlich, die heftigsten Konflikte zu entschärfen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Gegensätze überwunden sind. Was die Europäische Union derzeit noch zusammenhält, ist vor allem die Angst der Herrschenden vor der Arbeiterklasse. Wenn es um die Unterdrückung sozialer Opposition, den Aufbau eines Polizeistaats, eine militaristische Außenpolitik und neue Milliardengeschenke an die Banken und Konzerne geht, sind sie sich alle einig.

Es ist bezeichnend, dass der Europäische Rat nur am Rande über die Pandemie diskutierte und keine Maßnahmen zu ihrer Einschränkung beschloss. Er begrüßte stattdessen ausdrücklich „die Koordinierung der bisherigen Anstrengungen auf EU-Ebene“ und verpflichtete sich, „diese Koordinierung zu intensivieren, insbesondere in Vorbereitung auf die schrittweise Aufhebung der Beschränkungen und die Wiederherstellung normaler Reisebedingungen einschließlich des grenzüberschreitenden Tourismus“.

Das bedeutet, dass die europäischen Regierungen ihre bisherige Politik, die zur größten Gesundheitskatastrophe seit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren geführt hat, unvermindert fortsetzen und alles unternehmen werden, um die völlig ungenügenden Schutzmaßnahmen schnell wieder aufzuheben.

Wichtigster Beschluss des Europäischen Rats war die endgültige Verabschiedung des EU-Haushalts für die kommenden sieben Jahre und die Freigabe des 750-Milliarden-Konjunkturpakets, auf das sich die EU bereits im Sommer geeinigt hatte. Der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen steht damit in den kommenden Jahren die gigantische Summe von 1,8 Billionen Euro zur Verfügung, um die Banken und Konzerne zu bereichern, Politiker zu bestechen und widerspenstige Regierungen auf Linie zu bringen.

EZB-Chefin Christine Lagarde ergänzte diese Summe am Donnertag noch durch ein Weihnachtsgeschenk der besonderen Art. Die Europäische Zentralbank verlängerte ihr Anleihekaufprogramm Pandemic Emergency Purchase Programme bis Ende März 2022 und weitet es um 500 Milliarden Euro aus. Die Summe, zu der die EZB den Banken und Spekulanten Schrottanleihen abkauft, erhöht sich damit auf sagenhafte 1,85 Billionen Euro.

Es handelt sich die größte Umverteilung von Reichtum in der Geschichte, denn für die gewaltigen Geldsummen muss am Ende die Arbeiterklasse in Form von Sozialkürzungen und Lohnsenkungen wieder aufkommen. Die Börsen sind begeistert. Trotz Coronakrise nähern sich die europäischen Aktienkurse historischen Höchstständen. Noch nie war die Geldmacherei derart vollständig von der realen Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt. Hätte es noch eines Beweises für den parasitären, asozialen Charakter der kapitalistischen Profitwirtschaft bedurft, man hätte keinen besseren finden können.

Der EU-Haushalt und das Konjunkturpaket standen vor dem Gipfel auf der Kippe. Sowohl Polen wie Ungarn hatten mit einem Veto gedroht. Sie wollten damit den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus zu Fall bringen. Das Europäische Parlament und die EU-Kommission hatten sich im Oktober auf eine Regelung geeinigt, die es der EU erlaubt, Zahlungen an Mitgliedstaaten auszusetzen, die gegen rechtsstaatliche Grundsätze des EU-Vertrags verstoßen. Das richtete sich gegen Ungarn und Polen, deren Regierungen die Unabhängigkeit von Justiz und Medien weitgehend untergraben haben.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schaltete sich vor dem Gipfel persönlich ein, um mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seinem polnischen Amtskollegen Mateusz Morawiecki eine Einigung zu erzielen, die dann vom Europäischen Rat bestätigt wurde. Der Rechtsstaatsmechanismus bleibt erhalten und wird in den „Schlussfolgerungen“ des Gipfels noch einmal feierlich beschworen. Er wird aber mit so vielen Vorbedingungen versehen, dass er in der Praxis niemals zur Anwendung kommt. Orbán und Morawiecki feierten die Einigung als Sieg.

Der EU ging es ohnehin nie um demokratische Grundsätze. Das Abgleiten Ungarns und Polens in diktatorische Herrschaftsformen war vor allem ein Hindernis für die aggressive Außenpolitik der EU, die sich gern in Phrasen über „westliche Werte“ und „Demokratie“ hüllt. Tatsächlich greifen alle europäischen Regierungen zunehmend offen zu diktatorischen und faschistischen Methoden, um den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse zu unterdrücken.

So verabschiedete die französische Nationalversammlung zehn Tage vor dem Gipfel ein „globales Sicherheitsgesetz“, gegen das Hunderttausende auf die Straße gingen. Es verbietet unter anderem, gewalttätige Polizisten zu filmen, und schränkt die Pressefreiheit massiv ein. Ein Anti-Islamgesetz, dass die Regierung Emmanuel Macrons derzeit berät, trägt offen rassistische Züge und tritt demokratische Grundrechte mit Füßen. Die Schlusserklärung des Europäischen Rats erwähnt dieses Gesetz zwar nicht direkt, stellt sich aber inhaltlich dahinter.

Das Thema „Sicherheit“ nimmt in den „Schlussfolgerungen“ des EU-Gipfels doppelt so viel Raum ein wie das Thema „Covid-19“. Als Vorwand dienen die „jüngsten Terroranschläge in Europa“. Während der Europäische Rat für die 450.000 europäischen Todesopfer der Corona-Pandemie kein Wort des Bedauerns übrig hat, überschlägt er sich in heuchlerischen Beileidsbekundungen für die Opfer dieser reaktionären Anschläge – und leitet daraus ein umfassendes Programm der Überwachung, der Zensur und der Polizeiaufrüstung ab.

Es sei „äußerst wichtig, Radikalisierung zu verhindern und gegen die Terrorismus und gewaltorientiertem Extremismus zugrunde liegenden Ideologien vorzugehen – auch im Internet“, heißt es in der Schlusserklärung.

Der Europäische Rat fordert, „die Bekämpfung illegaler Online-Inhalte zu intensivieren“ und „sicherzustellen, dass die religiöse Bildung und Ausbildung mit den europäischen Grundrechten und Grundwerten im Einklang stehen“. Es sei „unerlässlich, dass die Strafverfolgungs- und Justizbehörden ihre gesetzlichen Befugnisse sowohl online als auch offline zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität ausüben können“. Die „polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit und Koordinierung“ müssten verstärkt werden.

Die längste Zeit benötigte der EU-Gipfel für die Festlegung eines gemeinsamen Klimaziels. Man einigte sich schließlich darauf, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren und dafür öffentliche Mittel und privates Kapital zu mobilisieren.

Doch wie dieses Ziel erreicht werden soll, wurde nicht festgelegt. Darüber gibt es erhebliche Differenzen. So wollen einige osteuropäische Länder und auch Frankreich den Ausbau der Kernenergie forcieren, was andere strikt ablehnen. Außerdem soll dieses Ziel nur netto erreicht werden; Aufforstungen und andere Naturschutzmaßnahmen können dagegen aufgerechnet werden.

In der Außenpolitik bekräftigte der Gipfel die imperialistischen Ansprüche der EU im „östlichen Mittelmeerraum“ und der „südlichen Nachbarschaft“, d.h. in Nord- und Zentralafrika. Im östlichen Mittelmeer setze sich die EU „weiterhin für die Verteidigung ihrer Interessen und der Interessen ihrer Mitgliedstaaten sowie für die Aufrechterhaltung der regionalen Stabilität ein“, heißt es in der Schlusserklärung.

Heftige Differenzen über die Türkei wurden überbrückt. Das Land wird einerseits scharf verurteilt, andererseits bekräftigt der Europäische Rat „das strategische Interesse der EU an der Entwicklung einer kooperativen und für beide Seiten nutzbringenden Beziehung zur Türkei“. Griechenland, Zypern und Frankreich konnten sich mit der Forderung nach harten Sanktionen gegen Ankara nicht durchsetzen.

Insgesamt war der europäische Gipfel von heftigen nationalen Konflikten geprägt, die sich weiter verschärfen werden. Angesichts einer tiefen ökonomischen Krise und wachsender sozialer Konflikte verteidigen die herrschenden Klassen Europas rücksichtslos die eigenen Interessen und schüren Nationalismus.

Am deutlichsten zeigte das die Frage, die über dem gesamten Gipfel schwebte, aber dort nicht diskutiert wurde: der Brexit.

Am Abend vor dem Gipfel hatte sich der britische Premier Boris Johnson in Brüssel zu einem Abendessen mit der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, getroffen, ohne dass es zu einer Einigung kam. Die Wahrscheinlichkeit, dass am 31. Dezember ein harter Brexit mit entsprechenden Schockwellen erfolgt, ist damit erheblich gestiegen.

Johnson ist längst zum Gefangenen der rechten Brexit-Befürworter geworden, die er selbst herangezogen hat. Die EU ist zu keinen Zugeständnissen bereit, weil sie fürchtet, dass dann auch andere Länder Zugeständnisse verlangen, die deutsch-französische Dominanz unterhöhlt wird und die EU endgültig zerfällt. „Denn eins ist klar: Es muss die Integrität des Binnenmarkts gewahrt werden können,“ begründete die Bundeskanzlerin Merkel die harte Haltung der EU.

Die Einheit Europas, die unerlässlich ist, um den Kontinent wirtschaftlich voranzubringen und den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen, ist auf kapitalistischer Grundlage nicht möglich. Die Europäische Union verkörpert nicht die Einheit Europas, sie ist ein Instrument mächtiger Kapitalinteressen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse und zur Verfolgung imperialistischer Interessen. Sie wirft den Kontinent zurück in jene nationalen Konflikte, die im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst haben.

Der einzige Weg vorwärts ist die Vereinigung der Arbeiterklasse im gemeinsamen Kampf für ein sozialistisches Programm – gegen die Europäische Union und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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