Großbritannien: Zehntausende im Gesundheitswesen an Covid-19 erkrankt

Die Zahl der Covid-19-Fälle und Hospitalisierungen steigen überall in Großbritannien rapide an. Unter den Opfern des Virus befinden sich auch Zehntausende Beschäftigte des National Health Service (NHS). Die Konsequenzen für die Versorgung und Sicherheit der Patienten sind beängstigend.

Seit Beginn der Pandemie sind mehr als 100.000 Menschen an Covid-19 gestorben, und mehr als 3,3 Millionen haben sich infiziert. Premierminister Boris Johnson von der konservativen Tory-Partei gab am Freitag zu: „Am Donnerstag wurden 4.134 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert, der höchste Tageswert seit Beginn der Pandemie. Insgesamt befinden sich im ganzen Land mehr als 37.000 Covid-Patienten in den Krankenhäusern.“

Pflegekraft eines NHS-Krankenhauses beim Tauglichkeitstest von FFP3-Masken (Foto: WSWS media)

Laut Daten des Office and National Statistics sind mehr als 650 Pflege- und Betreuungskräfte in Großbritannien an Covid-19 gestorben.

Fast 50.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen haben sich mit dem Virus angesteckt, und Tausende weitere befinden sich in Quarantäne. Zahlreiche Beschäftigte im Gesundheitswesen leiden seit der ersten Welle unter Langzeitfolgen und posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD).

Im Dezember sollen sich die Personalausfälle in einigen Krankenhäusern im Vergleich zum normalen Niveau von vier Prozent verdoppelt oder sogar verdreifacht haben. Das bedeutet, dass noch deutlich mehr als 100.000 der 1,3 Millionen NHS-Beschäftigte ausfallen könnten. Die verbliebenen Beschäftigten, die bereits von der ersten Welle erschöpft sind, werden jetzt von der massiven Welle neuer Patienten überwältigt und können sie nur mit großer Mühe versorgen.

Der Vorsitzende der British Medical Association, Dr. Chaand Nagpaul, enthüllte letzte Woche in einem Schreiben an die Mitglieder seiner Organisation das Ausmaß der Krise. Er schrieb: „Mehr als 46.000 Krankenhausangestellte haben sich wegen Covid-19 krank gemeldet... [Dies sorgt für] zusätzlichen Druck auf die ohnehin schon überlastete Belegschaft, die schon die aktuelle Pflegesituation nur schwer in den Griff bekommt.“

Der Guardian schrieb: „Im ganzen Land melden Krankenhäuser, Allgemeinarztpraxen und Pflegeheime abnormal hohe Ausfälle beim Personal. In Kent, einer der am stärksten betroffenen Regionen Südostenglands, fehlt vermutlich etwa ein Viertel des Klinik- und Verwaltungspersonals. Laut John Allingham, dem medizinische Leiter des lokalen Ärzteverbandes, der die Allgemeinärzte in der Grafschaft vertritt, fehlten in einigen Praxen fast die Hälfte des Personals. Das wirkt sich auch auf die Impfungen aus.“

Im Royal Bournemouth Hospital (RBH) infizieren sich die Pflegekräfte in alarmierender Geschwindigkeit mit dem Virus. In einigen Abteilungen haben sich nur wenige Beschäftigte noch nicht angesteckt. In der Mehrheit der Abteilungen und Stationen gibt es Ausbrüche, die auf fehlende Planung und Ressourcenmangel zurückgehen. Das Personal wurde Opfer unterdurchschnittlicher Richtlinien in Bezug auf Schutzausrüstung und wegen fehlender Maßnahmen zur Infektionskontrolle.

In den letzten drei Wochen hat sich die Zahl der Patienten und der infizierten Beschäftigten verdoppelt. Am 12. Januar gab es 365 zusätzliche Covid-19-Patienten, darunter 25 in Intensivstationen des NHS-Trusts, zu dem die RBH- und Poole-Krankenhäuser gehören. Am Dienstag waren 530 Beschäftigte arbeitsunfähig, und bis zum Donnerstag stieg diese Zahl auf 575 Beschäftigte. 285 von ihnen wiesen Covid-Symptome auf, weitere 230 waren in Quarantäne wegen Covid-Fällen in der Familie und 60 Beschäftigte befanden sich in Selbstisolation.

Eine Intensivpflegekraft aus dem Royal Bournemouth Hospital erklärte gegenüber der World Socialist Web Site: „Unsere Abteilung ist jetzt für mehrere Bereiche zuständig. Es ist nicht mehr möglich, Patienten im kritischen Zustand einzeln zu betreuen. Ich musste heute während meiner Schicht, die zwölfeinhalb Stunden dauerte, zwei Patienten im kritischen Zustand versorgen. Wir arbeiten jeden Tag mit zu wenig Personal. Ich mache mir wirklich Sorgen um die Sicherheit der Patienten.“

Die extrem hohen Infektionsraten unter Pflegekräften und Betreuungspersonal sind ein Armutszeugnis für die Tory-Regierung. Nachdem der NHS jahrelang kaputtgespart und seine Privatisierung vorangetrieben wurde, fehlte es bereits vor Beginn der Pandemie überall an Personal, Betten und Ressourcen. Doch die ausufernde Personalkrise des NHS ist ein direktes Ergebnis der staatlichen Richtlinien der Tory-Regierung zur Ausstattung mit Schutzausrüstung.

Laut Experten kann der konsequente Einsatz von Ganzkörperschutzausrüstung und Maßnahmen zur Infektionskontrolle das Infektionsrisiko für Beschäftigte des Gesundheitswesens deutlich verringern. Doch Boris Johnsons Regierung hat diese Ratschläge und Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ignoriert.

Als die Ausbreitung der Pandemie in der Bevölkerung begann, gab es große Engpässe bei der erforderlichen Schutzausrüstung, weil der NHS und das Sozialwesen seit Jahren unterfinanziert sind. Zwischen 2013 und 2016 wurden die landesweiten Bestände an Schutzausrüstung im Rahmen der 20-Milliarden-Pfund-„Effizienzeinsparungen“ im NHS um 40 Prozent gekürzt.

Statt den Forderungen nach Schutzausrüstung nachzukommen, änderten die Tories, Public Health England und die Health and Safety Executive mitten im Ausbruch die Richtlinien. Am 19. März 2020 wurde Covid-19 wurde von der Regierung zu einer Infektionskrankheit heruntergestuft, die nicht durch einen hochpathogenen Erreger hervorgerufen wird (HCID), wodurch die Anforderung an die vorgeschriebenen Schutzausrüstung für das Personal verringert wurde. Einen Monat später änderte die Regierung die Richtlinien für Herz-Lungen-Wiederbelebung, um den Einsatz von FFP2- und FFP3-Masken zu verringern. Auch dies verstieß gegen die Empfehlungen der WHO.

Aufgrund dieser Entwicklung müssen viele Pflegekräfte Patienten mit dem hoch ansteckenden Coronavirus ohne angemessene Schutzausrüstung versorgen. Sie tragen dünne Schürzen, einfache chirurgische Masken, Visiere und Handschuhe, auch wenn sie Tätigkeiten wie Körperpflege, Umbetten, Füttern, Sauerstofftherapie, Zerstäubung und Physiotherapie ausführen. Nur die Pflegekräfte, die Aerosol erzeugende Verfahren anwenden, beispielsweise auf Intensivstationen und in Operationssälen, dürfen die hoch effektiven FFP3-Masken und Kittel sowie Handschuhe und Visiere tragen.

Die Regierung und Public Health England haben die Richtlinien selbst dann nicht geändert, als im letzten September eine neue und noch ansteckendere Variante von Covid-19 entdeckt wurde, die mittlerweile in Großbritannien der am weitesten verbreitete Virenstamm ist. Auch die unter Experten zunehmende Sorge wegen der Übertragung des Coronavirus‘ durch die Luft hat die Regierung nicht zu einer Änderung der Richtlinien veranlasst.

Im Sommer haben die Unterhausabgeordneten der Regierung mit einem Antrag im Parlament ein Vorhaben abgeschwächt, mit denen alle NHS-Beschäftigten jede Woche auf Covid-219 getestet werden sollten.

Vor Kurzem haben Hunderte von Fachkräften aus dem Gesundheitswesen, darunter Ärzte, Pflegekräfte und Gutachter, in einem offenen Brief an die politische Führung höherwertige Schutzausrüstung gefordert. Sie weisen darauf hin, dass die Beschäftigten in den normalen Krankenhaus-Abteilungen ein doppelt so hohes Infektionsrisiko mit Covid-19 haben wie Intensivpflegepersonal, da dieses über die beste Ausrüstung verfügt.

Diese Forderungen treffen jedoch auf taube Ohren.

Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums erklärte: „Die Sicherheit der Beschäftigten in der NHS und im Sozialpflegbereich war immer unsere oberste Priorität. Wir arbeiten weiterhin unermüdlich daran, die Menschen an der Front mit Schutzausrüstung zu versorgen. Die Richtlinien zu möglichst sicherer Schutzausrüstung werden von Experten geschrieben und von allen vier Chief Medical Officers bewilligt. Die Richtlinien werden ständig überprüft und an die neuesten Fakten und Daten angepasst.“

Die Richtlinien von Public Health England - sie verstoßen gegen diejenigen der Weltgesundheitsorganisation, was dazu führt, dass viele Pflegekräfte die Covid-19-Patienten ohne ausreichende Schutzausrüstung pflegen

Das sind blanke Lügen, widerlegt durch die Realität für Beschäftigte im Gesundheitswesen im ganzen Land.

Ein leitender Krankenpfleger im Krankenhaus von Liverpool erklärte gegenüber der WSWS: „Ich glaube, es gab schon immer zu wenig Schutzausrüstung, und deshalb hat das Gesundheitsministerium Covid herabgestuft. Als ihre Bestände zur Neige gingen, haben sie ein hoch ansteckendes und unbekanntes Virus heruntergestuft, das war kriminell und von wirtschaftlichen Erwägungen motiviert. Ich habe mich im März darüber informiert und war erschüttert. Tatsache ist, dass sich Public Health England kriminell verhalten und das Leben der Beschäftigten riskiert hat. Darauf muss hingewiesen werden, und es muss den Beschäftigten erklärt werden. Aus einer rein rationalen Perspektive ergibt es keinen Sinn. Ich war geschockt. Der Mangel an Schutzausrüstung ergibt sich also aus dieser kriminellen Entscheidung, die Menschenleben gekostet hat.“

Zu den 46.000 Covid-Erkrankung unter den NHS-Beschäftigten erklärte er: „Das ist eine ziemlich bedeutende Zahl, bei einer ohnehin schon überlasteten Belegschaft. Es wird massive Auswirkungen haben, oder hat es bereits. Die Abteilung, in der ich arbeite, ist wieder im roten Bereich, zum dritten Mal seit letztem März. Wir nehmen jetzt nur noch Covid-19-Patienten auf. Ich arbeite in der klinischen Gerontologie, und wir spüren schon wieder den Druck.“

Die mörderische Verschwörung der Tory-Regierung gegen Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen wäre ohne die Unterstützung der Gewerkschaften und der Labour Party nicht möglich gewesen. Die Gewerkschaften wissen zwar durch eigene Umfragen von der immensen Gefahr, denen die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen durch Covid-19 ausgesetzt sind, tun aber nichts anderes, als zu jammern und vor der Regierung in die Knie zu gehen.

Alles deutet darauf hin, dass diese Welle der Pandemie schlimmer sein wird als die letzte. Die Beschäftigten des NHS stehen vor der Aufgabe, einen unabhängigen politischen Kampf gegen die herrschende Klasse und ihre politischen Verteidiger, für Sozialismus und eine Arbeiterregierung zu organisieren. Sie dürfen kein Vertrauen in die Gewerkschaften setzen, sondern müssen Aktionskomitees errichten, um ihre Gesundheit und Sicherheit zu gewährleisten und einen politischen Kampf für dringend notwendige Ressourcen zu führen.

Die WSWS ruft alle Beschäftigten des National Health Service dringend dazu auf, sich mit uns in Verbindung zu setzen und ihre Erfahrungen zu schildern. Wenn ihr in der Pflege arbeitet, tretet der Gruppe NHS FightBack bei und beteiligt euch am Aufbau von Sicherheitskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften handeln.

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