Corona wütet in den Betrieben

Ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie, die in Deutschland bisher über 65.000 Menschen das Leben gekostet hat, steht eines unwiderruflich fest: Zehntausende Menschen hätten nicht sterben müssen, wenn es konsequente Schutzmaßnahmen gegeben hätte. Verantwortlich sind sämtliche politischen Parteien, Regierungen und Gewerkschaften, die von einem gemeinsamen Klasseninteresse ausgehen: Wirtschaftsinteressen stehen vor Gesundheit und Leben. Nach diesem kapitalistischen Prinzip wird weltweit verfahren.

In der Eisfabrik Froneri in Osnabrück haben sich 210 Beschäftigte infiziert

Da der gesamte globale Kapitalismus auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruht, war es für die Wirtschafts- und Finanzelite unabdingbar, die Betriebe offen und die großen Produktionsstätten am Laufen zu halten. Anstatt Betriebe und Schulen stillzulegen und die sozialen Folgen finanziell auszugleichen, haben die Regierungen den Banken und Konzernen Milliardengeschenke überreicht. Das ist auch der Grund, warum die Schulen und Kitas weitgehend geöffnet bleiben mussten, damit die arbeitenden Eltern jeden Tag den Unternehmen zur Verfügung stehen.

Es verwundert daher nicht, dass über das Pandemiegeschehen in den Betrieben weder berichtet wird, noch umfassende Statistiken erhoben und Studien verfasst wurden. Es ist nicht bekannt, wie viele tausend Arbeiter sich in den Betrieben infiziert haben oder von ihren infizierten Kindern das Virus in die Betriebe getragen haben. Auch für die Zahl der an Covid-19 gestorbenen Arbeiter interessiert sich niemand.

Im Gegensatz dazu gibt es jede Menge Statistiken über die Umsatz- und Gewinnentwicklung der Industrieunternehmen. Auch die geleisteten Arbeitsstunden wurden bis auf die dritte Stelle nach dem Komma exakt erfasst. Sie sind trotz Lockdown kaum zurückgegangen. So wurden im produzierenden Gewerbe mit mehr als 5,5 Millionen Arbeitern im November 2020 700,9 Millionen Arbeitsstunden geleistet. Das sind fast so viele wie im Vorjahr, als 723,8 Millionen Stunden gearbeitet wurde. Auch die Umsatzzahlen lagen nur geringfügig hinter 2019.

Auf dem Rücken und auf Kosten der Gesundheit von Millionen Arbeitern wurden satte Gewinne eingefahren. Da wo es nicht ging, wurden die Arbeiter in Kurzarbeit geschickt oder Konzerne mit Milliarden Steuergeldern versorgt.

Erstmals ist nun ein aussagekräftiger journalistischer Bericht über die unhaltbaren Zustände in Betrieben veröffentlicht worden. Er stützt sich auf Recherchen von Report-Mainz und BuzzFeed News. Auch wenn er nur einige Bereiche umfasst, widerlegt er die Behauptungen, es sei in den Betrieben sicher und gebe hohe Hygienestandards.

Unter anderem befragten die Journalisten 70 Arbeitsschutzbehörden in ganz Deutschland über die Herausforderungen in der Corona-Krise. 90 Prozent der Behörden gaben an, Betriebe auf Verstöße gegen die Corona-Verordnungen angesprochen zu haben. Sie hätten sie aber, wenn überhaupt, nur mündlich oder schriftlich verwarnt. Bußgelder wurden fast keine verhängt, und noch seltener wurde ein Betrieb geschlossen, obwohl es notwendig gewesen wäre. Zwei Drittel der Behörden beklagten, ihnen fehle das Personal dafür.

Konkrete Fälle

Konkrete Fälle, die BuzzFeed News schildert, zeigen, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handeln kann. Unter der Zwischenüberschrift „Neun Monate ohne Masken, Desinfektion und Abstände“ kommt die Arbeiterin Susanne T. zu Wort, die zusammen mit ihrem Mann in einem Großlager eines Versandhandelsunternehmens arbeitet.

In dem Artikel heißt es: „‚Das war eine völlig absurde Situation. Ich buche und lagere haufenweise Masken ein, Arbeitsanzüge, Trennschilde, palettenweise Desinfektionsmittel. Und nichts davon darf ich mir nehmen, um mich selber zu schützen‘, sagt Susanne T. Irgendwann bekommen sie und ihr Mann Angst, denn beide sind um die 50 und ihre Eltern jeweils Risikopatienten. Ihr Ehemann ruft beim Ordnungsamt an, schreibt mehrere E-Mails, schildert die Zustände ausführlich – doch es passiert zunächst nichts.“

Weiter berichtet BuzzFeed News: „Bei Susanne T. hatte es neun Monate gedauert, bis die Behörden für eine Vor-Ort-Kontrolle vorbeikamen. Doch selbst wenn Behörden schneller auf Beschwerden reagieren, ist damit noch längst nicht sicher, dass die Kontrolleure die Regeln auch wirklich durchsetzen. Und dass sie sich am Ende nicht auf die Seite der Unternehmen stellen – so wie in Berlin geschehen, in den Reisezentren der Deutschen Bahn.“

Der Artikel deckt eklatante Missstände bei den Reisezentren der Deutschen Bahn auf: Keine ausreichenden Plexiglasscheiben, um Kunden und Mitarbeiter zu schützen, das Personal sitzt auf engstem Raum zusammen, usw.. Trotz massiver Beschwerden der Beschäftigten gibt es keine Abhilfe.

Hier ein Beispiel: „Auch in Berlin haben sich die Mitarbeiter:innen an die zuständige Arbeitsschutzbehörde gewandt, an das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit in Berlin. Doch das LAGetSi will offenbar nicht helfen. Nach einer Kontrolle in den Berliner Reisezentren schreibt die zuständige Kontrolleurin Anfang November zwar, dass der Spuckschutz nicht optimal sei, es sei aber ‚auf Grund der Wahrung der Verhältnismäßigkeit mit dem Arbeitgeber abgestimmt, das bei Umzug bzw. Verschleiß ein größerer Spuckschutz angebracht wird‘.“

Auch der langjährige Arbeitsschutzexperte Dr. Wolfgang Hien kommt zum Schluss, dass Arbeiter meist völlig schutzlos dem Virus in den Betrieben ausgeliefert sind. Besonders auf Baustellen, in der Logistik, am Fließband von Zulieferer-Betrieben seien „die Verhältnisse wirklich grottenschlecht“, zitiert ihn Report Mainz. „Dicht an dicht. Kopf an Kopf. Schulter an Schulter.“

Hien spricht von einer Parallelgesellschaft. Er berichtet von mehreren Fällen, in denen sich Betriebsräte an die Aufsichtsbehörden und die Politik wandten, diese aber nicht halfen. „Es kann nicht sein, dass 800 Arbeiter und Arbeiterinnen eng an eng in einer Kartonage-Fabrik arbeiten, ohne dass weder von Polizei noch Ordnungsamt noch Gewerbeaufsicht irgendjemand kommen würde.“

Hien war mehrere Jahre als Referatsleiter Gesundheitsschutz im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes tätig und hat immer noch viele Kontakte zu den Betrieben, Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären. Die lebensgefährlichen Verhältnisse für Arbeiter, die er zu Recht beklagt, sind allerdings nicht zuletzt ein Produkt der völlig unternehmerhörigen Betriebsräte und Gewerkschaften. Sie sorgen vor Ort dafür, dass „ihr“ Betrieb oder Konzern trotz der Corona-Pandemie weiter produzieren kann und die Arbeiter ruhig gehalten werden.

Sollte noch jemand glauben, dass sei alles nicht beabsichtigt, dem sei die Stellungnahme der Bundesregierung empfohlen. Nach dem mangelnden Arbeitsschutz gefragt, antwortete das Bundesarbeitsministerium von Hubertus Heil (SPD) laut BuzzFeed News, es sei vor kurzem eine Mindestbesichtigungsquote festgelegt worden. „Diese gilt jedoch erst ab 2026 und schreibt vor, dass jeder Betrieb im Schnitt alle 20 Jahre kontrolliert werden muss.“

Zahlreiche Corona-Ausbrüche in Unternehmen

Trotz tendenziell sinkender Inzidenz-Zahlen finden auch gegenwärtig zahlreiche Corona-Ausbrüche in Unternehmen statt.

So bei der Firma Tenneco Federal-Mogul in Burscheid. Bei mindesten acht Mitarbeitern wurde dort sogar die hochansteckende britische Mutante entdeckt, und es gibt noch mindestens weitere acht Infizierte. Das Gesundheitsamt legte den Betrieb nicht still, obwohl in den zwei Werken mit 1700 Beschäftigten bereits zum zweiten Mal ein größerer Ausbruch stattgefunden hat. Unter dem Traditionsnamen Goetze werden in den Werken Kolbenringe und Zylinderlaufbuchsen hergestellt. Auch hier haben der Betriebsrat und die IG Metall sich mit dem Unternehmen für die Offenhaltung der Werke ausgesprochen, damit die Autozulieferungsfirma auf keine Profite verzichten muss.

Letzte Woche wurden auch bei VW-Nutzfahrzeuge 14 Arbeiter mit dem Coronavirus infiziert. Am relativ kleinen Standort Limmer bei Hannover wurde die Arbeit aber nur für zwei bis drei Tage eingestellt. Trotzdem verkündete der Leiter des Gesundheitswesens bei Volkswagen Nutzfahrzeuge, Andree Hillebrecht, großspurig: „Die Gesundheit der Beschäftigten hat für uns höchste Priorität.“ Wenn dem so wäre, hätte VW längst die Produktion in ihren großen Werken stoppen müssen.

Einen größeren Corona-Ausbruch, bei dem erneut die britische Mutation eine Rolle spielte, ereignete sich in einem Kärcher-Werk im Landkreis Schwäbisch Hall. Mindestens 36 Arbeiter haben sich dort infiziert. Der Firmensprecher teilte mit, 19 Kontaktpersonen stünden unter behördlicher Quarantäne und 251 weitere Mitarbeiter seien in betriebliche Quarantäne geschickt worden.

Das Werk produziert Reinigungs- und Gartengeräte und hat 900 Beschäftigte. Die Produktion läuft ungehindert weiter. Auch hier wurde betont, die Firma habe seit Beginn der Pandemie ein umfassendes Sicherheits- und Hygienekonzept mit Abstandsregeln, Maskenpflicht, Kontaktpersonenmanagement, einem umfassenden Lüftungskonzept und einer konsequenten Trennung der Schichten. Der zuständige Betriebsrat und die IG Metall üben sich auch hier in Schweigen, hatten sie doch selbst das angeblich so sichere Sicherheits- und Hygienekonzept mit ausgearbeitet.

Und erneut gab es auch Ausbrüche in Schlachthöfen. So im Husumer Schlachthof Danish Crown, wo 99 Arbeiter positiv getestet wurden. Es könnten noch mehr sein, da nicht alle Ergebnisse vorliegen. Das Gesundheitsamt hatte am vergangenen Donnerstag bei 332 Personen, die in letzter Zeit auf dem Gelände des Husumer Schlachthofes gearbeitet haben, PCR-Tests vorgenommen.

Alle positiv Getesteten wurden in häusliche Quarantäne geschickt. Eine Schließung des Schlachthofs wurde aber nur bis zum 14. Februar angeordnet, also gerade für zwei Tage, weil zwei Tage dabei auf das Wochenende fallen.

Selbst der Sprecher von Danish Crown, Jens Hansen, musste das ungeheure Ausmaß des Ausbruchs eingestehen: „Es sind viel mehr Leute, die infiziert wurden. Es ist nun eine Herausforderung – und wir müssen auch ganz ehrlich sagen, dass es nicht realistisch ist, in der nächsten Woche wieder vor Ort zu produzieren. Wir brauchen Zeit“, sagte er.

Auch hier wird wieder deutlich, dass Arbeiter reihenweise dem Virus schutzlos ausgeliefert sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz von 45 in Nordfriesland hat sich alleine durch diesen Ausbruch in vier Tagen auf auf 94 verdoppelt.

Besonders stark breitet sich das Virus seit Wochen in Nord- und Ostbayern aus. Die Inzidenzwerte liegen teils immer noch über 350, auf der anderen Grenzseite, in Tschechien, sogar bei 1100. Es gab daher weitere Ausbrüche in Schlachthöfen, Betrieben und Ankerzentren sowie in vielen Seniorenheimen.

In einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in der oberpfälzischen Kreisstadt Tirschenreuth wurden insgesamt 44 neue Fälle registriert. In einem Bamberger Ankerzentrum infizierten sich 75 Bewohner. Mehr als 160 müssen als Kontaktpersonen momentan in Quarantäne und in engsten Behausungen ausharren.

Außerdem gab es gleich mehrere Ausbrüche bei Schiffsbauern bzw. Werften. Laut einem Bericht von NDR 1 gab es jüngst einen Corona-Ausbruch bei dem Kabinenbauer EMS PreCab in Papenburg (Landkreis Emsland). 27 Mitarbeiter wurden bei einem Schnelltest positiv auf das Virus getestet, 65 befinden sich noch in Quarantäne. Nach kurzer Betriebspause werde die Produktion mit verringerter Kapazität beginnen, so ein Sprecher der Meyer Werft, für die EMS PreCab Kabinen für Kreuzfahrtschiffe baut.

In der Wolgaster Peene-Werft haben sich seit Januar immer wieder Arbeiter infiziert, zuerst waren es 13, dann kamen in der letzten Woche weitere 14 positiv getestete Arbeiter hinzu. Und immerzu die gleiche, Arbeiter verachtende Reaktion: Der Betrieb läuft weiter, als ob nichts geschehen sei. Das Unternehmen will noch nicht mal über bessere Sicherheitsvorkehrungen nachdenken. Es teilte nur zynisch mit, man setzte weiter auf das geltende Hygienekonzept und zeitversetztes Arbeiten.

Gestern, am 16. Februar, hat der NDR einen Großausbruch bei dem Eishersteller Froneri in Osnabrück vermeldet. 210 von 670 Beschäftigten wurden positiv getestet, also fast ein Drittel der Belegschaft. In diesem Fall blieb der Eisfabrik nichts anderes übrig, als alle Arbeiter in Quarantäne zu schicken und den Betrieb bis vorerst 26. Februar zu schließen. Die Dimension sei vergleichbar mit dem Ausbruchsgeschehen in Schlachtbetrieben im vergangenen Jahr „und muss ausgesprochen ernst genommen werden“, teilte ein Sprecher des niedersächsischen Sozialministeriums mit.

Auch hier stellt sich die Frage: Wer trägt die Verantwortung dafür? Wäre der Ausbruch vermeidbar gewesen?

Das sind nur einige Fälle, die sich in den letzten zehn Tage ereignet haben. Alleine daran lässt sich aber erahnen, welche Rolle offene Betriebe bei der Ausbreitung der Corona-Pandemie bisher gespielt haben und immer noch spielen.

Wirksame Maßnahmen dagegen können, auch das zeigt dieser Bericht, nur von der Arbeiterklasse selbst kommen. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) tritt zur Bundestagswahl an, um diesem Kampf eine politische Orientierung zu geben. In unserem Wahlaufruf heißt es dazu:

„Der Kampf um die Eindämmung der Pandemie entwickelt sich zu einem Klassenkampf, der immer deutlicher zeigt, dass die großen Klassen der Gesellschaft – die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse – unversöhnlich entgegengesetzte Interessen haben. Die offizielle Pandemiepolitik stellt Profit vor Leben.

Wir fordern: Sofortiger Lockdown aller nicht lebensnotwendigen Betriebe bis die Pandemie unter Kontrolle ist! Voller Lohnersatz für alle betroffenen Arbeiter sowie echte Hilfen für Selbstständige und umfassende Unterstützung für arme Haushalte! Ein global koordiniertes Impfprogramm statt Impfstoff-Nationalismus und -Geschäftemacherei!“

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