Europäisches Covid-19-Impfprogramm führt zu Fiasko

Die Ausbreitung des Coronavirus setzt sich international fort und wird zunehmend von ansteckenderen Varianten dominiert. Gleichzeitig verzögert sich die Verteilung von Impfstoffen in Europa weiter.

Am schlimmsten ist die Situation in Frankreich, wo etwa sechs Prozent Menschen die erste Dosis erhalten haben und die Hälfte davon die erforderliche zweite Dosis. In Deutschland haben nur 6,6 Prozent der Bevölkerung die erste Dosis erhalten. In Belgien, Schweden, Spanien, Portugal, Italien, der Tschechischen Republik und den Niederlanden sind drei Prozent oder weniger geimpft worden.

Ein Mann mit Maske vor dem Corona Center in Duisburg (AP Photo/Martin Meisner)

In Großbritannien, wo die Impfungen deutlich weiter fortgeschritten sind als im Rest Europas, haben weniger als zwei Prozent der Bevölkerung die erforderliche zweite Impfung erhalten, und etwa 23 Millionen Menschen die erste. Zum Vergleich: In Israel wurden diese Woche mehr als 4,9 Millionen Menschen geimpft. Das sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung.

Die Impfkampagne in Europa ist von Anfang an chaotisch verlaufen. Die Regierungen hatten keinen wirklichen Plan für eine koordinierte internationale Verteilung der Impfstoffe. Gleichzeitig war die Infrastruktur geschwächt, weil durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen Steuersenkungen für Wohlhabende und Konzerne finanziert worden sind.

Ein wichtiger Faktor für das langsame Tempo bei den Impfungen war, zumindest seit Ende Januar, der Mangel an verfügbaren Dosen. Nach zermürbenden Verhandlungen mit den europäischen Regierungen über Verträge im Wert von zig Milliarden Euro gelang es den riesigen Pharmakonzernen nicht, genügend Impfstoffe zu liefern.

Dies macht den Bankrott des europäischen Kapitalismus deutlich. Seit dem letzten Frühjahr haben die Behörden der EU und Großbritanniens Billionen von Euro und Pfund an Rettungsgeldern für Banken und Unternehmen verteilt. Die Aktienkurse sind in die Höhe geschossen, und einzelne Multimilliardäre wie der Franzose Bernard Arnault haben ihr persönliches Vermögen um zig Milliarden Euro vermehrt. Dennoch gab es kein öffentliches Investitionsgramm, um die Produktionskapazitäten für Impfstoffe massiv auszuweiten und die Infrastruktur zu schaffen, die für die Verteilung benötigt wird. Die Budgets für das Gesundheitswesen blieben klamm. Stattdessen flossen Milliarden an genau die privaten Unternehmen, die von der Krise profitierten.

Es wäre dringend notwendig, eine globale Politik von physischer Distanzierung und Massenimpfungen durchzuführen. Dies wurde jedoch durch die Profitinteressen der Unternehmen und die nationalen Interessen der konkurrierenden kapitalistischen Mächte blockiert. Unter der Politik der „Herdenimmunität“, die Hunderttausende das Leben kostete, trieben Regierungen und Gewerkschaften die Arbeiter zurück zur Arbeit und Jugendliche in die Schulen. Gleichzeitig sorgte der kapitalistische Markt für ein Fiasko.

Im vergangenen Oktober legten die EU, Großbritannien und die USA ein Veto gegen die Anträge Indiens und Südafrikas ein, die Herstellung von Generika als Impfstoffen zuzulassen. Denn dies hätte die Profitinteressen der europäischen und US-amerikanischen Konzerne bedroht. Sie hätten ihr Impfstoffmonopol auch nicht mehr als diplomatische Waffe einsetzen können. Aus dem gleichen Grund waren die EU, Großbritannien und die USA gegen die internationale Auslieferung von Impfstoffen, die von China und Russland hergestellt werden.

Im Dezember gab Pfizer/BioNTech bekannt, dass es die für die EU zugesagte Menge von 12,5 Millionen Dosen bis Ende 2020 nicht erfüllen werde. Das Unternehmen versprach, die Produktion in Europa zu erhöhen. Es machte aber deutlich, dass dies vom Ergebnis der Verhandlungen mit den Herstellern auf dem Kontinent abhängen werde.

Im Januar kündigte Moderna Lieferkürzungen von mehr als 20 Prozent sowohl nach Italien als auch nach Frankreich an.

Der Hersteller des einzigen anderen Impfstoffs, der von der Europäischen Arzneimittelbehörde zugelassen wurde, Oxford-AstraZeneca, hat fortwährend Verzögerungen und Kürzungen von Lieferungen angekündigt. Am 23. Februar berichtete Reuters unter Berufung auf einen anonymen EU-Beamten, dass AstraZeneca seine Lieferungen für das zweite Quartal um mehr als 50 Prozent reduzieren und von April bis Juni nur 90 Millionen statt der zugesagten 180 Millionen bereitstellen wird. Am 6. März berichtete die Financial Times, dass die EU versucht, den in den USA hergestellten Impfstoff von AstraZeneca zu bekommen.

AstraZeneca wusste bereits Anfang Januar von den Produktionsausfällen, gab aber erst Ende desselben Monats bekannt, dass es nur 40 Millionen der 90 Millionen Dosen für das erste Quartal ausliefern würde. Der Mangel an Impfstoff zwang Frankreich, alle Impftermine in der Region Île-de-France um Wochen zu verschieben, und auch Spanien musste seine Kampagne zurückstellen.

Die Ankündigung von AstraZeneca führte zu einem erbitterten nationalistischen Konflikt zwischen der EU und Großbritannien. Die EU verlangte, dass ein Teil der Impfstoffe, die in zwei britischen Werken produziert werden, umgeleitet wird, um die Zusagen von AstraZeneca gegenüber der EU zu erfüllen. Die britische Regierung lehnte dies ab. Am 28. Januar erließ die EU für mehrere Stunden ein Exportverbot für Impfstoffe nach Irland. Sie hob die Entscheidung erst auf, nachdem Johnson die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula Von der Leyen angerufen hatte, um „ernste Bedenken“ wegen der Maßnahme zu äußern.

In derselben Woche kündigten mehrere europäische Länder an, den Einsatz des Impfstoffs von AstraZeneca einzuschränken. Sie begründeten dies mit wissenschaftlichen Bedenken hinsichtlich seiner Wirksamkeit. Europäische Regierungen und Medien, die sich auf Regierungsquellen beriefen, begannen mit einer unverantwortlichen Propagandakampagne, um das Vertrauen in den Impfstoff zu untergraben.

Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte am 29. Januar: „Wir denken heute, dass der [AstraZeneca-] Impfstoff für die über 65-Jährigen praktisch unwirksam ist“ – ohne einen Beweis für diese Behauptung anzuführen. Das Handelsblatt zitierte eine ungenannte deutsche Regierungsquelle mit der Behauptung, der Impfstoff von AstraZeneca habe bei älteren Menschen offenbar nur eine Wirksamkeit von acht Prozent.

Diese Aussagen hatten keinerlei wissenschaftliche Basis. Bei den acht Prozent handelt es sich um den Anteil der 56- bis 69-Jährigen, die an den AstraZeneca-Impfstoffstudien teilgenommen haben. Die meisten Teilnehmer waren zwischen 18 und 55 Jahre alt. Weniger als 1.500 waren über 55 Jahre alt, und 450 über 70 Jahre.

Die europäische Arzneimittelagentur hatte die relativ geringe Anzahl älterer Studienteilnehmer zur Kenntnis genommen, als sie im Januar die Verwendung des Impfstoffs von AstraZeneca genehmigte. Da in dieser Altersgruppe eine Immunantwort beobachtet wurde, und basierend auf den Erfahrungen mit anderen Impfstoffen, könne eine ähnliche Wirksamkeit bei älteren Patienten vorhergesagt werden. Außerdem sollten weiterhin Daten gesammelt und analysiert werden.

Die erste Analyse der klinischen Studien von AstraZeneca, basierend auf einem Schema von zwei Dosen im Abstand von vier Wochen, führte zu der Schätzung, dass es mit einer Wirksamkeit von 62 Prozent alle symptomatischen Fälle verhindert. In einem neueren Artikel, der am 6. März im Lancet veröffentlicht wurde, wird die Auffassung begründet, dass dieser Wert auf ca. 81 Prozent steigt, wenn die beiden Dosen des Impfstoffs in einem größeren zeitlichen Abstand verabreicht werden.

Sowohl die klinischen Studien von Moderna als auch die von Pfizer wiesen geschätzte Wirkungsgrade von 94 bis 95 Prozent auf.

Jüngste englische und schottische Studien zeigen, dass die Impfstoffe von AstraZeneca und Pfizer, wenn eine einzige Dosis der Impfstoffe verabreicht wird, – was zwar gegen die Herstellerempfehlungen verstößt, aber im Einklang mit den Richtlinien der britischen Regierung steht – in etwa genauso effizient sind, um symptomatische Covid-19-Fälle zu verhindern (etwa 60 Prozent) und die Hospitalisierungsrate bei älteren Patienten zu senken (um etwa 80 Prozent).

Nach der Veröffentlichung dieser Studien hat die deutsche Regierung den Impfstoff von AstraZeneca für Personen über 65 Jahren zugelassen. Die französische Regierung änderte ihre Meinung ähnlich abrupt und erklärte, dass der Impfstoff von AstraZeneca genauso effizient ist wie der von Moderna und Pfizer, außer bei den ältesten Altersgruppen. Sie empfiehlt, ihn bei allen Patienten unter 75 Jahren einzusetzen, auch bei Patienten im Alter von 65 bis 74 Jahren mit schweren Vorerkrankungen. Ältere Patienten werden weiterhin mit den Impfstoffen von Moderna und Pfizer behandelt.

Am Donnerstag haben Dänemark, Österreich, Estland, Lettland, Litauen und Luxemburg den Einsatz von AstraZeneca-Impfstoffen aus einer Charge von 1 Million Dosen, die nach Europa geschickt wurde, ausgesetzt. Eine Frau in Dänemark und eine 49-jährige Krankenschwester in Österreich starben an Blutgerinnseln, nachdem sie mit AstraZeneca geimpft worden waren. Die dänischen Gesundheitsbehörden betonten, dass sie die Verwendung des Impfstoffs nur unterbrechen, und die spanische Regierung gab eine Erklärung heraus, dass sie die Verwendung des Impfstoffs von AstraZeneca nicht einstellt. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) erklärte: „Es gibt derzeit keinen Hinweis darauf, dass die Impfung die Ursache dieser Vorfälle ist, die nicht als Nebenwirkungen bei diesem Impfstoff aufgeführt sind.“

Es ist klar ersichtlich, dass die Gesundheitspolitik einschließlich der Verteilung von Impfstoffen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen muss, frei vom Einfluss von Profitstreben und nationalen strategischen Interessen, die bisher Vorrang hatten. Wichtig ist vor allem, für physische Distanzierung zu sorgen, auch durch Lockdowns, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Außerdem muss Zeit für die Herstellung von Impfstoffen eingeplant und das Auftreten neuer Varianten begrenzt werden. Dies würde Millionen von Leben retten.

Obwohl die Impfungen in Europa noch ganz am Anfang stehen, werden sie von den Regierungen als Begründung angeführt, um selbst die geringfügigen Maßnahmen zur sozialen Isolation, die es bisher gab, zu beenden. Diese kriminelle Politik wird dafür sorgen, dass sich das Virus unkontrolliert ausbreiten kann, und droht zu unzähligen unnötigen Todesfällen zu führen. Darüber hinaus haben Wissenschaftler wiederholt davor gewarnt, dass die anhaltende Ausbreitung zu Mutationen führen kann, die resistenter gegen die Impfstoffe und die durch sie hervorgerufenen Antikörper sind.

Die französische Tageszeitung Le Monde begrüßte Macrons Weigerung, einen Lockdown zu verhängen, und unterstützte „den Quasi-Konsens, der nun besteht, diese radikale Lösung abzulehnen“. Sie forderte, den AstraZeneca-Impfstoff als Mittel gegen den Lockdown zu empfehlen, und schloss daraus: „Wir müssen dringend die Einstellung gegenüber den Impfstoffen ändern, um sie als unseren wichtigsten Weg aus der Krise zu betrachten. Von diesem Gesichtspunkt aus bleibt die Botschaft der Regierung leider weit hinter dem zurück, was erforderlich ist.“

In Einklang mit ihrer gesamten „Herdenimmunitäts“-Politik benutzt die europäische Bourgeoisie die Impfstoffe als Vorwand, um Maßnahmen zur physischen Distanzierung weiter abzubauen. Sie lässt die Ausbreitung des Virus zu, um die Produktion aufrechtzuerhalten und die Profite der Konzerne zu steigern.

Die entscheidende Frage ist die politische Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Europa und der Welt gegen die gescheiterte Politik der herrschenden Klasse und für eine wissenschaftlich fundierte Politik. Im Zentrum steht der Kampf für soziale Distanzierung und Lockdowns, um Zeit für die Impfung zu gewinnen. Das vergangene Jahr der Pandemie hat gezeigt, dass ein solcher Kampf nicht unter der Kontrolle der Gewerkschaften und des politischen Establishments organisiert werden kann, die alle die Politik der Herdenimmunität unterstützen. Die Arbeiter brauchen dazu ihre eigenen Organisationen.

Solche Organisationen wiederum brauchen eine sozialistische Perspektive und ein sozialistisches Programm. Die Lockdowns können nicht aufrechterhalten werden, ohne dass den Arbeitern und kleinen Unternehmen existenzsichernde Löhne gezahlt werden. Die Umwandlung der Pharmakonzerne in öffentliche Versorgungsbetriebe, die der demokratischen Kontrolle durch die Arbeiter unterliegen, und nicht den Profit- und strategischen Interessen der Banken und imperialistischen Regierungen, erfordert einen revolutionären Kampf gegen die gesamte EU und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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