Brasilien: Zusammenbruch des Gesundheitssystems, Covid-19-Tote können nicht mehr bestattet werden

Brasilien hat sich durch einen immensen Anstieg der Covid-19-Infektionen und -Todesfälle während des letzten Monats in das globale Epizentrum der Pandemie verwandelt. Im Laufe dieser Woche wird das größte Land Südamerikas den düsteren Meilenstein von 300.000 Toten durch Covid-19 erreichen, von denen 100.000 in den ersten Monaten dieses Jahres gestorben sind.

Krankenbetten mit Covid-19-Patienten in einem Behelfslazarett im Sportstadion von Santo Andre, einem Vorort vonSão Paulo, am 4. März 2021 (AP Photo/Andre Penner)

Die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Brasilien ist vom 18. Februar bis zum 18. März von durchschnittlich 45.000 auf durchschnittlich fast 72.000 angestiegen. Am Freitag wurde der Höchstwert von 90.570 neuen Fällen gemeldet. In den letzten vier Wochen hat sich die Zahl der täglichen Todesfälle durch Covid-19 verdoppelt – am Dienstag wurde mit 2.841 neuen Todesfällen der höchste Wert erreicht.

Die arbeitende Bevölkerung Brasiliens fragt sich, wann dieser Albtraum enden wird. Doch die jüngsten Entwicklungen der Pandemie deuten darauf hin, dass der Höhepunkt der Katastrophe in ihrem Land noch lange nicht erreicht ist.

Letzte Woche warnte die Oswaldo Cruz Foundation (Fiocruz), die Studien über die öffentliche Gesundheit erstellt, es habe bereits „der größte Zusammenbruch des Gesundheits- und Krankenhaussystems in der Geschichte Brasiliens stattgefunden“. Aktualisierte Daten vom Mittwoch zeigen, dass in 26 der 27 Bundesstaaten die Intensivbettenkapazität zu 80 Prozent ausgelastet ist. In 19 Bundesstaatshauptstädten liegt sie bei über 90 Prozent.

Patienten in kritischem Zustand erhalten im ganzen Land keine angemessene Behandlung und sterben, während vor ihnen bereits Tausende andere auf Behandlung warten. Im Bundesstaat Santa Catarina ist die Kapazität der Intensivpflegebetten zu 97 Prozent ausgelastet. Mehr als 450 Menschen stehen auf der Warteliste, und 130 sind bereits, ohne Intensivbehandlung zu bekommen, gestorben. Die Krankenhäuser des Bundesstaats haben ein „Protokoll zur Vergabe knapper Mittel während der Corona-Pandemie“ angenommen, das Kriterien enthält, wer eine Behandlung und damit eine Überlebenschance erhält und wen man sterben lässt.

Aus der Überfüllung der Gesundheitseinrichtungen ergibt sich die unmittelbare Gefahr weit verbreiteter Engpässe bei Materialien des medizinischen Grundbedarfs. Die für Intubationen notwendigen Medikamente wie Anästhetika und Muskelentspannungsmittel sind in vielen Krankenhäusern im ganzen Land bereits knapp. Laut einem Bericht der Tageszeitung Folha de São Paulo sind die Bestände von 21 Intensivpflegemedikamenten bereits so gut wie erschöpft.

Wie General Ridauto Lúcio Fernandes, Berater der Logistikabteilung des Gesundheitsministeriums, am Donnerstag bei einer öffentlichen Anhörung im Senat erklärte, ist sich das Gesundheitsministerium bewusst, dass „in den nächsten Tagen mit einem gefährlichen Mangel [an Sauerstoff] in kleineren Krankenhäusern“ gerechnet wird. Er fügte hinzu: „Das gilt für ganz Brasilien.“

Entwicklung der Intensivbettenbelegung in Brasilien von Beginn der zweiten Welle am 7. Dezember bis zum 15. März (Quelle: FIOCRUZ)

 

Brasilien bewegt sich rapide auf das nächste Stadium der Corona-Katastrophe zu – dazu gehört auch der umfassende Zusammenbruch des Bestattungssystems. Der brasilianische Arzt und Neurowissenschaftler, Miguel Nicolelis, hatte bereits vor Monaten gewarnt, ohne sofortige landesweite Lockdowns „werden wir nicht mehr in der Lage sein, unsere Toten zu begraben“. Letzte Woche wies er auf Indizien hin, dass sich seine düstere Prognose bereits bewahrheitet.

Am Mittwoch legten Bewohner der Stadt Vitória de Santo Antão im Inneren des Bundesstaats Pernambuco fotografische Beweise dafür vor, dass auf dem örtlichen Friedhof Berge verwesender Leichen im Freien abgeladen wurden. Nicolelis erklärte dazu auf Twitter: „Der Zusammenbruch des Bestattungssystems beginnt normalerweise so, in Kleinstädten.“ In einem Interview mit UOL beschrieb er diese Situation als „Risiko von viel größerem Ausmaß, weil es dann auch zu sekundären Bakterieninfektionen und der Verseuchung von Böden, dem Grundwasser und Nahrungsmitteln kommen könnte.“

Einer der Hauptgründe, die Forscher für den Anstieg der Fallzahlen in Brasilien anführen, ist die Verbreitung der ansteckendsten Variante des Corona-Virus, die aus Manaus stammt. Studien deuten darauf hin, dass die Variante P.1 Reinfektionen auslösen kann und resistent gegen Impfstoffe ist. Damit bedroht sie die nationale Impfkampagne, in deren Rahmen erst fünf Prozent der Bevölkerung ihre erste Dosis erhalten hat.

Die als P.1 bekannte Variante aus Manaus, die sich jetzt weltweit ausbreitet und die ganze Menschheit gefährdet, war das direkte Ergebnis eines Experiments der herrschenden Klasse mit der Politik der „Herdenimmunität“.

Nach einer schrecklichen ersten Welle der Pandemie, durch die in Manaus das Gesundheitswesen und das Bestattungssystem zusammenbrach, setzte der rechte Gouverneur des Bundesstaates, Wilson Lima von der Partido Social Cristiano (PSC), das Leben der Bevölkerung des Bundesstaates aufs Spiel, indem er die uneingeschränkte Wiederöffnung der Wirtschaftsaktivität und der Schulen propagierte. Dieses Experiment wurde im ganzen Land wiederholt, sodass Brasilien zurecht als Freilandlabor für die Züchtung von ansteckenderen Varianten des Corona-Virus bezeichnet wurde.

Selbst angesichts dieser katastrophalen Situation verfolgt der faschistische Präsident Jair Bolsonaro weiterhin eine Politik der „Herdenimmunität“ und der Normalisierung des Massensterbens. Gegenüber rechtsextremen Presseoutlets deutete er an, die Berichte über landesweite Kapazitätsauslastungen der Intensivpflegebetten aufgrund von Covid seien gefälscht, und fragte: „Wie viele sind an Covid gestorben, und wie viele an anderen Krankheiten?“

Doch die Alternative zu Bolsonaros offen soziopathischer Politik, die seine so genannten Gegner im politischen Establishment Brasiliens anbieten, ist bestenfalls eine Politik krimineller Fahrlässigkeit.

Vor einem Jahr, als es in Brasilien nicht einmal 50 Covid-19-Tote gab, kritisierte die Gouverneurin von São Paulo, João Doria von der Partido Social Democratico, zynisch Bolsonaros Gleichgültigkeit: „Das sind keine fingierten Toten, Herr Präsident, und das ist auch keine ,kleine Grippe‘ [wie Bolsonaro Covid-19 bezeichnet hatte].“

Seither gab es im Bundesstaat São Paulo 66.000 Todesopfer, allein am letzten Donnerstag kamen 659 dazu. Dorias so genannter São-Paulo-Plan zur Bekämpfung der Pandemie basiert auf einem willkürlichen Farbcode-System an Einschränkungen ohne wissenschaftliche Basis und hat sich als Fiasko erwiesen. Doria war die Hauptverantwortliche für die unsichere Wiederöffnung des größten Schulsystems des Landes – eine Politik, die seit Februar dutzenden Lehrkräften das Leben gekostet und hunderte Ausbrüche an Schulen verursacht hat.

Vor einem Jahr hatte sich Doria als Vorkämpferin für die Wissenschaft inszeniert, und die Gouverneure der nordöstlichen Bundesstaaten, die von der Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) und ihren Verbündeten, der maoistischen Partido Comunista do Brazil (PCdoB) und der Partido Socialista do Brazil (PSB) regiert wurden, hatten das wissenschaftliche Komitee des Nordostkonsortiums gegründet. Miguel Nicolelis wurde der Vorsitz angeboten.

Dass Nicolelis mittlerweile vom Vorsitz zurückgetreten ist, verdeutlicht die Kluft zwischen der Politik dieser Regierungen und der Wissenschaft. Letzte Woche kritisierte er in einem Interview mit UOL zudem offen die Haltung des Gouverneursforums, das von Wellington Dias (PT) angeführt wird: „Ich warte. Seit zwei Wochen habe ich von den Gouverneuren gehört, sie werden sich in diesem nationalen Komitee organisieren [um einen koordinierten Lockdown umzusetzen], den ich seit Dezember gefordert habe. Das wissenschaftliche Komitee des Nordostens hat ihn unterstützt, doch der ‚Smalltalk‘ geht weiter.“

Während diese Kräfte nicht einmal ansatzweise eine konsequente Politik zur Bekämpfung der katastrophalen Pandemie haben, hat Bolsonaro deutlich gemacht, dass er keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus tolerieren wird. Am Donnerstag klagte er vor dem Obersten Gerichtshof (STF) gegen die Dekrete der Gouverneure von Bahia, dem Hauptstadtdistrikt und von Rio Grande do Sul, die „Ausgangssperren“ verhängt hatten. Er bezeichnete diese Maßnahmen als „verfassungswidrig“.

In Verteidigung seiner Klage ließ Bolsonaro keinen Zweifel daran, dass seine faschistischen diktatorischen Drohungen mit seiner völkermörderischen Pandemie-Politik Hand in Hand gehen. Er erklärte, wenn das Gericht nicht in seinem Sinne entscheide, werde die Regierung die Sache selbst in die Hand nehmen: „Ist die Bevölkerung bereit für ein derart hartes soziales Durchgreifen der Bundesregierung? Was ist hart? Der Bevölkerung Freiheit zu geben. Der Bevölkerung das Recht auf Arbeit zu geben. Nein, das bedeutet keine Diktatur.“ Doch, es bedeutet genau das.

Das Corona-Virus erkennt keine Landesgrenzen an. Eine unkontrollierte Pandemie in Brasilien bedeutet eine unkontrollierte Pandemie überall auf der Welt. Die Arbeiterklasse muss diesen katastrophalen Bedingungen und den Bedrohungen durch die herrschende Klasse in allen Ländern mit unabhängigem politischem Handeln entgegentreten. Sie muss alle nicht systemrelevanten wirtschaftlichen Aktivitäten einstellen, dabei allen Arbeiterfamilien volles Einkommen garantieren und für ein sozialistisches internationalistisches Programm gegen die kapitalistische Politik von Tod und Diktatur kämpfen.

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