Mehr als 365.000 Todesopfer: Brasilien droht „humanitäre Katastrophe“

Die Zahl der Toten durch Covid-19 in Brasilien überschritt letzte Woche die Marke von 365.000, während sich die Pandemie in bisher beispielloser Weise ausbreitet. Im Lauf der letzten Woche stieg die Zahl der Toten um 21.000, der gleitende Tagesdurchschnitt an Infektionen und Toten stieg damit um 0,9 Prozent bzw. 1,1 Prozent. Am Donnerstag wurden mehr als 66.000 Fälle und 2.900 Todesopfer gemeldet. Ein neuer Bericht der Oswaldo Cruz Foundation (Fiocruz) verweist auf eine Tendenz zur Stabilisierung der Fallzahlen auf derart hohem Niveau. Gleichzeitig verzeichneten 14 Bundesstaaten und der Bundesdistrikt einen Anstieg des gleitenden Durchschnitts bei den Todesfällen.

Impfstofflieferung in Pernambuco (Quelle: Sérgio Bernardo/SEI/FotosPublicas)

Die jüngste Veröffentlichung der ethischen Protokolle der brasilianischen Ärztevereinigung verdeutlicht den Zusammenbruch des Gesundheitssystems: Angesichts der überlasteten Intensivstationen und der Engpässe bei medizinischen Versorgungsgütern wie Beruhigungsmitteln und Muskelentspannungsmitteln, die für die Intubation benötigt werden, müssen Ärzte darüber entscheiden, wer behandelt wird. Derzeit sind in 16 Bundesstaaten und dem Bundesdistrikt die Intensivstationen zu über 90 Prozent belegt.

Die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (auch bekannt unter ihrem französischen Akronym MSF), die auch in Brasilien aktiv ist, bezeichnete die dortige Corona-Krise am Donnerstag als „humanitäre Krise“. Die kriminelle Reaktion der Regierung auf die Pandemie „hat Brasilien in einen permanenten Trauerzustand versetzt und das Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs geführt”.

Aufgrund der schrecklich hohen Zahl an Todesopfern verzeichneten acht Bundesstaaten innerhalb der ersten 12 Tage im April einen Bevölkerungsrückgang, d.h. es wurden mehr Sterbeurkunden als Geburtsurkunden ausgestellt. Die dicht besiedelte Region Sudeste verzeichnete zwischen dem 1. und 15. April 34.592 Geburten und 40.084 Tote, was einem Bevölkerungsrückgang von 5.492 entspricht. Die Region Sul (Süden) verzeichnete bereits im März mit 34.402 Geburten und 34.719 Toten einen Bevölkerungsrückgang.

Im Bundesstaat Rio de Janeiro reduzierte sich die Bevölkerungszahl in sechs aufeinander folgenden Monaten zwischen Dezember 2020 und März dieses Jahres mit 76.541 Geburten und 85.166 Todesfällen um 8.265.

Ein solcher Bevölkerungsrückgang ist in der Geschichte Brasiliens beispiellos. Er fällt zusammen mit der Veröffentlichung einer neuen Studie der Universität Harvard, laut der die Lebenserwartung in Brasilien im Jahr 2020 von 76,7 auf 74,8 Jahre, d.h. um 1,94 Jahre, gesunken ist. Obwohl das Land die zweithöchste Zahl an Todesopfern weltweit verzeichnete, ist der Rückgang der Lebenserwartung stärker als in den USA, dem Land mit den meisten Todesopfern. Dort sank die Lebenserwartung um 1,13 Jahre von 78,8 auf 77,8 Jahre.

Obwohl offen gelegt wurde, dass die herrschende Klasse ein noch größeres Verbrechen begangen hat, als es der Ausbruch in Manaus im Januar war, wird die Bedeutung des Bevölkerungsrückgangs von den führenden Zeitungen ignoriert oder verharmlost. Gleichzeitig propagieren sie die Öffnung der Wirtschaft, die im ganzen Land durchgesetzt wird.

Angesichts der Entscheidung der Bundesregierung, im Jahr 2021 zum zweiten Mal die Mittel für die nationale Volkszählung zu kürzen, spielte der ehemalige Präsident des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik, Sérgio Besserman, der momentan Mitglied des Beratergremiums der Zensusbehörde ist, in einem Interview mit dem Podcast des Medienkonzerns Globo das beispiellose Ausmaß der Todesfälle herunter. Als Reaktion auf die Meldungen über einen Bevölkerungsrückgang erklärte er: „Sterbeurkunden werden sofort angefordert, Geburtsurkunden können warten und werden teilweise erst nach Monaten ausgestellt.“

Hier geht es nicht um fehlende Informationen über die Zahl der Geburten – die sogar angestiegen ist –, sondern um die gewaltige Zunahme der Sterbeurkunden als direkte Folge der Pandemie. Laut dem nationalen Verband der Meldeämter (ARPEN) wurden in der Region Sul im März letzten Jahres 28.820 Geburts- und 15.762 Sterbeurkunden ausgestellt, im März 2021 jedoch 34.211 Geburts- und 34.4569 Sterbeurkunden. Berichten zufolge wurden im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul im März 52,3 Prozent der Todesfälle durch Covid-19 verursacht. Im Februar lag der Prozentsatz noch bei 24,31.

Professor Ali Mokdad vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) prognostizierte, dass die Zahl der Toten in Brasilien im April die katastrophale Marke von 100.000 pro Monat erreichen wird, d.h. um ein Drittel höher als die Zahl der Toten im März. Mokdad wies auch darauf hin, dass im Falle einer neuen Welle im kommenden Winter mit noch höheren Todeszahlen zu rechnen sei, da „momentan für Brasilien nicht genug Impfstoff bereit steht, um bis zum Winter die Herdenimmunität zu gewährleisten“.

Die Verteilung des Impfstoffs wird immer wieder von Verzögerungen beeinträchtigt. Die Bundesregierung musste ihre ursprüngliche Prognose, im April würden 47 Millionen Dosen verabreicht, auf 26 Millionen senken. Die am meisten eingesetzten Impfstoffe sind Coronavac oder AstraZeneca. Bei dem derzeitigen Tempo wird die Impfung des größten Teils der Bevölkerung bis Ende nächsten Jahres dauern.

Die Regierung hat derweil die Bewilligung neuer Hilfsgelder verzögert, sodass die wehrlosesten Teile der Bevölkerung seit mehr als drei Monaten keine Unterstützung erhalten. Die neuen Hilfszahlungen sind zudem drastisch gekürzt – um mehr als die Hälfte – und werden an strengere Anspruchskriterien geknüpft, sodass die Zahl der Empfänger von 68 Millionen auf 45,6 Millionen sinkt. Der faschistische Präsident Jair Bolsonaro verteidigt diese kriminelle Politik offen und erklärte kürzlich, er persönlich hätte überhaupt keine Hilfsgelder bewilligt.

Unterernährung und Ernährungsunsicherheit in Brasilien während der Pandemie

Laut Daten der Forschungsgruppe Food for Justice am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin hatten in Brasilien seit Beginn der Pandemie 125,6 Millionen Menschen oder 59,4 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu qualitativ hochwertiger oder ausreichender Nahrung. Für diese Studie wurden 2.000 Erwachsene zwischen August und Dezember interviewt.

Die Studie zeigte einen deutlichen Rückgang des Konsums von Obst (41 Prozent), Fleisch (44 Prozent), Käse (40,4 Prozent) und Gemüse (36,8 Prozent) während der Pandemie.

Sie kam auch zu dem Ergebnis, dass 63 Prozent der Empfänger von Hilfsgeldern diese zum Kauf von Nahrungsmitteln benutzten und 27,8 Prozent für die Zahlung ihrer Rechnungen. Das Ergebnis der Studie, dass Haushalte, die Leistungen erhalten, dreimal wahrscheinlicher unter Ernährungsunsicherheit leiden als andere, verdeutlicht die verzweifelten Lebensumstände von Millionen von Arbeitern. Sie zeigt auch, dass die Abschaffung der staatlichen Leistungen und die Einführung einer neuen und gekürzten Variante kriminell sind und Millionen zu Unterernährung und Hunger verdammen.

Die Bundesstaatsregierungen und Bolsonaro unterstützen die Politik der „Herdenimmunität“

Während Bolsonaro die Wiederöffnung der Wirtschaft offen verteidigt, vertreten die Bundesstaatsregierungen die gleiche mörderische Politik der Herdenimmunität. Die Gouverneure selbst setzen die Wiederöffnungen um.

Die Gouverneure machen die Bundesregierung für die derzeitige Gesundheitskrise verantwortlich und weisen darauf hin, dass die Bundesregierung im letzten August den Kauf von 13 Sorten wichtiger Medikamente, so genannter „Intubations-Kits“, storniert hat, die für die Behandlung schwerer Fälle von Covid-19 benötigt werden. Diese Arzneimittel fehlen jetzt in den Intensivstationen. In elf Staaten besteht bereits ein akuter Mangel an diesen Kits.

In São Paulo, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat des Landes, hat jedoch die Regierung von Gouverneur João Doria von der rechten Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) einen Rückgang bei der Auslastung der Intensivpflegekapazitäten auf knapp unter 90 Prozent als Rechtfertigung für die Öffnung der Wirtschaft benutzt. Am Montag stufte die Bundesstaatsregierung ihre Einschränkungen zur Bekämpfung von Covid-19 von „Notfallphase“ auf „Phase Rot“ zurück. Sportveranstaltungen sind jetzt ohne Zuschauer erlaubt, in Geschäften und in Restaurants ist Außenbedienung möglich. Schulen durften bereits in der vorherigen Phase mit 35 Prozent Kapazität öffnen. Fabriken, Unternehmen und Geschäften wurde nur „empfohlen“, zeitversetzte Arbeitspläne zu organisieren. Einige Regionen, in denen die Intensivstationen zu fast 85 Prozent ausgelastet sind, erwägen bereits den Übergang zur „orangenen Phase“, in der auch die persönliche Bedienung von Kunden in Restaurants und Geschäften erlaubt wäre.

Am Mittwoch, zwei Tage nach der Lockerung der Einschränkungen, erklärte die Bundesstaatsregierung in einem Brief an das Gesundheitsministerium, die Lage im Bundesstaat sei „ernst“. Sie warnte, der Mangel an Intubations-Kits werde in Kürze zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen.

Am 24. Februar verzeichnete Brasilien angesichts der Ausbreitung der Manaus-Variante einen Rekord bei der Belegung der Intensivstationen und mehr als 350.000 neue Fälle pro Woche. Dennoch weigerte sich der Gouverneur von São Paulo, Schulen zu schließen und nicht systemrelevante Aktivitäten einzustellen. Stattdessen kündigte er einen begrenzten Plan zur Schließung von nicht systemrelevanten Betrieben während der Nacht an, wobei jedoch der Großteil der Wirtschaft geöffnet blieb. Dazu erklärte er: „Tote konsumieren nichts.“

Am 16. März, als die Intensivstationen in Dutzenden von Städten, u.a. im „ABC“-Industriegürtel, zu über 100 Prozent ausgelastet waren, verlängerte Gouverneur Doria die nächtliche Schließung von nicht systemrelevanten Unternehmen und setzte den Präsenzunterricht aus. Einen Lockdown führte er jedoch trotzdem nicht ein.

Diese Maßnahme sollte vor allem den völligen Zusammenbruch des Gesundheitssystems vorübergehend verhindern. Die Einschränkungen, die Wochen vor der ersten Auszahlung der neuen verringerten Hilfsgelder und Monate nach der letzten Zahlung in alter Höhe getroffen wurden, haben die Mobilität in den Städten kaum verringert. Arbeiter sind gezwungen, das Haus zu verlassen, um für ihre Grundbedürfnisse zu sorgen.

Am 26. März wurde der Schulbetrieb als „systemrelevante“ Aktivität eingestuft, obwohl laut Schätzungen zwischen April und Mai bis zu 5.000 Menschen pro Tag an der Pandemie sterben könnten. Am 30. März wurde der Präsenzunterricht an Privatschulen und öffentlichen Schulen ab der Woche vom 12. April erlaubt.

Diese Öffnungen werden in allen anderen Bundesstaaten ebenfalls durchgesetzt, auch in denjenigen, die von der sozialdemokratischen PT regiert werden.

Im Bundesstaat Ceará, wo in der vorletzten Woche 823 Todesfälle und mehr als 25.000 Neuinfektionen gemeldet wurden, behauptete die PT-Regierung von Camilo Santana am Samstag wahrheitswidrig: „Die Zahl der Toten und die Belegung der Intensivstationen geht zurück.“ Er kündigte die Wiederöffnung von Restaurants, Einkaufszentren, Geschäften, Kirchen und Schulen an. Die nicht systemrelevante Produktion, Kindertagesstätten und der Präsenzunterricht für unter Dreijährige wurden in dem Bundesstaat nie ausgesetzt. Letzte Woche kündigte der Gouverneur die Öffnung der Schulen für ältere Kinder und Jugendliche an.

Die Regierungen in den Bundesstaaten und die Zentralregierung, einschließlich der angeblich durch die „oppositionelle“ PT angeführten, lehnten alle Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ab, die die Profitinteressen der herrschenden Elite gefährden würden. Im Oktober, vor den Kommunalwahlen im November, als alles darauf hindeutete, dass sich Brasilien zum neuen globalen Epizentrum der Pandemie entwickeln wird, verbreiteten die Leitmedien eine Studie über die Frage, ob Manaus „Herdenimmunität“ erreicht habe, d.h. ob sich genug Menschen infiziert haben, um die Gesamtbevölkerung immun zu machen. Die Verfasser der Studie erklärten, ein positives Ergebnis dürfe nicht für die öffentliche Gesundheitspolitik benutzt werden. Doch die Medien berichteten gerade deshalb darüber, um das Offenhalten der Wirtschaft zu rechtfertigen.

Das unmittelbare Ergebnis der Herdenimmunitätspolitik in Manaus war, dass sich die Stadt im Januar erneut in ein Epizentrum des Coronavirus verwandelte. Patienten starben in den Krankenhausfluren oder außerhalb der Krankenhäuser, weil es keine Sauerstoffflaschen gab. Die Bundesregierung hatte den Bedarf an zusätzlichen Ressourcen zur Vorbereitung der zweiten Welle in Manaus ignoriert.

Am Samstag erklärte der Präsident des Nationalen Gesundheitsrats Fernando Pigatto: „Dies ist der schlimmste Moment in der Pandemie.“ Er sprach sich für einen sofortigen landesweiten Lockdown aus, um die Ausbreitung des Coronavirus aufzuhalten und betonte, diese Maßnahme müsse kombiniert werden mit Hilfsgeldern und Unterstützung für Kleinunternehmer.

Professor Dr. Alcides Miranda von der Staatlichen Universität von Rio Grande do Sul erklärte: „Man hat auf die Idee gesetzt, die Wirtschaft ,normal‘ laufen zu lassen auf Kosten der Herdenimmunität. Die Folge waren Zehntausende vermeidbare Todesfälle.“

Es gäbe jedoch noch einen anderen Weg, der Menschenleben über Profite stellt, Hunderttausende von vermeidbaren Toten verhindert und noch immer viele Hunderttausende Menschenleben retten könnte. Dieser Weg erfordert jedoch die internationale koordinierte Umsetzung einer wissenschaftlichen Herangehensweise zur Beendigung der Pandemie und die Bereitstellung von massiven Ressourcen für das Gesundheitswesen und die Infrastruktur, um das Leben von Arbeitern und Armen zu schützen und ihnen volle Einkommensentschädigung zu gewährleisten.

Dies erfordert jedoch zwingend die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse im Kampf für ihr eigenes Programm zur Eindämmung von Covid-19. Dazu gehören ein vollständiger Lockdown sowie volle Entschädigung für alle Arbeiter und ihre Familien, damit sie zu Hause in Sicherheit bleiben können. Es erfordert ferner eine sozialistische Politik, darunter die Enteignung der immensen Vermögen, die die herrschende Oligarchie Brasiliens mitten im Massensterben angehäuft hat, um eine grundlegende Gesundheitsversorgung und die Erfüllung sozialer Bedürfnisse bezahlen zu können.

Um diesen Kampf zur Verteidigung von Menschenleben gegen privates Profitstreben zu führen, müssen die Arbeiter neue Kampforganisationen aufbauen. Dazu gehören Aktionskomitees, die unabhängig und gegen die pro-kapitalistischen Gewerkschaften für Arbeitermacht und die sozialistische Neuorganisation der Wirtschaft kämpfen.

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