Perspektive

Modi will Indien vor dem Lockdown retten - nicht vor Infektion und Tod

Indien, wo mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt, wird nun von einer gesundheitlichen und sozialen Katastrophe heimgesucht, die vorhersehbar war und sehenden Auges in Kauf genommen wurde.

Covid-Test in Srinagar in der indisch kontrollierten Kashmir-Region, 8. Mai 2021. (AP Photo/Dar Yasin)

Allein in den vergangenen fünf Tagen verzeichnete Indien offiziell 2 Millionen Covid-19-Neuinfektionen und 20.928 Todesfälle. Seit Montag, dem 12. April, ist die Anzahl der Covid-19-Neuinfektionen in Indien um 8,99 Millionen oder mehr als 65 Prozent gestiegen, womit sich die Gesamtzahl der Infektionen seit Beginn der Pandemie auf 22,6 Millionen erhöht hat. Während desselben vierwöchigen Zeitraums tötete das neuartige Coronavirus 75.213 Inder, mehr Menschen als irgendwo sonst auf der Welt.

So erschütternd diese Zahlen auch sind, sie stellen nur einen Bruchteil der wahren Zahl von Infektionen und Todesfälle in Indien dar. Dies geben alle zu außer die eingefleischtesten Verteidigern von Premierminister Narendra Modi und seiner rechtsextremen Regierung der Bharatiya Janata Party (BJP).

Daten des indischen Gesundheitsministeriums zeigen, dass die Rate der positiven Covid-19-Tests derzeit in 301 der 718 indischen Bezirke bei mehr als 20 Prozent liegt - und bei mehr als 30 Prozent in Delhi, der Hauptstadt Indiens und dem größtem urbanen Ballungsraum des Landes. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont schon lange, dass eine Positivrate von 5 Prozent oder mehr auf eine ernstzunehmende Untererfassung von Infektionen hinweist.

Vor der Pandemie erfasste das marode und chronisch unterfinanzierte indische Gesundheitssystem nur bei einem Viertel aller Todesfälle die medizinische Ursache, wobei viele Todesfälle im ländlichen Indien nicht einmal registriert werden. Studien und Erhebungen von Gesundheitsexperten und Journalisten in den letzten Wochen haben gezeigt, dass ein Vielfaches mehr Leichen nach den Sicherheitsvorschriften bei Covid-19-Fällen eingeäschert und begraben werden als die Behörden selbst angeben. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Tageszeitung in Modis Heimatstaat Gujarat, Sandesh, hat herausgefunden, dass nur einer von zehn Covid-19-Todesfällen in den großen städtischen Zentren des Staates offiziell der Pandemie zugeschrieben wird. In Rajkot, einer Stadt mit 2 Millionen Einwohnern, starben in der zweiten Aprilhälfte laut offizieller Statistik 220 Menschen an Covid-19. Im gleichen Zeitraum wurden jedoch allein in einem der sieben Krematorien der Stadt, die ausschließlich für Covid-19-Tote genutzt werden, 673 Leichen verbrannt.

In ganz Indien und überall auf der Welt waren die Menschen schockiert und empört über die Medienberichte, dass verzweifelte Erkrankte in Delhi, Mumbai und anderen indischen Großstädten keinen Zutritt zu überlasteten Gesundheitseinrichtungen erhalten konnten. Zahlreiche Menschen starben, weil den Krankenhäusern der medizinische Sauerstoff ausgegangen war, und es entstand ein Schwarzmarkt für Sauerstoffflaschen und knappe Medikamente wie Remdesivir.

Im ländlichen Indien, wo zwei Drittel der Bevölkerung des Landes leben und wo es kaum öffentliche Gesundheitseinrichtungen gibt, droht die Katastrophe noch größer auszufallen. In 15 ländlichen Bezirken, die eine Bevölkerung von einer Million oder mehr zählen, liegt die Covid-19-Positivrate derzeit bei über 50 Prozent der Tests.

Indiens käufliche kapitalistische Elite - angeführt von dem hinduistisch-autoritären Modi - ist unempfänglich für das Leid, das die Pandemie in der arbeitenden Bevölkerung anrichtet.

In einer landesweiten Ansprache am 20. April verkündete Modi, dass es das oberste Ziel seiner Regierung sei, „dieses Land vor dem Lockdown zu bewahren“ - das heißt, das Vermögen und die Profite der indischen Milliardäre und der Unternehmenselite zu stützen, und nicht, das Virus zu bekämpfen und Leben zu retten. Er forderte auch die von Covid-19 am stärksten betroffenen Bundesstaaten auf, auf strenge Maßnahmen zu verzichten und stattdessen so genannte „Mikro-Eindämmungszonen“ einzurichten.

Nach Millionen weiterer Neuinfektionen und Zehntausenden weiterer Todesfälle ist dies immer noch Staatspolitik.

„Leben ist wertvoller als die Wirtschaft“, erklärte die Indian Medical Association (IMA), die größte Ärzteorganisation des Landes, und prangerte in einer am vergangenen Samstag veröffentlichten Erklärung das Versäumnis der BJP-Regierung an, einen landesweiten Lockdown zu verhängen, um den tödlichen Anstieg des Virus zu stoppen und der „Gesundheitsinfrastruktur die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen“. „Wir sind erstaunt“, so die IMA, „über die extreme Untätigkeit und die unangemessenen Maßnahmen des Gesundheitsministeriums bei der Bekämpfung der quälenden Krise, die aus der verheerenden zweiten Welle der Covid-19-Pandemie entstanden ist.“

Die IMA drängt seit drei Wochen auf einen nationalen Lockdown und wirft der Modi-Regierung vor, die Empfehlungen von wissenschaftlichen Experten „in den Müll“ zu werfen und Entscheidungen zu treffen, „ohne die grundlegendsten Realitäten anzuerkennen“. Dies hat dazu geführt, dass die Zahl der an Covid erkrankten Patienten „jeden Tag um über vier Lakh (400.000) steigt“ und die „mittelschweren bis schweren Fälle“ auf „fast 40 Prozent“ steigen.

Die zweite Welle der indischen Pandemie begann Mitte Februar und kurz darauf begannen medizinische Experten immer nachdrücklicher schlimme Warnungen auszusprechen, dass Indien auf das Wiederaufleben von Covid-19 völlig unvorbereitet sei. Zumal alles darauf hindeutete, dass die Ausbreitung des Virus durch ansteckendere und tödlichere Virusvarianten vorangetrieben wurde, darunter die zuerst in Großbritannien identifizierte Variante B.1.1.7 und Indiens eigener „Doppelmutanten“-Stamm. Anfang März warnte ein medizinisches Expertenteam, das direkt an Modi berichtet, ausdrücklich vor einem drohenden Mangel an medizinischem Sauerstoff.

Doch die Regierung, die auf Geheiß der indischen Konzerne handelt, hat all dies unbekümmert abgetan. Mit dem Ziel, Indiens Rückkehr zur „Normalität“ zu projizieren, betrieb sie die Aufgabe der wenigen verbliebenen Covid-19-Maßnahmen. Unter anderem genehmigte sie Massenkundgebungen im Wahlkampf in den Bundesstaaten und das größte religiöse Fest der Welt (Kumbh Melah). Sofern sie die Pandemie überhaupt als Bedrohung bezeichnete, sollte diese durch eine „weltweit führende“ Impfkampagne besiegt werden - eine Kampagne, die jetzt aufgrund von Impfstoffmangel im Sande verläuft. Bis heute haben weniger als 10 Prozent der Inder eine Erstimpfung erhalten und kaum 2,5 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft.

Die Kongresspartei und andere Oppositionsparteien üben nun zaghafte Kritik am ruinösen Umgang der Modi-Regierung mit der Pandemie. Aber sie sind nicht weniger kriminell und schuldig. Alle Regierungen in den Bundesstaaten, auch die von der Opposition geführten, setzten Modis mörderische „Open Economy“-Politik um. In den letzten Tagen, als die öffentliche Wut über die Katastrophe zunahm, haben einige, wie die Regierungen von Maharashtra und Delhi, „Maßnahmen“ angekündigt, aber diese setzen nur die Priorisierung von Profit über Leben fort. Erstens läuft praktisch die gesamte Produktion weiter, von der Fertigung bis zum Baugewerbe, und zweitens wird höchstens den Tagelöhnern, den Arbeitern im Dienstleistungssektor, den Hausierern und Handwerkern, die direkt von den Verbotsmaßnahmen betroffen sind, eine erbärmliche Hilfe zuteil. Dies geschieht unter Bedingungen, da der schlecht vorbereitete Lockdown der Zentralregierung im März vergangenen Jahres - der über Nacht hundert Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage nahm, ohne dass eine sinnvolle soziale Unterstützung vorgesehen war – bereits weitere 230 Millionen Inder unter die nationale Armutsgrenze von 375 Rupien (4,20 Euro) pro Tag gedrückt hat.

Die Politik der Herdenimmunität, die die herrschende Klasse in Indien verfolgt, ihre kalkulierte Entscheidung, das Virus durch die Bevölkerung ziehen zu lassen, um die Profite nicht zu beeinträchtigen, ist Ausdruck ihres Bestrebens, die Ausbeutung der Arbeiterklasse und der ländlichen Werktätigen dramatisch zu intensivieren. Unter dem begeisterten Beifall des Großkapitals hat Modi im Namen der „Wiederbelebung der Wirtschaft“ in den letzten 12 Monaten eine Reihe von investorenfreundlichen Maßnahmen umgesetzt, von einem Notverkauf öffentlicher Vermögenswerte über eine Reihe von Gesetzen zugunsten der industriellen Landwirtschaft bis hin zu einer Reform des Arbeitsrechts, nach der die meisten Arbeitskampfmaßnahmen nunmehr illegal sind.

Dieser Angriff stößt auf den massiven Widerstand der Arbeiterklasse und der armen Landbevölkerung. Wenn die BJP und ihr fanatisch-hinduistisches politisches Personals mit Verhaftungen und Zensur gegen den öffentlichen Aufschrei über Bett- und Sauerstoffmangel losgehen, dann weil sie die wachsende Wut der Arbeiterklasse fürchten.

Indien ist ein historisch unterdrücktes Land, gezeichnet von Armut und Elend. Nichtsdestotrotz verfügt es über fortschrittliche Produktionsanlagen, auch im pharmazeutischen Sektor, und über große Vermögen, angefangen beim Reichtum der 130 Milliardäre, deren Besitz sich im letzten Jahr auf 594 Milliarden Dollar fast verdoppelt hat. Zudem verfügt der indische Staat über immense Ressourcen, die ihn zum Land mit den drittgrößten Militärausgaben weltweit, in Höhe von 60 Milliarden Euro macht.

Doch nicht einmal ein winziger Bruchteil dieser Ressourcen kann mobilisiert werden, um das Leben und die Lebensgrundlagen der indischen Bevölkerung zu schützen. Selbst jetzt weigert sich die Regierung, die kostenlose Impfung aller erwachsenen Inder gegen Covid-19 mit geschätzten Kosten von nur 6,7 Milliarden Dollar zu finanzieren.

In London, wo er zu einem G7-Treffen eingeladen war, sah sich der indische Außenminister S. Jaishankar in der vergangenen Woche gezwungen, zwei unumstößliche Tatsachen einzuräumen: Seit Jahrzehnten - unabhängig davon, ob die BJP oder der Kongress die Zentralregierung führt - gibt der indische Staat nur winzige 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheitsversorgung aus, und die Pandemie hat das völlige Versagen des indischen Gesundheitssystems „offengelegt“. Dann empörte er sich: „Es ist sehr einfach, heute zu sagen, dass wir mehr Geld hätten reinstecken sollen. Jetzt, wo ich in der Regierung bin ... kann ich sagen, dass es nicht so einfach ist, wie es klingt.“

Jaishankars Rechtfertigung unterstreicht nur, dass der Kapitalismus in einem unversöhnlichen Konflikt mit den Bedürfnissen der Gesellschaft steht. Die Pandemie zeigt dies in Fleisch und Blut - aber derselbe Konflikt durchdringt jeden Aspekt des sozioökonomischen Lebens, vom Elend und der sozialen Angst, die durch Armut und wirtschaftliche Unsicherheit inmitten eines nie dagewesenen globalen Überflusses verursacht werden, bis hin zu Umweltzerstörung und imperialistischer Aggression und Krieg.

Indiens grausame „zweite Welle“ ist eine globale Bedrohung. Sie ist bereits nach Nepal, Sri Lanka und Bangladesch übergeschwappt. Außerdem droht das Virus, sofern es nicht ausgerottet wird, Stämme zu entwickeln, die gegen bestehende Impfstoffe resistent sind.

Die indische Katastrophe trägt überall die Spuren der imperialistischen Mächte, beginnend mit Washington. Nicht nur, dass die amerikanische herrschende Klasse die Strategie der Herdenimmunität unter dem von der New York Times geprägten Slogan „Die Therapie darf nicht schlimmer sein als die Krankheit“ anführte. Sie hat sich zusammen mit Kanada und den EU-Mächten geweigert, auf Impfstoff-Patentrechte zu verzichten, und während der kritischen Wochen im März und April, als die Covid-19-Infektionen in Indien explodierten, blockierte die Biden-Regierung sogar den Export von Rohstoffen, die für die indische Impfstoffherstellung wichtig sind. Nicht zuletzt hat Washington, ob unter Trump oder Biden, einen Großteil des letzten Jahres damit verbracht, Indien gegen China aufzuhetzen, mit dem Ziel, das Land weiter in die brandgefährliche militärisch-strategische Offensive des US-Imperialismus gegen Peking einzubinden. Die Umsetzung eines rationalen, wissenschaftlich fundierten Plans zum Schutz von Leben und Lebensgrundlagen erfordert die unabhängige politische Intervention der Arbeiterklasse und ihre Mobilisierung als globale Kraft.

Die sofortige Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe und der Schulen, die Gewährung des vollen Lohns für alle betroffenen Arbeiter, ein gewaltiger Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens - all die notwendigen Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, stehen in unüberbrückbarem Konflikt mit den Profitinteressen und den geopolitischen Zielen der rivalisierenden nationalen kapitalistischen Eliten.

Der Kampf gegen die Pandemie muss daher von einer sozialistischen Perspektive beflügelt sein und durch den Aufbau neuer Organisationen des Arbeiterkampfes vorangetrieben werden, in Opposition zu den pro-kapitalistischen Gewerkschaften, die in Indien wie überall auf der Welt die „Zurück-zur-Arbeit bzw. Schule“-Politik der herrschenden Klasse durchgesetzt haben. Zu diesem Zweck und als untrennbarer Teil seines Kampfes, die Arbeiterklasse politisch zu bilden und für die sozialistische Weltrevolution zu mobilisieren, haben das Internationale Komitee der Vierten Internationale und die ihm angeschlossenen Sozialistischen Gleichheitsparteien die Internationale Arbeiterallianz der Aktionkomitees initiiert.

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