Merkels Abschiedsbesuch in Washington

Angela Merkel hat am Donnerstag Washington ihren voraussichtlich letzten offiziellen Besuch als Bundeskanzlerin abgestattet. Sie hat die USA in ihrer sechzehnjährigen Amtszeit mehr als zwanzig Mal besucht und dabei mit vier verschiedenen Präsidenten zusammengearbeitet: George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden.

Der Besuch war vom Bemühen geprägt, die schweren Verwerfungen der Ära Trump zu glätten. Merkel wurde von Biden als erste europäische Regierungschefin ins Weiße Haus eingeladen, umgarnt, gelobt und mit Ehren überhäuft. Sie frühstückte mit Vizepräsidentin Kamala Harris, ließ sich von der Johns-Hopkins-Universität zur Ehrendoktorin küren (ihr 18. derartiger Titel) und traf sich zu Gesprächen mit Präsident Biden. Anschließend gaben Biden und seine Frau Jill ein Abendessen zu ihren Ehren.

Auf der gemeinsamen Pressekonferenz überschüttete Biden Merkel mit Komplimenten. Er bescheinigte ihrer Kanzlerschaft einen „historischen Charakter“ und pries ihre „bahnbrechenden Verdienste“ für Deutschland und die Welt. Sie sei immer für das Richtige eingetreten und habe die Würde des Menschen verteidigt. Auf dem von Merkel aufgebauten Fundament werde die Partnerschaft zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten noch stärker werden.

Merkel und Biden auf der gemeinsamen Pressekonferenz im Weißen Haus (AP Photo/Susan Walsh)

Merkel dankte den USA für ihren „überragenden Beitrag“ zur deutschen Wiedervereinigung vor dreißig Jahren und versicherte: „Keine zwei Regionen auf der Welt sind durch eine solche Tiefe und Breite gemeinsamer Interessen und Werte verbunden wie Europa und Nordamerika.“

In den Medien finden sich zahlreiche Rückblicke, die Merkels persönliches Verhältnis zu Bush, Obama, Trump und Biden beleuchten. Persönliche Beziehungen spielen in der Politik zwar eine Rolle, aber eine sekundäre. Letztlich wird das Verhältnis zwischen Regierungschefs von objektiven Faktoren und Interessen bestimmt, vor allem wenn sie an der Spitze so mächtiger imperialistischer Staaten wie der USA und Deutschlands stehen, der größten und viertgrößten Volkswirtschaft der Welt.

Während der 16-jährigen Kanzlerschaft Merkels haben sich die Konflikte zwischen den USA und Deutschland trotz unvermeidlicher Schwankungen verschärft. Auch hinter der zur Schau getragenen Harmonie des jüngsten Gipfels verbergen sich heftige Spannungen, die am Donnerstag nur mühsam verdeckt wurden und – wie der Konflikt über die Pipeline Nord Stream 2 – immer wieder durchschienen.

Die von Merkel beschworenen „gemeinsamen Werte und Interessen“ haben ihre Verwirklichung in mörderischen Kriegen, wachsender sozialer Ungleichheit und dem Aufstieg faschistischer Kräfte auf beiden Seiten des Atlantiks gefunden. Die Hinwendung zu Militarismus, Klassenkrieg und autoritären Herrschaftsformen hat wiederum die Konflikte zwischen den imperialistischen Großmächten verschärft. Das gilt auch für den deutschen und den US-Imperialismus, die sich in zwei Weltkriegen als Feinde gegenüberstanden und unversöhnliche wirtschaftliche und strategische Interessen verfolgen.

Zwei Jahre bevor Merkel im November 2005 Bundeskanzlerin wurde, hatten die Beziehungen zwischen Berlin und Washington einen Tiefpunkt erreicht. Die deutsche und die französische Regierung lehnten 2003 den Irakkrieg ab, weil er ihre eigenen Interessen im Nahen Osten bedrohte. Die US-Regierung von George W. Bush reagierte darauf mit dem Versuch, Europa zu spalten. Sie wiegelte das „neue Europa“ (Osteuropa) gegen das „alte Europa“ (Deutschland und Frankreich) auf.

David North kommentierte damals auf der World Socialist Web Site, das enge Bündnis der USA mit Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg sei „im Grunde eine Abweichung von der historischen Norm“ gewesen: „Die eigentliche Tendenz des amerikanischen Kapitalismus, die aus seinem etwas verspäteten Aufstieg zu einer starken imperialistischen Macht herrührt, bestand seit jeher darin, seinen weltpolitischen Einfluss auf Kosten Europas zu steigern.“

Das Verhalten der USA stelle die Westeuropäer vor ein Dilemma, folgerte North: „Wenn sie sich den Diktaten der USA beugen, dann nehmen sie, um mit der konservativen französischen Tageszeitung Le Figaro zu sprechen, ihre Verwandlung ‚in ein bloßes Protektorat der Vereinigten Staaten‘ in Kauf. Offener Widerstand birgt jedoch das Risiko einer wahrscheinlich katastrophalen militärischen Konfrontation mit den USA.“

Angela Merkel unternahm damals als Oppositionsführerin im Bundestag den ungewöhnlichen Schritt, die Außenpolitik der eigenen Regierung in einer ausländischen Zeitung anzugreifen. Im Artikel „Schröder spricht nicht für alle Deutschen“, der in der Washington Post erschien, stellte sie sich hinter den völkerrechtswidrigen Irakkrieg.

Als Bundeskanzlerin pflegte Merkel dann ein freundschaftliches Verhältnis zu Präsident Bush, der den Irak gestützt auf Lügen angegriffen hatte. Durch eine gemeinsame Grillfete in einem mecklenburgischen Dorf, einen Besuch auf Bushs texanischer Ranch und andere Auftritte wurde die Freundschaft medienwirksam demonstriert. Später schickte Merkel auch deutsche Soldaten in den Irak, allerdings nur in den kurdisch dominierten Norden.

Doch dem Dilemma der Europäer konnte auch Merkel nicht entkommen. Als Bush 2008 der Ukraine und Georgien den Weg in die Nato ebnen wollte, stellte sie sich quer. Sie wollte sich das Verhältnis zu Russland, von dem die deutsche Wirtschaft als Energielieferant abhängig ist, nicht durch die USA diktieren lassen.

Merkels Beziehung zu Barack Obama war anfangs gespannt. 2008 verhinderte sie, dass er als Präsidentschaftskandidaten vor dem symbolträchtigen Brandenburger Tor eine Wahlkampfrede halten durfte. 2011 ging sie dann noch weiter, als Schröder 2003. Bei der Abstimmung über den Libyen-Krieg stellte sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit China gegen die USA, Frankreich und Großbritannien. Auch hier ging es nicht um Frieden, sondern um die wirtschaftlichen und strategischen Interessen des deutschen Imperialismus in Nordafrika.

2013 löste die Enthüllung, dass Merkels Handy vom US-Geheimdienst NSA abgehört wurde, eine weitere diplomatische Krise aus.

Im Verlauf der Obama-Administration verbesserten sich die Beziehungen. Washington verlegte den Schwerpunkt seiner Außenpolitik auf die Konfrontation mit China und ließ Berlin mehr Freiraum im Umgang mit Russland, zu dem sich die Beziehungen inzwischen stark abgekühlt hatten.

Im Frühjahr 2014 verkündete die inzwischen dritte Regierung Merkel, Deutschland werde in der Weltpolitik auch militärisch wieder eine Rolle spielen, die seinem wirtschaftlichen Gewicht entspricht – und setzte dies sofort in die Praxis um. Gemeinsam mit den USA organisierte sie in der Ukraine den Putsch, der gestützt auf faschistische Banden ein prowestliches Regime an die Macht brachte und den Konflikt mit Russland dramatisch verschärfte. Seither spielt Berlin eine führende militärische Rolle beim Aufmarsch der Nato gegen Russland.

Der Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus brachte die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf einen neuen Tiefpunkt. Trump stellte als erster US-Präsident die Nato in Frage, unterstützte den Brexit und die Spaltung der Europäischen Union und verschärfte gezielt den Handelskrieg gegen Europa. Trumps konfrontatives Verhalten gab alten Plänen neuen Auftrieb, die EU unter deutsch-französischer Führung zu einer Weltmacht zu entwickeln, die den USA und China ebenbürtig ist. Solche Pläne waren bisher immer wieder an der Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich gescheitert.

Bidens Charme-Offensive gegenüber Merkel dient nicht zuletzt dazu, diese Pläne zu untergraben. Die Biden-Administration betrachtet – wie bereits die Obama- und Trump-Administration – China als wichtigsten geostrategischen Rivalen. Sie will die Europäer im Konflikt mit China auf ihre Seite ziehen und gleichzeitig verhindern, dass diese zu selbständig werden.

In Europa gibt es erhebliche Vorbehalte gegenüber dem Konfrontationskurs mit China. Die Europäische Union betrachtet das Land zwar inzwischen auch als strategischen Rivalen, will sich aber in der Auseinandersetzung mit China nicht amerikanischen Interessen unterordnen. Vor allem deutsche Wirtschaftskreise sind alarmiert. China ist vor Holland der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Volkswagen, der größte deutsche Autokonzern, erzielt dort 41 Prozent seines Gesamtumsatzes. Andere deutsche Unternehmen, wie Bosch, arbeiten auch bei der Entwicklung neuer Antriebstechnologien mit chinesischen Firmen zusammen.

Die EU hatte kurz vor Bidens Amtseinführung auf deutsche Initiative ein Investitionsabkommen mit China verabschiedet, das die Bundesregierung als „handelspolitischen Meilenstein“ feierte. In Washington wurde es dagegen als Affront empfunden, und inzwischen gerät es auch innerhalb der EU wieder zusehends unter Druck.

China war ein zentrales Thema in den Gesprächen zwischen Biden und Merkel, doch auf der Pressekonferenz blieben beide betont vage. „Wir haben auch über die vielen Facetten der Kooperation oder auch des Wettbewerbs mit China gesprochen – im wirtschaftlichen Bereich, im Bereich des Klimaschutzes, im militärischen Bereich, in Fragen der Sicherheit –, und hier stellen sich natürlich viele Herausforderungen“, sagte Merkel.

Auch der Konflikt über die Erdgaspipeline Nord Stream 2, die Russland direkt mit Deutschland verbindet, schwelt weiter. Die USA wollen sie stoppen, um Russland wirtschaftlich zu isolieren, während Deutschland, das kaum über eigene Energiereserven verfügt, sie für unersetzlich hält, um seine unabhängige (unabhängig auch von den USA) Energieversorgung zu gewährleisten. Bis August soll jetzt eine Lösung gefunden werden, die sicherstellt, dass die Ukraine als bisheriges Transitland keine Einkommensverluste erleidet.

Die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben, werden unweigerlich zu einer gewaltsamen Explosion führen, wenn die Arbeiterklasse nicht eingreift, sich international zusammenschließt und den Kriegstreibern das Handwerk legt. Der Kampf gegen Krieg und Militarismus ist untrennbar mit dem Kampf gegen ihre Ursache, den Kapitalismus verbunden.

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