Hungerstreik von mehreren Hundert Sans-Papiers in Belgien

In Belgien haben mehr als 430 Migranten ohne Papiere über zwei Monate im Hungerstreik verbracht. Sie protestierten damit gegen ihre brutale Behandlung durch die Behörden während der Corona-Pandemie.

Besetzter Raum in der frankophonen Universität ULB, Brüssel, am 29. Juni 2021: Ein Rot-Kreuz-Mitarbeiter ruft einen Krankenwagen, um einen Hungerstreikenden ins Krankenhaus zu verlegen. (AP Photo/Francisco Seco)

Die Arbeiter stammen, Berichten zufolge, hauptsächlich aus Tunesien, Marokko, Algerien, Ägypten und Pakistan. Sie fordern, dass die Regierung ihnen das Recht gewährt, im Land zu bleiben, in dem viele von ihnen seit Jahren arbeiten, ohne dass sie Aufenthaltspapiere bekommen hätten. Die belgischen Behörden bestehen darauf, diese Menschen abzuschieben, und wollen sie in ihre Herkunftsländer zurückführen.

Einer der Orte, an denen der Hungerstreik stattfindet, ist die Kirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage in Brüssel. Dort gaben Vertreter der Demonstranten am Mittwoch bekannt, dass sie den Protest vorläufig beenden würden. „Gestern und heute gab es Treffen mit der Regierung und mit Unterstützern. Wir konnten Vereinbarungen treffen, die noch nicht ratifiziert sind. Wir hoffen, dass sie es werden. Damit es keine weiteren Qualen in der Kirche gibt, haben wir die Entscheidung getroffen, den Wasserstreik zu beenden und den Hungerstreik vorerst auszusetzen“, erklärten sie. Einige Demonstranten setzen indessen ihren Hungerstreik fort.

Am Donnerstagnachmittag kündigte die Union für die Regularisierung von Sans-Papiers (USPR) auf Facebook an, dass die Kirche und zwei Universitätskantinen in Brüssel weiterhin besetzt bleiben würden, um die dort verbliebenen Arbeitsmigranten zu unterstützen.

Der Staatssekretär für Asyl und Migration, der Christdemokrat Sammy Mahdi, hielt gegenüber dem Sender RTBF daran fest, dass sich an der migrantenfeindlichen Politik der Regierung nichts ändern werde. Er hat die Protestierenden während des gesamten Hungerstreiks immer wieder denunziert.

„Über unsere Migrationspolitik verhandeln wir nicht“, sagte er am Mittwoch. „Es gibt eine Politik mit Regeln, die befolgt werden müssen. Wir haben das viele Male erklärt ...“ Mahdi gab am Mittwoch eine Erklärung ab, in der es heißt: „Nach 60 Tagen haben die Hungerstreikenden ihre Aktion, die ihr Leben in Gefahr brachte, beendet. Ich bin sehr betroffen von der Art und Weise, wie sich die Situation in den letzten Wochen verschlechtert hat. Es ist gut, dass wir die verschiedenen zivilen Gruppen davon überzeugen konnten, dass eine kollektive Legalisierung keine Lösung ist, und dass die existierenden Verfahren menschenwürdig sind.“

In Wirklichkeit haben die Demonstranten gerade auf die unmenschlichen Bedingungen immer wieder hingewiesen, denen sie ausgesetzt sind, weil die belgische Politik und die Europäische Union eine derart ausländerfeindliche Politik betreiben. Diese Arbeiter haben während der gesamten Pandemie keine staatliche Unterstützung bekommen. Viele von ihnen arbeiten ohne Papiere im Gastgewerbe, im Baugewerbe, in der Reinigungsbranche oder im Dienstleistungssektor, und während der Lockdowns hat man sie buchstäblich verhungern lassen.

Kiran Adhikeri, ursprünglich aus Nepal, hat als Küchenchef gearbeitet, bis alle Restaurants geschlossen wurden. Er lebt seit 16 Jahren in Belgien, hat aber noch immer keinen rechtlichen Schutz. Er erzählte Reuters: „Ich bin 37 Jahre alt. Ich liebe diese Gesellschaft und ihre Menschen, aber ich habe keine legale Existenz. In dieser Stadt leben wir wie Ratten. Ich flehe sie [die belgische Regierung] an: Bitte geben Sie uns Zugang zu Arbeit wie den anderen auch. Ich würde ja gerne Steuern zahlen, denn ich möchte mein Kind hier großziehen.“ Die Arbeiter schildern immer wieder, wie die Unternehmer sie ausbeuten und ihnen aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis oft nur drei Euro pro Stunde zahlen.

Berichten zufolge leben landesweit etwa 150.000 Menschen unter solchen Bedingungen.

Für die Regierung hatte sich der Hungerstreik zu einem großen Skandal entwickelt. Er hatte in der Bevölkerung breiten Widerstand gegen die unmenschliche Politik der Regierung angefacht. Ein Teil der Migranten, die an dem Protest teilnahmen, hatten sich die Lippen zugenäht und befanden sich in Todesgefahr. Die Vereinten Nationen sahen sich nach dem Besuch zweier Beobachter am 8. Juli in Brüssel gezwungen, eine Erklärung abzugeben, in der es heißt: „Die Informationen, die wir erhalten haben, sind alarmierend. Viele Hungerstreikenden befinden sich zwischen Leben und Tod.“ Sie wiesen auf die „Verletzung der Menschenrechte“ hin, die mehr als 150.000 undokumentierte Arbeiter im ganzen Land betreffe.

Am Montagabend berichtete die französischsprachige Tageszeitung Le Soir, dass der Vizepremier der Regierung, Pierre Yves Dermagne von der frankophonen Sozialistischen Partei (PS), mit dem Rücktritt sämtlicher PS-Minister und Staatssekretäre gedroht habe, falls ein Hungerstreikender sterben sollte. Außer ihm selbst beträfe das die PS-Minister Karine Lalieux (Renten), Ludivine Dedonder (Verteidigung) und den Juniorminister für strategische Investitionen, Thomas Dernine.

Der Co-Vorsitzende von Ecolo (Die Grünen) versprach, dasselbe zu tun. In ihrer Erklärung heißt es: „Unsre Partei hat dies gestern dem Premierminister mitgeteilt, und unser Handeln wird gehört und steht in klarer Übereinstimmung mit unseren Worten.“ Die Grünen und die PS bilden einen Teil der Sieben-Parteien-Koalitionsregierung in Belgien, zu der die frankophonen und die flämischen Sozialdemokraten, die Grünen, die Liberalen und die flämischen Christdemokraten gehören.

Die flämische Sozialistische Partei, die sich 1978 von der frankophonen PS abgespalten hat, unterstützte dagegen die Beschuldigungen, die der belgische Präsident Alexander de Croo gegen die Demonstranten erhoben hatte. Er hatte betont: „Die Regularisierung bleibt ein Ausnahmeverfahren und ist eine Gunst, kein Recht.“

Die Rücktrittsdrohungen der PS und der Grünen sind völlig heuchlerisch und von der Angst getrieben, in der Arbeiterklasse könne sich Massenopposition gegen ihre Regierungspolitik entwickeln. Die Abgeordneten heucheln zwar Empörung über die Möglichkeit, dass einer der Hungerstreikenden sterben könnte, aber gleichzeitig verursacht ihnen das soziale Elend, dem Zehntausende von Sans-Papiers in ganz Belgien ausgesetzt sind, keine vergleichbaren Gewissensbisse.

Das hindert die Pseudolinken in Belgien nicht daran, diese Politiker in hohen Tönen zu loben. Nabil Boukli, Abgeordneter der pseudolinken Belgischen Arbeiterpartei, pries die Aktion am 2. Juli in einer Rede vor dem Parlament. Boukli sagte: „Herr Staatssekretär, selbst innerhalb Ihrer Regierung haben sich Parteien wie die PS und die Grünen erhoben, um eine Lösung für diese Situation zu fordern. Ich ermutige sie und unterstütze sie in dieser Initiative.“

In Wirklichkeit unterstützt die Sozialistische Partei sowohl in Belgien als auch im benachbarten Frankreich genau diese migrantenfeindliche Politik seit Jahrzehnten und hat sie immer wieder verschärft. Der Hungerstreik in Belgien unterstreicht damit auch den kriminellen Charakter der gesamten EU, die eine zutiefst einwanderungsfeindliche Politik betreibt.

Die EU verhindert systematisch die Rettungsaktionen im Mittelmeer, wodurch sie schon zigtausende Flüchtlinge zum Ertrinken verurteilt hat. Sie versucht, Asylsuchende davon abzuhalten, dass sie von Afrika oder dem Nahen Osten nach Europa gelangen und ihr demokratisches Recht auf Asyl in Anspruch nehmen. Die EU hat ein Netzwerk von Internierungslagern an ihren Grenzen errichtet, und beispielsweise im griechischen Moria werden Hunderte von Kindern unter entsetzlichen Bedingungen festgehalten. Denjenigen, die es schaffen, auf dem Kontinent anzukommen, und denen es gelingt, einer Abschiebung zu entgehen, wird der Zugang zu legal bezahlter Arbeit oder staatlicher Unterstützung systematisch vorenthalten.

Alle diese Maßnahmen zielen letztlich darauf ab, die demokratischen und sozialen Rechte der ganzen Arbeiterklasse zu untergraben, egal ob es sich um Migranten oder in Europa Geborene handelt. Deshalb ist es ein fester Bestandteil des Kampfs der Arbeiterklasse gegen Kapitalismus, dass sie das Recht jedes Arbeiters, egal aus welchem Land, verteidigt, im Land seiner Wahl zu leben und zu arbeiten und volle Staatsbürgerrechte in Anspruch zu nehmen.

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