„Menschenleben sind in Gefahr, nicht nur in Japan, sondern weltweit. Entscheiden Sie sich jetzt dafür, abzusagen!“

Eine vorhersehbare Katastrophe: Japan verzeichnet die höchste Zahl an Neuinfektionen mit Covid-19 pro Tag

Passanten vor Werbeplakaten für die Olympischen Sommerspiele in Tokio. Montag, 16. Juni 2021 (AP Photo/Koji Sasahara)

Während die Olympischen Sommerspiele in Tokio in die zweite Woche gehen, übertrifft der Anstieg der Covid-19-Fälle in dieser riesigen und dicht besiedelten Stadt mit mehr als 38 Millionen Einwohnern die bisherigen Prognosen. Am 29. Juli wurden in Tokio 3.854 Neuinfektionen verzeichnet – die bisher höchste Zahl an registrierten Neuinfektionen pro Tag. Schätzungen zufolge wird die Zahl der Neuinfektionen in weniger als zwei Wochen auf 5.000 pro Tag ansteigen.

Trotz des großen Widerstands der Bevölkerung weigerte sich die japanische Regierung, die Spiele wegen der globalen Pandemie und der Ausbreitung der hochgradig ansteckenden Delta-Variante abzubrechen. Japan hat mindestens 15,4 Milliarden Dollar für die Spiele ausgegeben, die Einnahmen aus Übertragungsrechten werden auf vier Milliarden Dollar geschätzt, hinzu kommen zusätzliche Milliarden aus der Werbung. Die Bosse der Medien- und Unterhaltungsindustrie und die Regierungen, die hinter ihnen stehen, sind sich der potenziellen Folgen bewusst. Allerdings glauben sie, diese Einnahmen sind die überfüllten Krankenhäuser, die Toten und die lebenslangen Beeinträchtigungen wert.

Der Leiter der japanischen Seuchenschutzbehörde des nationalen Zentrums für globale Gesundheit und Medizin, Norio Ohmagari, erklärte gegenüber der Zeitung Yomiuri Shimbun, Tokio stehe eine „explosionsartige Ausbreitung der Infektionen in einem noch nie erlebten Ausmaß“ bevor. Die Tokioter Krankenhäuser sind mit dem rapiden Anstieg der Patientenzahlen überlastet und müssen Aufnahmen verschieben. Deshalb muss eine wachsende Zahl von Patienten in häusliche Quarantäne, wo immer mehr Menschen ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung sterben.

Die Reaktion der Gouverneurin von Tokio, Yuriko Koike, auf den explosionsartigen Anstieg der Fallzahlen war beispielhaft für die Irrationalität und die wissenschaftsfeindlichen Tendenzen der herrschenden Klasse. Auf die Frage nach potenziellen Auswirkungen der Spiele auf die steigenden Fallzahlen erklärte sie: „Es ist genau andersherum: Wegen der Spiele bleiben mehr Menschen zu Hause.“

Auch Premierminister Suga leugnete die Auswirkungen der Olympischen Spiele auf die Fallzahlen und erklärte: „Die Sommerspiele in Tokio hatten keine Auswirkung auf den Anstieg der Fallzahlen.“ Als Antwort auf die Frage nach dem Grund erklärte er: „Wir ergreifen Maßnahmen, um Infektionen durch Ausländer und erhöhten Verkehr zu verhindern.“

Der Präsident der Japan Community Health Care Organization, Shigeru Omi, widersprach diesen Äußerungen, bezeichnete die Olympischen Spiele als eine der Hauptursachen und erklärte: „Es liegt in der Verantwortung der Regierung und des Olympischen Komitees, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Ausbreitung zu stoppen.“ Doch Premierminister Suga lehnt weiterhin einen Abbruch der Spiele rundheraus ab.

Die Regierung und die Mainstreammedien versuchen, die öffentliche Empörung abzulenken, indem sie die Jugendlichen verantwortlich machen. Dazu entwickeln die Mainstreammedien das falsche Narrativ, verantwortungslose Jugendliche würden das Virus ausbreiten – als Beweis verweisen sie auf die hohe Rate von Infektionen unter 20- bis 30-Jährigen. Die Nachrichten sind voll mit Schlagzeilen wie „Junge Leute gehen nachts in Bars in Shinjuku und sind kaum besorgt über 3.000 Covid-Fälle“. Diese Meldungen beruhen auf ausgesuchten, und oft verzerrten Interviews mit Jugendlichen.

Doch in Wirklichkeit hat die japanische Regierung die Gefahren von Covid-19 seit Beginn der Pandemie verharmlost, nie nennenswerte Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen ergriffen oder einen Lockdown der nicht systemrelevanten Betriebe durchgesetzt. Zudem gab es laut Daten der Präfektur Okinawa, wo es zu einigen der schlimmsten Ausbrüche kam, die meisten Infektionen unter Beschäftigten von Restaurants.

Die Infektionszahlen steigen nicht nur in Tokio rapide an, sondern auch in den drei umliegenden Präfekturen Chiba, Saitama und Kanagawa. Am 28. Juli verzeichneten alle drei Präfekturen Rekordanstiege der Fallzahlen und erwägen die Ausrufung des Notstands.

Japan hat im Verlauf der Pandemie eine Reihe von Krisen des Gesundheitswesens durchlebt. Der Anstieg der Fallzahlen belastet die Krankenhäuser in der Metropolregion Tokio und der umliegenden Region, ihre Kapazitätsgrenzen werden bald erreicht sein. Das öffentliche Krankenhaus Rosai in Yokohama in der Präfektur Kanagawa, das offiziell für die Aufnahme von Olympia-Athleten vorgesehen ist, befindet sich genau neben dem Olympia-Gelände. Die Beschäftigten schilderten in einem Interview mit der Zeitung Asahi Shimbun ihre katastrophale Situation.

Dr. Hayakawa erklärte, die Hotline der Notaufnahme habe den ganzen Tag hindurch unablässig geklingelt. Abgesehen von Covid-19-Patienten verursachen die hohen Temperaturen in der Metropolregion auch einen Anstieg der Fälle von Hitzschlägen und Dehydrierung, was zusätzlichen Druck auf die Krankenhäuser ausübt. Dr. Nakamura, der Leiter der Notaufnahme, erklärte in dem gleichen Interview, dass er einen älteren Patienten mit einem Schlaganfall abweisen musste, weil keine Betten verfügbar waren.

Gleichzeitig nimmt die Zahl der Fälle unter Olympia-Athleten und Beschäftigten zu. Die Zahl der bestätigten Infektionen unter Olympia-Personal liegt mittlerweile bei 193. Obwohl die Organisatoren der Spiele und die Regierung in Tokio mehrfach „sichere und geschützte Spiele“ versprachen, wurde bekannt, dass sich das Internationale Olympische Komitee nicht an die vorgeschlagenen Corona-Protokolle hält.

Die Richtlinien des Komitees sehen vor, an allen freiwilligen Arbeitern PCR-Tests durchzuführen. Allerdings erklärten mehrere Freiwillige gegenüber TBS News, sie hätten weder den Test noch irgendwelche Informationen zu Covid-Tests erhalten. Ein Freiwilliger, der als Chauffeur für die Athleten arbeitet, erklärte gegenüber TBS: „Ich bin nicht ein einziges Mal getestet worden. Sie haben mich noch nicht kontaktiert und nichts erklärt.“ Ein freiwilliger Übersetzer erklärte: „Ich habe immer noch keinen Test bekommen. Es ist mir unangenehm, hier freiwillig zu arbeiten.“

Der Widerstand gegen die Spiele hält an. Am Freitag fand eine Demonstration vor dem Sitz des Premierministers statt. Viele trugen Plakate, auf denen sie das Fehlen effektiver Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 oder von Unterstützung für diejenigen kritisierten, die in Armut und Obdachlosigkeit abgestürzt sind. Auf einem Plakat hieß es: „Der olympische Fackellauf wurde von den Nazis eingeführt! Geld für die Bevölkerung! Verwendet es für die Bekämpfung von Elend durch Covid-19! Die Olympischen Spiele für die Konzerne und Aristokraten sind unnötig!“

Die herrschende Klasse reagiert auf diesen Widerstand der Bevölkerung mit Einschüchterungsmaßnahmen. Am Abend der Eröffnungszeremonie wurde ein Demonstrant verhaftet. Es tauchten Videos auf, die Übergriffe der Polizei auf Demonstranten zeigen, die sich auf dem Heimweg von einer Demonstration an der Radrennbahn befanden. Die herrschende Klasse mobilisierte 1.900 Soldaten der japanischen Streitkräfte an der Radrennbahn, und weitere 8.500 wurden für die Dauer der Spiele mobilisiert.

Der explosionsartige Anstieg der Fallzahlen wird in Tokio unweigerlich eine schwere Krise der Gesundheitsversorgung auslösen. Angesichts dieser Aussicht mehren sich die Aufrufe zu Protesten in den kommenden Tagen. Viele äußern ihre Wut über die Spiele, die sich mit der Wut auf die japanische herrschende Klasse, ihre tödliche Reaktion auf die Pandemie und die soziale Ungleichheit in Japan vermischt.

Die zunehmende Entschlossenheit zum Widerstand gegen die Politik der Herdenimmunität in Japan ist ein Ausdruck der Entschlossenheit der internationalen Arbeiterklasse, sich zu vereinen. Der Kampf für ein Ende der Travestie der Spiele und der Gesundheitsnotstand, den sie in Japan ausgelöst haben, sind untrennbar mit dem Kampf gegen das kapitalistische System im Rest der Welt verbunden – ein veraltetes Wirtschaftssystem, das Profiten Vorrang vor Menschenleben gibt.

Loading