Lokführer zum GDL-Abschluss: „Nicht das, was wir erhofft haben“

Wenige Tage vor der Bundestagswahl hat die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ihren Streik am 16. September abgebrochen. Das Ergebnis, auf das sich GDL-Führer Claus Weselsky mit Bahn-Personalchef Martin Seiler sowie mit CDU- und SPD-Vertretern einigte, ist ein Hohn auf die Ansprüche der Lokführer und Bahnbeschäftigten und gibt wichtige Errungenschaften wie die Betriebsrente preis.

Diese Woche fragten Teams der World Socialist Web Site Teilnehmer des Streiks in München und Frankfurt, was sie von der Einigung der GDL mit der Deutschen Bahn halten. Fast alle Befragten waren interessiert, sobald sie den Titel der Einschätzung der WSWS lasen: „Trotz großer Streikbereitschaft beendet GDL Tarifkampf der Eisenbahner.“

Wie es darin heißt, „suchte GDL-Chef Claus Weselsky händeringend nach einem Kompromiss, um den Streik abzuwürgen (…) Weselsky, der selbst CDU-Mitglied ist, will ebenso wenig wie die etablierten Parteien, dass die Bundestagswahl und die anschließende Regierungsbildung in einer Situation stattfinden, in der der Streik der Lokführer zum Ausgangspunkt für eine breite Streikbewegung und Radikalisierung der Arbeiterklasse wird.“

Streikende am 6. September 2021 in Berlin (Foto: WSWS Media)

Die Wut und Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen glimmt weiter, wie die Kommentare von Lokführern und Zugbegleitern zeigen. Der Kuhhandel vom 16. September beinhaltet eine minimale Lohnsteigerung ab Dezember 2021 um gerade mal 1,5 Prozent für sechzehn Monate, obwohl die Inflation schon in diesem Jahr knapp 4 Prozent erreicht. Weitere 1,8 Prozent kommen erst im März 2023 hinzu. Als Corona-Prämien sollen im Dezember 600 Euro (für die oberen Lohngruppen 400) sowie im kommenden März nochmals 400 Euro bezahlt werden.

„Das ist alles in allem zu wenig“, sagte ein älterer GDL-Lokführer spontan. Wir trafen ihn in Frankfurt-Gallus vor der Containersiedlung, die im Jargon der Lokführer „das Eisenhüttenstadt von Frankfurt“ heißt. „Das ist keine wirkliche Wertschätzung für unsere Arbeit in der Corona-Pandemie,“ fuhr er fort. „Für das, was wir leisten und was wir riskieren, müssten wir besser bezahlt werden.“

Er erklärte, dass die Lokführer der Regio-Züge dieselbe Raumluft atmen wie die Passagiere. „Der Führerstand hat keine eigene Belüftung, das wissen viele nicht, wenn sie sagen: Ihr habt doch als Lokführer kein Corona-Risiko.“ Er berichtete, dass er selbst bei Tempo 160 zuweilen die Fenster offenhalte, um eine Infektion mit Covid-19 zu vermeiden. „Natürlich gab es auch unter unsern Kollegen schon Corona-Fälle. Wir erfahren es untereinander nicht immer. Die Bahn hält unterm Deckel, was der Grund für eine Krankschreibung der Kollegen ist. Von einem Bekannten weiß ich, dass seine Frau einen schweren Verlauf hatte.“

Er wundere sich eigentlich nicht, fuhr er fort, dass der Streik so kurz vor der Wahl abgebrochen worden sei. „Das ist nicht das erste Mal“, sagte er. „Eine ähnliche Situation gab es schon nach der Kohl-Regierung, als SPD und Grüne drankamen, da haben unsre Probleme erst richtig angefangen.“

Viele hätten sich damals, vor über zwanzig Jahren, falsche Hoffnungen gemacht. Aber: „Mit der Agenda 2010 hat sich der Billiglohn-Sektor weit ausgedehnt, das hat sich verheerend ausgewirkt. Seither sind gut ausgebildete Fachkräfte Mangelware geworden. Unter den Lokführern hat es zur Personalnot geführt, und darüber herrscht heute bei der Bahn ein großes Gejammer.“

Der Lokführer interessierte sich für das Wahlprogramm „Leben statt Profite!“ der Sozialistischen Gleichheitspartei, die er bis dahin noch nicht kannte.

Einige jüngere Lokführer, die wir am Frankfurter Hauptbahnhof trafen, realisierten erst nach und nach, dass der Abschluss eine klare Reallohnsenkung beinhaltet. Eric aus Wiesbaden (35) hatte zum ersten Mal an einem Streik teilgenommen, und er fand zunächst die Coronaprämie „gut“, schränkte jedoch ein: „Nicht nur in Frankfurt, auch in Wiesbaden findet man keine günstige Wohnung. Es ist uns aber nicht möglich, weit außerhalb zu wohnen, weil wir so unregelmäßige, wechselnde Schichten haben. Sehr oft muss ich mitten in der Nacht einen Zug übernehmen.“

„Man muss wohl schon zum Lokführer geboren sein, dass man das alles mitmacht,“ fuhr er fort. Er war vor allem an den Berichten der WSWS über die Solidarität anderer Eisenbahner, zum Beispiel in Paris, mit dem GDL-Streik interessiert. „Wir müssten alle zusammenhalten“, sagte Eric, der die Einschätzung der WSWS über den Streikabschluss gerne näher studieren wollte.

Auch andere Lokführer brachten die Frage einer Ballungszulage für Großstädte auf. Dazu schrieb ein Lokführer, der in Frankfurt am Main wohnt, der WSWS: „Viel wichtiger als die Prämie wäre mir selbst zum Beispiel eine Ballungsraumzulage gewesen.“ Zur Einschätzung der WSWS über das Ergebnis schrieb er: „Meiner Meinung nach habt ihr den Tarifabschluss von vergangener Woche sehr klug bewertet und kommentiert (…) Auch mir scheint es, als habe man der GDL ein nur um Nuancen verbessertes Angebot vorgelegt, um beiden Streitparteien die Wahrung des eigenen Gesichts zu ermöglichen.“

Besonders wichtig sei ihm, betonte er, „dass die GDL-Tarifverträge auch weiterhin in den EVG-Mehrheitsbetrieben zur Anwendung kommen. Wir Kollegen von DB Fernverkehr in Frankfurt würden sonst – obwohl GDL-Mitglieder – von der EVG tarifiert werden. Obwohl kaum jemand von uns sich mit dieser Gewerkschaft identifizieren kann und möchte.“

Die Eisenbahn- und Verkehrs-Gewerkschaft (EVG) gehört dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) an, dessen Chef Reiner Hoffmann sich während des Streiks demonstrativ auf die Seite der Konzernvorstände, Politiker und Medien gestellt und tagelang aufs Übelste gegen die Streikenden gehetzt hatte. Die EVG, die bei der Bahn als Hausgewerkschaft fungiert, hatte schon vor einem Jahr einen noch schlechteren Tarifabschluss vereinbart.

In München sagte ein Eisenbahner der GDL, er habe das Verhandlungsergebnis „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ zur Kenntnis genommen. Alles in allem war er aber eher unzufrieden: „Es ist natürlich nicht das, worauf wir gehofft haben“, sagte er. Man müsse sich heutzutage auf immer neue Angriffe einstellen: „Jetzt hat man schon im Hinterkopf: Was kommt als Nächstes?“

Dazu meinte ein älterer Zugbegleiter, der seit 40 Jahren bei der Bahn arbeitet: „Das ist immer so: Sobald sie hier was geben, nehmen sie dort was weg.“

„Die Kleinen da unten werden am meisten gedrückt“, kommentierte auch die Zugbegleiterin Svetlana. Sie interessierte sich besonders für die SGP-Initiative, Aktionskomitees aufzubauen, um die Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften und über die Grenzen hinweg zusammenzuschließen. Sie sagte: „Wir sind als Arbeiter eigentlich so stark, wir müssten nur besser zusammenhalten. Aber die Politiker treiben uns auseinander.“

Zum Thema Betriebsrente sagte sie, diese sei umso wichtiger, da Altersarmut heutzutage durchaus ein Thema sei: „800 Euro Rente im Monat, damit kann man in einer reichen Stadt wie München nicht leben!“ Sie finde es unmöglich, „dass [Amazon-Gründer Jeff] Bezos & Co. legal keine Steuern zahlen, wir jedoch kriegen nicht einmal eine vernünftige Lohnerhöhung.“

Die Betriebsrente, die Svetlana erwähnte, sorgt weiter für Unruhe, da sie im neuen Abschluss keineswegs für alle sicher ist. „Die Rente ist sicher“, hatte GDL-Chef Claus Weselsky am 16. September behauptet, aber das trifft durchaus nicht für alle zu. Sie wurde nur für die sogenannten „Bestandsmitarbeiter“ festgeschrieben, und die Bahn hat freie Hand, die Betriebsrente für kommende Generationen zu verschlechtern oder auf Raten abzuschaffen. „Ungerecht“ finden das viele Eisenbahner.

„Ja, es ist nicht gerecht“, bestätigte einer, „dass die Neuen ab dem nächsten Jahr keine Betriebsrente mehr bekommen.“ Die Lohnerhöhungen nannte er „lächerlich“, und zu der Rente sagte er: „Es ist, wie ihr schreibt: Die Bahn führt damit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ein.“

Mehrere Eisenbahner gingen auf die öffentliche Medienhetze gegen den Streik ein, und eine Zugbegleiterin sagte: „Für die Fahrgäste war der Stillstand blöd, aber ich finde, dass wir zum Streiken berechtigt waren.“

„In jedem Fall muss man für seine Rechte kämpfen!“ ergänzte ein Kollege, „uns wird nichts freiwillig geschenkt.“ Ein Auszubildender erklärte: „Wir Azubis durften leider nicht mitstreiken, sonst wäre ich auch dabei gewesen.“

Die Zugbegleiterin fand es sehr gut, dass die Sozialistische Gleichheitspartei und alle Sektionen der Vierten Internationale die Arbeiter international zusammenschließen wollen und für den Sozialismus kämpfen. Sie nahm unsere Wahlerklärung mit und sagte: „Macht weiter so!“

Streikversammlung am 6. September vor dem Berliner Hauptbahnhof (Foto: WSWS Media)

Dreimal hatte die GDL im August und September zum Streik aufgerufen, und jedes Mal war die Zahl der streikenden Lokführer und Bahnbeschäftigten größer als zuvor. Offiziell beteiligten sich laut GDL zuletzt nicht weniger als 24.000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner an dem Streik. Nicht einmal vor Gericht konnte das Bahn-Management sich durchsetzen. Zwei Instanzen hatten den Streik für rechtens erklärt. Gleichzeitig entwickelten sich parallel dazu Streiks von anderen Beschäftigten, wie bei der Berliner Charité, bei Vivantes oder unter den Gorillas-Riders.

Genau in dieser Situation würgte die GDL den Streik zehn Tage vor der Wahl aus Rücksicht auf die kandidierenden Parteien ab. Obwohl kein einziges drückendes Problem der Bahnbeschäftigten gelöst ist, stellte die Gewerkschaft den Kampf ein und akzeptierte eine Friedenspflicht auf zwei Jahre hinaus. Dies zeigt deutlich die Notwendigkeit für Lokführer und alle Eisenbahner, sich unabhängig von den Gewerkschaften in Aktionskomitees zu organisieren und als Teil der Arbeiterklasse für ein internationales, sozialistisches Programm zu kämpfen!

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