150 Jahre seit der Geburt des großen amerikanischen Romanciers Theodore Dreiser

Am 27. August jährte sich zum 150. Male der Geburtstag des amerikanischen Romanautors Theodore Dreiser, der in Terre Haute (Indiana) geboren wurde.

Dreiser verfasste einige der wichtigsten amerikanischen Romane, die jemals geschrieben wurden, darunter Schwester Carrie (1900), Jennie Gerhardt (1911), Der Finanzier (1912), Der Titan (1914) und Eine amerikanische Tragödie (1925). Das letztgenannte Werk war sein krönender Abschluss und vielleicht das einfühlsamste Werk der Belletristik, das je über das Streben nach dem „amerikanischen Traum vom Erfolg“ und seinen verheerenden sozialen und psychischen Folgen geschrieben wurde.

Theodore Dreiser (Foto von Carl Van Vechten, 1933)

Dreiser betätigte sich zudem journalistisch, schrieb Kurzgeschichten sowie zahlreiche faszinierende Erinnerungen, darunter Ein Buch über mich selbst (1922; dt. Übersetzung 1950) und Dawn (1931). In Dreiser Looks at Russia (1928) berichtet der Autor über seinen Besuch in der Sowjetunion im Jahre 1927. Die Tragik Amerikas (1931, dt. Übersetzung 1932) war ein der Situation in den USA nach dem Wall-Street-Crash gewidmeter Essaysammelband. Im Jahr 2011 brachte der Verlag University of Illinois Press unter dem Titel Theodore Dreiser: Political Writings seine politischen Schriften heraus.

In einer Mitte des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Übersicht zur US-amerikanischen Literaturgeschichte heißt es, dass „Dreiser das Nervenkostüm der amerikanischen Gesellschaft enthüllt und damit einen tiefgründigeren und dauerhafteren Einfluss ausübt als irgendein anderer Romanautor realistischer Belletristik im Amerika Wirdes zwanzigsten Jahrhunderts. Mehrere Generationen von Schriftstellern stehen bereits in seiner Schuld.“ (Literary History of the United States, 1953) Sein Einfluss, bemerkte derselbe Band, lässt sich daran ablesen, „wie ernsthaft die Tatsachen des amerikanischen Lebens behandelt werden.“ Er war „seiner Kunst treu und machte weder an die Zensur noch die Prüderie Zugeständnisse.“

Dreiser genoss immense Hochachtung unter vielen bedeutenden Persönlichkeiten der amerikanischen Literatur, darunter Sherwood Anderson, John Dos Passos, Sinclair Lewis, F. Scott Fitzgerald (der „voller Ehrfurcht gegenüber Dreiser war,” wie es in einer Biographie heißt), James T. Farrell und Richard Wright.

Der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein schrieb ein Drehbuch für Eine amerikanische Tragödie, das allerdings niemals verfilmt wurde. Erich von Strohheim erwog eine Filmversion des Romans und Josef von Sternberg drehte im Jahr 1931 eine Adaption unter gleichem Titel, die Dreiser ablehnte. Im Jahr 1951 erschien eine Neuverfilmung unter dem Titel Ein Platz an der Sonne des Regisseurs George Stevens, eine einigermaßen entschärfte Version von Dreisers Buch, die sich der McCarthy-Ära verdankt. Im Jahr 1932 führte der legendäre linksgerichtete deutsche Bühnenautor Erwin Piscator in Wien die Premiere seiner Bühnenversion von Eine amerikanische Tragödie auf. Auch für Oper, Radio und Fernsehen wurden Adaptionen des Romans erarbeitet.

Frühe Ausgabe von Eine amerikanische Tragödie

Dreiser, ein Mensch von großer Integrität, Offenheit und Sensibilität, konnte, wie überliefert wurde, in Tränen ausbrechen, wenn ihm schmerzverzerrte oder verzweifelte Gesichter auf der Straße begegneten.

In den USA gab es zum 150. Geburtstag von Theodore Dreiser zahlreiche Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Allerdings stößt seine „naturalistische“, objektiv-realistische Darstellung der sozialen Verhältnisse auf wenig Gegenliebe bei den heutigen amerikanischen Literaturkritikern und Akademikern.

Es ist bemerkenswert, dass man in Deutschland keine Würdigung des Schriftstellers in den großen Medien findet. Sind doch seine Bücher über die Brutalität und die sozialen Verwüstungen des Kapitalismus gerade in der Gegenwart wieder hochaktuell.

Auch auf dem deutschen Buchmarkt finden seine Bücher wenig Beachtung. Hauptsächlich wurde der berühmte Schriftsteller nach dem Krieg in der DDR verlegt. In der Bundesrepublik kamen in den 50er Jahren Die amerikanische Tragödie, Jenny Gerhardt und Schwester Carrie als Lizenzausgaben beim Rowohlt-Verlag heraus. Nach dem Ende der DDR wurden die Bücher lange nicht mehr aufgelegt. Erst 2019 hat nun der Rowohlt-Verlag Schwester Carrie wieder als Taschenbuch sowie als eBook herausgebracht. Die anderen deutschen Dreiser-Bücher, darunter Die amerikanische Tragödie, sind gegenwärtig nur auf dem Gebrauchtbüchermarkt zu finden.

Der nachstehende Artikel wurde ursprünglich im Juni 1991 im Bulletin veröffentlicht, dem amerikanischen Vorläufer der World Socialist Web Site. Die Würdigung von Dreisers Werk nahm die Form einer Rezension von Richard Langmans wertvoller Biographie des Künstlers an.

Es gibt keinen Grund, den Artikel von 1991 mitsamt seiner aufrichtigen Bewunderung für Theodore Dreiser abzuändern. Seine Feststellung, dass „die ganze Prüfung eines Buches“ darin bestehe, ob es „wahr, aufschlussreich, zugleich ein Abbild und eine Kritik des Lebens“ gibt, bleibt heute genauso gültig wie zur Zeit, als Dreiser dies formulierte.

***

Richard Lingemans zweibändige Biographie über Theodore Dreiser, die nur auf Englisch vorliegt, liefert eine umfassende Darstellung vom Leben und Werk jenes Mannes, der wohl als der größte Romanautor der Vereinigten Staaten anzusehen ist. Der erste Teil, At the Gate of the City, 1871–1907 [Am Tor der Stadt, 1871--1907], erschien 1986, der zweite Teil, An American Journey, 1908–1945 [Eine amerikanische Reise, 1908--1945], im Jahr 1990.

Lingeman (Jahrgang 1931), Herausgeber der liberalen Zeitschrift The Nation, scheint das biographische Material gewissenhaft gesammelt zu haben. In jedem Falle ist seine Darstellung ausgewogen genug, damit der aufmerksame Leser seine eigenen Schlüsse über dieses faszinierende und schwierige Leben ziehen kann.

Wer mit Eine amerikanische Tragödie, Schwester Carrie, Der Finanzier oder irgendeinem anderen Werk Dreisers vertraut ist, wird seinem Biographen gewiss eine Reihe von Fragen stellen wollen: Welche gesellschaftlichen und historischen Kräfte spiegelt sein Werk wider? Welchen Hintergrund hat die brennende emotionale Intensität, die man in seinen Romanen erlebt? Was waren seine eigenen sozialen Vorstellungen? Was trieb ihn dazu, seine Bücher in dieser besonderen Weise zu schreiben? Welche literarischen Einflüsse formten Dreiser als Künstler?

Es ist sicherlich möglich, diese Fragen durch eine kritische Lektüre von Lingemans Buch in Verbindung mit Dreisers Romanen selbst zumindest ansatzweise zu beantworten.

Dreiser wurde im Jahr 1871 in Terre Haute im Bundesstaat Indiana geboren. Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg erfreute sich Terre Haute – auch Geburtsort des großen Sozialisten und Arbeiterführers Eugene Victor Debs –, wie auch der Rest der Vereinigten Staaten, eines industriellen Booms. Doch ein „Boom“ beinhaltet auch zwangsläufig die soziale Entwurzelung und den Ruin ganzer Gesellschaftsschichten. Der wirtschaftliche Niedergang der Dreiser-Familie begann unglücklicherweise etwa zu der Zeit, als Theodore zur Welt kam. Er war das neunte von zehn Kindern eines deutschstämmigen, streng katholischen Vaters und einer mennonitischen Mutter, die zum Katholizismus konvertiert war.

John Paul, Theodores Vater, der zuvor Teilhaber in einer Wollfabrik und Leiter der zugehörigen Spinnerei war, erlitt einen steilen sozialen Abstieg und verlor sein Einkommen. Die Ursachen für das Unglück und die große Armut der Familie, die Dreiser in späteren Jahren ausschließlich auf die Religiosität und den Starrsinn seines Vaters zurückführen wollte, scheinen in erster Linie wirtschaftlicher Natur gewesen zu sein: der Wandel in der Wollindustrie selbst sowie die Finanzpanik von 1875.

Der Haushalt der Dreiser-Familie scheint ein emotionsgeladener Hexenkessel gewesen zu sein. Dreisers Mutter Sarah war eine dominante Persönlichkeit, die darauf drang, ihre Kinder von ihrer Wärme und Liebe abhängig zu machen. Schon die Intensität, mit der die Beziehungen innerhalb der Familie gepflegt wurden, ließ die sensibelsten und skeptischsten der Kinder schnell das Weite suchen.

Theodores ältester Bruder, der sich selbst Paul Dresser nannte, rannte als Jugendlicher davon und ging ins Showbusiness. Er wurde einer der populärsten Liedschreiber der 1890er Jahre (On the Banks of the Wabash, Just Tell Them That You Saw Me), ein Spezialist des rührseligen Mutterlied-Genres. Mehrere von Theodores Schwestern rannten weg nach Chicago oder New York und „lebten in Sünde“ mit älteren, teils auch verheirateten Männern.

Man spürt beim Lesen über die Dreiser-Familie eine gewaltige Unruhe, Unzufriedenheit mit dem sich bietenden Leben und verzehrende Sehnsüchte, die verschiedene Formen annehmen, Sehnsüchte, die zweifellos mit dem Aufstieg der Industrie und der Großstädte und dem modernen amerikanischen Kapitalismus zusammenhängen, aber nicht mit ihnen identisch sind.

Die Familie, die jahrelang versucht hatte, sich die Ehrbarkeit des Mittelstandes zu bewahren, begann 1878 zu zerfallen, als Sarah und ihre drei jüngsten Kinder nach Sullivan, Indiana, zogen, angeblich aus finanziellen Gründen. Theodore lebte anschließend in Evansville, Indiana, Chicago und Warsaw, Indiana, bevor er 1890, im Todesjahr seiner Mutter, die staatliche Universität in Bloomington besuchte.

Im Jahr 1891 begann Theodore Dreiser in Chicago seine Karriere als Reporter. Er arbeitete zuerst beim Daily Globe, einer laut Lingeman „verrufenen“ Zeitung. Etwa ein Jahr später, während seiner Arbeit beim Globe-Democrat in St. Louis lernte er seine zukünftige Frau kennen, Sara (“Jug”) Osborne White, eine schüchterne, kultivierte Schullehrerin. Eines Tages beschloss Dreiser, sich nach New York City aufzumachen, wo sein Bruder Paul zum Star am Broadway geworden war. Er arbeitete sich nach Osten vor, schrieb für Zeitungen in Toledo, Cleveland, Buffalo und Pittsburgh, bevor er 1894 in New York sesshaft wurde.

Die Bedeutung der Erfahrungen Dreisers in diesen Industriestädten kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dreiser berichtete von Eisenbahnunglücken, Morden, Lynchjustiz, Streiks, lokalen politischen Skandalen sowie den sozialen Aktivitäten der Reichen. Als er durch die erbärmlichen Slums und Mietskasernen der boomenden Industriezentren ging, erlebte er aus erster Hand das Wachstum riesigen Reichtums auf der einen Seite und riesigem Elends auf der anderen. Er fühlte sich von diesem gigantischen sozialen Prozess angezogen und abgestoßen zugleich. Er wollte einerseits daran teilhaben, ihn zugleich aber stoppen und zunichte machen. Diese Ambivalenz blieb ihm ein Leben lang erhalten.

Dreisers Aufenthalt in Pittsburgh scheint von besonderer Bedeutung zu sein. Hier zeigte sich auf eindrucksvolle Weise, welche unterschiedlichen Einflüsse ihn zu einem so bemerkenswerten Künstler machten. Er zog zwei Jahre nach dem berühmten Homestead-Stahl-Streik von 1892 in die Stadt und fuhr mit der Straßenbahn zum Ort des Geschehens. Er besuchte auch die stattlichen Villen im Schenley Park. Er nahm einen Job beim Dispatch an, dessen ausdrückliche Politik lautete, niemals soziale Verhältnisse zu kommentieren. Dreiser wurde der Abteilung für Polizeiberichte zugewiesen, was ihm offensichtlich sehr viel Zeit zum Lesen bot.

In einer von Andrew Carnegie gestifteten Bibliothek las er die Romane von Honoré Balzac, jenem großen, von Karl Marx sehr bewunderten französischen Autor. Lingeman schreibt dazu: „Theodore bestaunte ehrfürchtig das von Balzac mit pulsierendem Leben gezeichnete Paris. All diese raffsüchtigen und gierigen Menschen wurden ganz leidenschaftslos unter die Lupe genommen: Es gab keinen Versuch, sie zu idealisieren. (…) Diese Perspektive auf das Leben packte Theodore mit der Wucht einer Offenbarung. (…) Warum konnte nicht ein junger Schriftsteller eine amerikanische Stadt so auseinandernehmen, wie Balzac es mit Paris tat?“

In Pittsburgh stieß Dreiser auch auf die Werke von Herbert Spencer, dem Sozialdarwinisten und Popularisierer des berüchtigten Satzes vom „Überleben des Stärkeren“ („Survival of the fittest“). Spencer, von Beruf Ingenieur, „stellte sich das Universum als eine große Maschine vor, angetrieben durch göttliche hydraulische Kräfte. Kraft war die Grundlage von Bewegung und Materie. Kraft dauerte an durch alle Zeiten; sie wurde durch irgendetwas ausgelöst – ein grundloser Grund, den Spencer das „Unergründliche“ nennt. (…) Das Endprodukt der Evolution war ein Gleichgewicht – im Falle der Menschen ein Zustand vollkommener Harmonie zwischen Bedürfnis und Umwelt, Angebot und Nachfrage, Bevölkerung und Ressourcen. Individuen sind angetrieben durch die Kraft des Bedürfnisses, nicht durch Ideale oder Ethik. Indem das starke Individuum seine eigene Befriedigung und sein Glück maximiert, verdrängt es im Wettbewerb um die knappen Ressourcen der Erde notwendig das schwache Individuum – das Überleben der Stärkeren.“ (Lingeman)

Spencers Haltung, die eine Rechtfertigung für die rücksichtlose Entwicklung des Industriekapitalismus lieferte, erhielt ihren eifrigsten amerikanischen Schüler in der Person von Andrew Carnegie, der den Satz 'Alles ist gut, weil alles besser wird' zu seinem persönlichen Motto machte.

Dreiser, umgeben von unablässig arbeitenden Öfen und Fabriken, fühlte sich zu einer Sicht des Universums und des Menschen selbst als Maschinen hingezogen, die unerbittlich und unaufhaltsam von einer äußeren Kraft angetrieben werden. Seine religiösen, ja mystischen Neigungen ließen sich mit „wissenschaftlichen Prinzipien“ vereinbaren, und die überwältigenden Begierden, die ihn quälten, ließen sich als Ergebnis eines „biochemischen Triebs“ erklären, der sich seiner Kontrolle völlig entzieht.

Selbst als Dreiser in den späten 1920er Jahren politisch nach links ging, brach er niemals mit dem Spencerianismus und deterministischen Ideen. Er hat nie ganz mit dem für das ländliche Kleinbürgertum charakteristischen Philistertum des 19. Jahrhunderts gebrochen.

Zwischen 1895 und 1897 gab Dreiser die Zeitschrift Ev’ry Month, The Woman’s Magazine of Literature and Music heraus. Im Jahr 1898 machte er sich als Freiberufler selbständig. Irgendwann im Sommer oder Herbst 1898 begann Dreiser, auf Drängen seines Freundes Arthur Henry, an der Niederschrift von Schwester Carrie. Lingemans Bemerkungen über Dreiser Realismus scheinen hier angebracht: „Seine familiären Kämpfe mit Konventionen, sein Kontakt mit den Schattenseiten des städtischen Lebens als Reporter, seine ‚Bekehrung‘ zu Darwinismus und Spencerismus, seine Liebe zu Balzac, seine Betrachtung der Gesellschaft als Widerspiegelung der Natur, seine Faszination für Stadtszenen, in denen er Schönheit in der Hässlichkeit fand, seine sexuelle Einführung in den Bordellen und Pensionen im Mittleren Westen -- man könnte noch weiter fortfahren; Dreiser war einfach von Natur aus geneigt, über das Leben zu schreiben, wie es war, und nicht so, wie es nach Meinung der Idealisten zu sein hatte.“

Schwester Carrie

Dreisers Schwester Emma war die unmittelbare Inspiration für den Charakter der Schwester Carrie. Im Jahr 1894, als sie in Chicago lebte, verliebte sie sich in einen 40-jährigen Angestellten namens L.A. Hopkins, einen verheirateten Mann. Hopkins reagierte auf die Entdeckung seines und Emmas „Liebesnestes“ durch seine Frau, indem er mit 3.500 Dollar in bar und Schmuck im Wert von 200 Dollar aus dem Safe seiner Arbeitgeber, einer Saloon-Kette, nach Montreal floh. Später gab er das meiste von dem Geld wieder zurück und lebte zusammen mit Emma einige Zeit in New York.

Schwester Carrie erzählt die Geschichte von Caroline Meeber, einem 18 Jahre alten Mädchen aus einer Kleinstadt, das im Jahr 1889 in Chicago ankommt. Sie ist fast sofort unzufrieden mit dem tristen Leben, das ihre Schwester und ihr Schwager führen, und mit der Zukunft, die ihr als Fabrikarbeiterin geboten wird. Sie geht auf die Avancen eines energischen und attraktiven Handelsreisenden ein und zieht schließlich mit ihm zusammen, hauptsächlich darum, weil ihr dies eine bessere, fröhlichere Zukunft zu bieten scheint.

Nur sehr wenige Schriftsteller, wenn überhaupt, haben so scharfsinnig wie Dreiser aufgezeigt, dass Emotionen und vor allem Liebe das Ergebnis komplizierter sozialer Umstände sind. Ohne eine Spur von Moralisieren beweist Dreiser, dass Liebe nichts Zufälliges oder Beliebiges ist, dass sie nicht Etwas ist, was vom Himmel fällt. Er zeigt in allen seinen Geschichten, dass sich Männer und Frauen aus sehr realen, physischen, psychologischen, sozialen und ökonomischen Gründen verlieben. Daran ist nichts Zynisches.

Carrie entscheidet sich, auf Drouets Annäherungsversuche einzugehen; einerseits, weil er wirklich attraktiv und aufmerksam ist und weil er sich um sie kümmert, andererseits, weil er ihr einen Weg aus der Einsamkeit, Kälte und wirtschaftlichen Verzweiflung bietet, die ihr kleinbürgerliches Leben in Chicago prägt. Wäre er nicht gutaussehend und amüsant, dann wären seine Dollars nicht interessant für sie; würde er keine minimale finanzielle Sicherheit und ein Dach über dem Kopf bieten, dann wäre er nicht annähernd so attraktiv.

Und es gibt auch gar nichts Zynisches an der Tatsache, dass sie anschließend das Interesse an Drouet verliert und sich George Hurstwood zuwendet, einem viel kultivierteren und gesellschaftlich bekannteren Mann. Hurstwood stiehlt – ebenso wie der wirkliche Hopkins – in einer bemerkenswerten Szene das Geld seines Arbeitgebers und macht sich gemeinsam mit er ahnungslosen Carrie auf nach New York City. Hurstwoods Abstieg und Verwandlung in ein gebrochenes, heruntergekommenes menschliches Wrack und sein schließlicher Suizid werden Carries etwas zufälligem, aber brillantem Erfolg als Schauspielerin gegenübergestellt. Die abschließenden Passagen des Romans, in denen Hurstwood den Gashahn andreht und sich im Bett seiner Absteige ausstreckt um zu sterben, widersprechen direkt der Selbstzufriedenheit und dem nationalen Optimismus, die zur Jahrhundertwende des zwanzigsten Jahrhundert vorherrschten.

Bereits die Umstände, die die Veröffentlichung von Schwester Carrie begleiteten, bieten den Stoff für einen Roman. Dreiser sandte sein Manuskript an das Verlagshaus Doubleday, Page & Co., möglicherweise, weil dort Frank Norris als Lektor beschäftigt war, dessen Roman McTeague er bewunderte. Norris jedenfalls las Schwester Carrie, erklärte, es sei ein „Meisterwerk“ und drängte Walter Hines Page, es zu drucken. Das Unternehmen akzeptierte offiziell den Roman, doch Frank Doubleday, nachdem er von einem Europa-Urlaub zurückgekehrt war, zeigte sich schockiert. Er hielt das Buch für „unmoralisch“ und erklärte, „die Geschichte sollte von niemandem veröffentlicht werden.“

Frank Norris

Dreiser beharrte darauf, dass eine mündliche Vereinbarung bestünde, und das Unternehmen erklärte sich nach Rücksprache mit ihren Rechtsanwälten bereit, das Buch zu drucken. Doch der Verlag unternahm nichts, um Schwester Carrie zu vermarkten. Im Gegenteil, Doubleday versuchte absichtlich und mit einigem Erfolg, das Buch zu begraben. Zwischen November 1900 und Februar 1902 wurden lediglich 456 Exemplare des Buches verkauft und Dreiser erhielt 68,40 Dollar an Tantiemen.

Lingeman zitiert Dreisers Antwort auf den Vorwurf der „Unmoral“. Sie drückt den Kern seiner rebellischen Haltung aus: „Was die sogenannten Wahrheits- oder Sittenrichter in Wirklichkeit anprangern, ist meist nicht die Erörterung der bloßen sexuellen Unzüchtigkeit, denn ein Werk könnte allein auf dieser Grundlage gar nicht erfolgreich sein. Es geht ihnen nur darum, dass ihre kleinkarierten Theorien über das Leben angekratzt und zerstört werden könnten, die in manchen Fällen nichts anderes darstellen, als ein einfaches Akzeptieren der Dinge, wie sie sind ...“

Dreisers riesige Enttäuschung über die Reaktion auf Schwester Carrie kann an der Tatsache ermessen werden, dass er über ein Jahrzehnt nicht in der Lage war, seinen nächsten Roman zu vollenden (obwohl er bereits im Januar 1901 mit Jennie Gerhardt begonnen hatte). Er wurde in eine moralische und psychologische Krise geworfen und erlitt einen akuten Nervenzusammenbruch, der ihn an den Tiefpunkt seines Lebens brachte.

Im April 1903, gelähmt durch das Gefühl des Scheiterns und schockiert durch die Kritik an seinem Werk, gab Dreiser seinen letzten Dollar für Lebensmittel aus, packte seine spärlichen Habseligkeiten zusammen und war bereit, auf den Straßen von New York zu leben. Eine zufällige Begegnung mit seinem Bruder in Manhattan führte zu seiner Einweisung in ein Sanatorium. Nachdem er dort zwei Monate verbracht hatte, entschied er, dass körperliche Arbeit das Richtige sei, seine emotionalen Probleme zu kurieren. Dreiser arbeitete daraufhin für die New Yorker Zentral-Eisenbahn, eine Periode, die er in Ein Amateurarbeiter festhielt, einem unvollendeten Werk.

Zwischen 1905 und 1910 gelang ihm eine sehr erfolgreiche Karriere als Magazin-Herausgeber. Dies war ein Zeitraum, in dem er sich bewusst von der Kunst ab- und dem Kommerz zuwandte. Zweifellos identifizierte er die erstgenannte mit Versagen, psychologischem Zusammenbruch und Armut.

Theodore Dreiser, um 1910

Im Jahr 1910 gab Dreiser die Arbeit im Magazinverlag auf und kehrte zum Schreiben von Romanen zurück. Der relative Erfolg der neu gedruckten Schwester Carrie im Jahr 1907, von der 4.600 Exemplare verkauft worden waren, hatte ihn finanziell wieder stabilisiert. In den nächsten drei Jahren, einer seiner produktivsten Perioden, schrieb oder vollendete er vier Romane: Jennie Gerhardt; Das Genie (1911); Der Finanzier (1912); Der Titan (1913).

Die Arbeit an Der Finanzier und seiner Fortsetzung, Der Titan, markierte einen bedeutsamen Wendepunkt für Dreiser. Er kündigte an, dass er genug über Frauen geschrieben habe und nun „der Mann im Mittelpunkt meiner nächsten drei oder vier Romane stehen wird.“ Offenbar hatte er den Schluss gezogen, wohl zum Teil aufgrund seiner eigenen kommerziellen Erfahrungen, er müsse nun harte Business-Romane schreiben, die den Egoismus und die Amoralität des Typus Kapitalisten ins Zentrum stellen, der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den USA üblich wurde.

Dreiser entwickelte seinen Roman und die Figur des Frank Cowperwood auf der Grundlage des Lebens des Großindustriellen und Besitzers eines Straßenbahnmonopols Charles T. Yerkes, eines „Räuberbarons und Genießers schöner Künste und Frauen“, in den Worten Lingemans. Yerkes setzte sich willkürlich über die Konventionen der herrschenden Moral hinweg und erklärte schamlos: „Was ich auch tue, ich tue es nicht aus Pflichtgefühl, sondern um mir selbst Befriedigung zu verschaffen.“ Lingeman bemerkt: „Solche Äußerungen waren geistesverwandt mit Dreisers Konzeption von Cowperwood als einer Art nietzscheanischem Übermenschen, einer unter Intellektuellen der frühen 1900er Jahre in Mode gekommenen Vorstellung.“

Der Finanzier bringt einen unübersehbaren Widerspruch zum Ausdruck. Zweifellos verspürte Dreiser eine gewisse Bewunderung für die rücksichtlose Energie eines Yerkes und seinesgleichen. Er projizierte zudem in die Figur Cowperwoods Charakterzüge, die er selbst zu besitzen wünschte. Cowperwoods Rücksichtlosigkeit beschränkt sich nicht auf die Finanzwelt. Sein Verlangen nach Frauen verrät etwas von Dreisers eigenen Fantasien. Es ist kein Zufall, dass Der Finanzier, Der Titan und Der Stoiker (viel später erschienen) mit Trilogie des Begehrens betitelt werden.

Dreisers Sinn für soziale Gerechtigkeit und sein scharfes Gespür für das vom Kapitalismus verursachte menschliche Elend werden auch in Der Finanzier deutlich. Er versöhnte seine widersprüchlichen Tendenzen einmal mehr mit der Berufung auf Spencer, welcher „lehrte, dass jede Kraft eine Gegenkraft erzeugte, jede Handlung eine Reaktion, womit beständiger Wechsel herrscht, bis schließlich Ausgeglichenheit – eine ‚Gleichung in der Schwebe‘ – herbeigeführt ist. Dreiser (…) betrachtete die Gesellschaft als darwinistischen Dschungel; doch er sah sie zugleich beherrscht von Spencerschen Gesetzen, die ihr das Muster eines endlosen Kampfes zwischen Besitzenden und Besitzlosen auferlegen, der schließlich zum Gleichgewicht führt, sobald eine der beiden Seite übermächtig geworden sein sollte.“

Die Veröffentlichung von Der Finanzier im Jahr 1912, begleitet von meist wohlwollenden Kommentaren, begründete ein für alle Mal Dreisers literarischen Status. Der Gesellschaftskritiker und „Bilderstürmer“ H. L. Mencken, ein früher Unterstützer von Dreisers Werk, schrieb ihm: „Sie sind dabei, einen festen Platz (…) als führender amerikanischer Romanschriftsteller zu erlangen. (…) Neue ernstzunehmende Romane werden nicht mehr mit [William Dean Howells’] Silas Lapham oder mit McTeague, sondern mit Schwester Carrie und Jennie Gerhardt verglichen.“

1916 war Dreiser gezwungen, gegen die Zensur zu kämpfen, die sich gegen das 1911 geschriebene, aber erst vier Jahre später veröffentlichte Buch The Genius richtete. Die in Cincinnati ansässige Western Society for the Suppression of Vice (Westliche Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters), Bestandteil des berüchtigten US-weiten Netzwerks der „Anti-Schmutz“-Organisationen von Anthony Comstock, reichte eine Beschwerde gegen Dreisers Verlag und die US-Postbehörde ein.

Viele der in dieser Periode geführten Angriffe gegen Dreiser und andere Autoren waren in patriotische und antideutsche Sprache gehüllt. Es war viel von „fremden“ oder „ethnischen“ Anschauungen und Autoren mit „Bindestrich“-Namen die Rede, die eine Bedrohung für Menschen „amerikanischer Herkunft“ darstellten. Lingeman sagt dazu: „Die Kräfte der alten Ordnung reagierten auf die fremde Bedrohung und versuchten, die Vorherrschaft der viktorianischen oder ‚angelsächsischen‘ Kultur wiederherzustellen und die Nation von ‚fremden‘ Werten zu reinigen, die sich um Naturalismus, Freudianismus und Sozialismus gruppierten. Es war ein intellektueller, aber auch ein soziologischer Krieg. Hinter den edlen Kritikern standen die rohen Kräfte des alten Nativismus auf der einen Seite und des Staates auf der anderen.“

Was Lingeman andeutet, allerdings nicht auszusprechen vermag, ist, dass hinter diesen „Anti-Laster“- und „Anti-Ausländer“-Kampagnen in Wirklichkeit der Kampf sozialer Klassen lag. Die Bourgeoisie bediente sich extrem reaktionärer Elemente des Kleinbürgertums, um eine Atmosphäre von „Amerikanismus“ und „nationaler Einheit“ zu schüren und damit die Bevölkerung auf den Eintritt in den Ersten Weltkrieg vorzubereiten. Zugleich wurden revolutionäre Tendenzen in der Arbeiterklasse isoliert und einer Hexenjagd ausgesetzt. Im November 1915 wurde Joe Hill, der Organisator der Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) hingerichtet. Im Westen und Südwesten der Vereinigten Staaten wurden allerorten IWW-Mitglieder verfolgt, und im Herbst 1916 fand im Bundesstaat Washington das berüchtigte Massaker von Everett statt.

Dreiser verbrachte die Kriegsjahre im Künstlermilieu von Greenwich Village, wo er die Gesellschaft von Radikalen wie Max Eastman und Floyd Dell suchte. Im Jahr 1919 zog er gemeinsam mit Helen Richardson, der Frau, mit der er den überwiegenden Rest seines Lebens verbringen sollte, nach Kalifornien.

Max Eastman

Im Sommer 1920 in Los Angeles begann Dreiser an der Niederschrift seines Meisterwerks, dem Roman Eine amerikanische Tragödie. Die Inspiration für das Buch ging auf den tatsächlichen Mordfall Gillette-Brown aus dem Jahr 1906 zurück. Dreiser hatte Zeitungsausschnitte darüber gesammelt. Chester Gillette, der Sohn eines Offiziers der Heilsarmee, lernte in der Hemdenfabrik seines Onkels in Cortland (New York), in der er arbeitete, ein Arbeitermädchen, Grace (Billy) Brown, kennen. Als Billy schwanger wurde, nahm Gillette sie offenbar zu einem Bootsausflug auf dem Big-Moose-See im Adirondacks-Gebirge mit, schlug sie mit einem Tennisschläger und stieß sie anschließend über Bord.

Sein Prozess wurde von der Regenbogenpresse frenetisch begrüßt. Die Skandalseiten stürzten sich freudig auf die Geschichte eines ehrgeizigen jungen Mannes, der „Miss Arm“ umbringt, um „Miss Reich“ heiraten zu können. Die Tatsache, dass es gar keine „Miss Reich“ gab, focht sie nicht an – sie erfanden eine! Lingeman schreibt: „Was ihn [Dreiser] berührte, war Chesters streng religiöser Hintergrund, sein scheinbar unfähiger Vater und seine starke Mutter, seine Armut, seine frühen Wanderungen, seine zufällige Begegnung mit seinem reichen Onkel – wie eine Szene aus den amerikanischen Groschenromanen von Horatio Alger –, seine nicht festgelegte soziale Stellung als armer Verwandter in Cortland, seine Affäre mit Billy Brown, und seine Beziehung mit einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die ihn dazu brachte, seine schwangere Geliebte aus der Fabrik zu ermorden.“

Eine amerikanische Tragödie beschreibt gnadenlos und unerbittlich, wie die brutale Maschinerie der amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft einen Menschen zermalmt. Was das Werk umso kraftvoller macht, ist, dass ihr Opfer, Clyde Griffiths, inbrünstig an diese Gesellschaft glaubt und nichts mehr wünscht, als ihr respektables Mitglied zu werden. Das echte Pathos des Kleinbürgertums, seine manipulierten Träume, sein Streben nach Prestige und guter Gesellschaft, seine Bereitschaft, alles Menschliche in ihm zu opfern, seine Selbstverstümmelung und Selbstverleugnung im Namen des „Vorwärtskommens“, seine Furcht und sein Staunen über die Funktionsweise der herrschenden Klasse – nichts von alledem ist jemals zuvor so klar dargelegt worden.

Die Geschichte ist unkompliziert. Clyde Griffiths, wie der wirkliche Chester Gillette, arbeitet für seinen Onkel in einer Kragenfabrik. Verurteilt zu Isolation und furchtbarer Einsamkeit aufgrund seines niedrigen ökonomischen Status’ einerseits, und seiner Verbindung (nur dem Namen nach) zur wohlhabenden Griffiths-Familie andererseits, geht Clyde eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen ein, das unter seiner Aufsicht arbeitet. Ihre Beziehung muss geheim bleiben, da es Angehörigen der Verwaltung verboten ist, in Verbindung mit den Arbeitern zu treten. Roberta Alden, Clydes Freundin, wird genau in diesem Augenblick schwanger, als er in die höheren Kreise der Stadt eingeführt wird und seine Romanze mit einem „Goldmädchen“, Sondra Finchley, ihm zuvor unvorstellbare Möglichkeiten bietet, an Reichtum, Luxus und Schönheit zu gelangen. Als es ihm unmöglich wird, eine Abtreibung durchzusetzen, zieht Clyde die ihm einzig mögliche Konsequenz, die darin besteht, Roberta zu ermorden. Weder hätte er sie jemals geheiratet, noch wäre zu verhindern gewesen, dass ihr Zustand seine Stellung in der Stadt vernichtet hätte. Seine Verhaftung und schließlich Hinrichtung folgen unausweichlich.

Eine amerikanische Tragödie ist ein erschreckender Roman. Dreisers Determinismus, sein Gefühl, dass das Universum von Kraft und Zwang angetrieben wird, hat nie besser funktioniert. Griffiths’ Handlungen sind gemäß den Standards der Gesellschaft selbst absolut logisch. Wie könnte er anders handeln, als Roberta zu beseitigen, die ihm den Weg in seine Traumwelt versperrt, die wie ein Mühlstein um seinen Hals hängt, die droht, ihn in die schmutziggraue, elende Existenz hinabzuziehen, die er als Kind kannte?

Niemand, der Eine amerikanische Tragödie liest, wird den Ablauf von Robertas Ermordung je vergessen. Das Boot auf dem einsamen See. Die dunklen Bäume am Seeufer. Der Strohhut, den Clyde trägt. Die Stille. Die Kamera, mit der er versehentlich auf sie zielt. Das Kentern des Bootes. Ihre Schreie. Die Stimme in seinem Ohr: „Und willst du sie jetzt retten, da du es nicht musst, da es sich um einen Unfall handelt, dich nochmals in die Schrecken des Zwangs und Misserfolgs stürzen, die dich so gequält haben und wovon du jetzt befreit wirst? Es könnte dir gelingen, sie zu retten, oder auch nicht. Sieh nur, wie sie um sich schlägt. Sie ist betäubt, sie kann sich nicht selbst helfen und durch ziellose Bewegungen kann sie auch deinen Tod herbeiführen, wenn du dich in ihre Nähe begibst. Du aber willst doch leben, und ihr Leben würde das deine jetzt nicht lebenswert machen.“ [aus: Rowohlt-Taschenbuch, Hamburg 1978, S. 405-406; Rechtschreibung angepasst]

Eine amerikanische Tragödie ist ein revolutionäres Buch, denn der ernsthafte Leser wird fast zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass ein solch monströses Gesellschaftssystem, das Menschen demoralisiert, zerreißt und ausrottet, Menschen, die an es glauben, die es anbeten, selbst zerstört werden muss.

Dies ist auch der Grund, warum Dreiser vom literarischen Establishment hierzulande als „toter Hund“ behandelt wird. Im Großen und Ganzen wollen die Professoren, Kritiker und Journalisten, diejenigen, die man die Intelligenzia nennt, nichts mit Dreiser und nichts mit Eine amerikanische Tragödie zu tun haben. Henry James, der minutiös und stilvoll die emotionalen Beziehungen wortgewandter Menschen aus der Mittelschicht beschreibt, ist eher nach ihrem Geschmack. Doch Dreiser hatte Dinge über das Leben verstanden, von denen James nicht einmal geträumt hätte.

Nach Eine amerikanische Tragödie schrieb Dreiser keinen weiteren bedeutenden Roman mehr, aber dieses Werk allein hat die Frage nach seinem Platz in der amerikanischen und der Weltliteratur entschieden.

In den späten 1920er Jahren begann Dreiser sich politisch nach links zu orientieren, oder jedenfalls darüber nachzudenken. Er besuchte im Jahr 1927 die Sowjetunion, als die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Revolutionsjubiläum stattfanden, exakt in jener Zeit, als die Bürokratie sich konsolidierte. Er hatte über seine Erfahrungen nichts sehr Erhellendes mitzuteilen, wenn Lingemans Buch als zuverlässiger Indikator gelten kann. Nach der Reise kommentierte er: „Persönlich bin ich Individualist, und werde es wohl bis zu meinem Ende bleiben. In diesem ganzen kommunistischen Durcheinander habe ich nichts gesehen, was mich im Geringsten von meinen frühesten Erkenntnissen über die Bedürfnisse des Menschen abbringt. Eines davon ist der individuelle Traum von der Selbstverwirklichung, und ich habe nicht das Gefühl, dass der Kommunismus daran auch nur das Geringste geändert hat.“

Im Konflikt zwischen Trotzki und der Linken Opposition auf der einen Seite und Stalin und der sowjetischen Bürokratie auf der anderen sah Dreiser lediglich einen persönlichen Konflikt. „Trotzki und einige seiner Verbündeten in der Minderheitsgruppe waren in Aufruhr. (…) Stalin und seine Gruppe waren in der Mehrheit, und es blieb nichts anderes übrig, als sie [Trotzkis Gruppe] auszuschließen. Und obwohl er eine gewaltige Anhängerschaft hat, wurde er ausgeschlossen, denn die Russen haben verstanden, dass ihre Stärke in der Einigkeit liegt.“

Dreiser wurde zu einem Pro-Stalinisten, doch kein unterwürfiger Handlanger. Im Jahr 1933 weigerte er sich, eine Protestpetition gegen die Gefangennahme von Trotzkis Anhängern in der UdSSR zu unterzeichnen. Dreiser sagte zu Max Eastman mit Worten, die den von ihm mit Stolz verkündeten Pragmatismus deutlich widerspiegeln: „Wie auch immer die gegenwärtige Diktatur in Russland beschaffen sein mag - ungerecht oder was auch immer -, wichtig ist nur der Sieg Russlands. Ich halte es mit Lincoln: Tausche niemals die Pferde, während du einen Fluss überquerst.“

Zur Zeit der Moskauer Schauprozesse und der Organisierung der Dewey-Kommission zur Verteidigung Trotzkis gegen die verleumderischen und mörderischen Anschuldigungen, die von Stalin ausgingen, unterschrieb Dreiser eine Petition, die Deweys Einsatz verurteilte, weil er „faschistischen Kräften Unterstützung verschaffen“ würde. Im Jahr darauf allerdings weigerte er sich offensichtlich, eine Erklärung zu unterzeichnen, die die Urteile der Säuberungsprozesse unterstützte.

Dreiser spielte eine andere, glaubwürdigere Rolle bei der Organisierung von Autoren und Intellektuellen zur Verteidigung der Bergarbeiter von Harlan County und weiterer Arbeiter im Jahr 1930. Der Respekt, mit dem Dreiser begegnet wurde, war enorm. Seine Worte trugen großes Gewicht. Zu einem Meeting in seiner New Yorker Wohnung gelang es Dreiser, „praktisch jeden aus der literarischen Welt“ zu versammeln. Lingeman, der die Erinnerung eines der Teilnehmer wiedergibt, zeichnet folgendes Bild: „Hinter einem Tisch stehend, weißhaarig, groß und massiv, rief Dreiser um Aufmerksamkeit, murmelte etwas Unverständliches und verlas dann, sein Taschentuch faltend und wieder entfaltend, eine vorbereitete Erklärung. Er beschrieb den abgrundtiefen Zustand, in der sich das Land befindet. (…) Nach dieser sorgenvollen Litanei schaute er auf und sagte mit ruhiger Stimme: ‚Die Zeit ist reif für die amerikanischen Intellektuellen, dem amerikanischen Arbeiter einen Dienst zu erweisen‘.“

"Bergarbeiter von Harlan sprechen. 1931. Bericht über den Terror im Kohlerevier von Kentucky." Dokumentation des von Dreiser geleiteten Komitees

Im Oktober 1931 unternahm Dreiser auf Veranlassung der Kommunistischen Partei einen Ausflug nach Pinesville (Kentucky) und hielt Vorträge, in denen er die Notlage der streikenden Bergarbeiter beleuchtete.

Dreiser verbrachte seine letzten Lebensjahre in Kalifornien, wo er viel Zeit damit verschwendete, wissenschaftliche Entdeckungen mit religiösem Glauben zu versöhnen. Seine posthum veröffentlichten Notes on Life sind eine Mischung aus wissenschaftlichen Pikanterien, mystischer Quacksalberei und gelegentlichen Einsichten. Kurz vor seinem Tod trat Dreiser, offenbar als Ausdruck seiner politischen Widerspenstigkeit, in die Kommunistische Partei ein, mit der er jahrelang nichts mehr zu tun gehabt hatte. (Ein früherer Aufnahmeantrag wurde abgelehnt.) Er starb im Dezember 1945.

Für jeden Arbeiter oder Angehörigen der Mittelschichten, der sein Verständnis der sozialen und psychologischen Beziehungen erweitern will, der die Wahrheit über die kapitalistische Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf den Menschen erfahren will, sind Dreisers Werke eine Grundvoraussetzung. Es ist höchste Zeit, dass das Interesse an seinen Romanen wiederbelebt wird. Nachdem man sie gelesen hat, fragt man sich, wie man so lange ohne sie auskommen konnte. Lingemans Buch ist eine nützliche Ergänzung zu den Romanen selbst.

Auf die Kritik, eine seiner Figuren sei unsympathisch, antwortete Dreiser einmal, indem er sein Konzept des Realismus zusammenfasste: „Die ganze Prüfung eines Buches ist für mich: ist es wahr, aufschlussreich, zugleich ein Abbild und eine Kritik des Lebens? Wenn es diese Kriterien erfüllt, dann können wir auf Sympathie, Anstand und sogar die größte Schande und den größten Schmerz verzichten.“

Loading