Nato verstärkt Militäraufgebot an der russischen Grenze

Putin: „Wir können uns nicht weiter zurückziehen“

Am letzten Dienstag machte der russische Präsident Wladimir Putin in einer außergewöhnlichen Rede vor dem Offizierskorps, dem gesamten Verteidigungsministerium und vor Kadetten der Militärschulen deutlich, dass sich die russische Regierung auf einen möglichen Krieg mit der Nato vorbereitet.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede auf der jährlichen Pressekonferenz in Moskau am 23. Dezember 2021 (AP Photo/Alexander Semlianitschenko)

Während eines Großteils seiner Rede schilderte Putin ein Beispiel nach dem anderen dafür, wie die USA während der letzten drei Jahrzehnte Länder ohne Rücksicht auf das Völkerrecht und frühere Abkommen bombardiert haben. Er nannte den Irak, Libyen sowie Syrien und vor allem die Bombardierung Jugoslawiens in den 1990ern. Putin warf den USA außerdem vor, den IS und andere islamistische Organisationen unterstützt zu haben, darunter separatistische islamistische Bewegungen im russischen Nordkaukasus.

In den letzten Wochen hat Putin mehrfach vor einer Wiederholung des „Jugoslawien-Szenarios“ in Russland gewarnt, d.h. vor dem Auseinanderbrechen des Landes durch eine Mischung aus ethnischen Konflikten, Bürgerkriegen und imperialistischen Angriffen, allerdings in einem viel größeren Ausmaß.

Putin erklärte, der Kreml hege die Befürchtung, die USA könnten zusammen mit der ukrainischen Regierung in Kiew eine militärische Provokation mit Chemiewaffen vorbereiten. Er verwies auf die Lage in der Ukraine. Dort wurde im Jahr 2014 eine pro-russische Regierung durch einen von der EU und den USA unterstützten Putsch gestürzt, was zu einem immer noch andauernden Bürgerkrieg und einem massiven Militäraufgebot der Nato an der russischen Grenze führte. Putin erklärte, die Nato müsse verstehen, dass „wir uns nicht noch weiter zurückziehen können“ und die Truppen „direkt an unserer Türschwelle stehen.“

Putin warnte: „Wenn unsere westlichen Kollegen ihren ziemlich aggressiven Kurs fortsetzen, werden wir mit angemessenen militärisch-technischen Maßnahmen und mit Härte auf die feindlichen Schritte reagieren.“

Doch obwohl er alle schriftlichen Verträge oder Abkommen mit den USA und der Nato als faktisch wertlos darstellte, verstärkte er seine Forderungen, die Nato müsse ein Abkommen unterzeichnen, dass „Garantien“ für Russland enthält und bestimmte „rote Linien“ respektiert. Sein Betteln, die Nato-Mächte müssten ihm „irgendetwas, zumindest irgendetwas“ geben, verdeutlicht die Verzweiflung der Kreml-Oligarchie über die Lage, in der sie sich selbst sieht.

Wenige Tage vor Putins Rede veröffentlichte der Kreml eine Liste von Garantien, die er von der Nato einfordert, darunter die Einstellung weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine in der militärischen Konfrontation mit prorussischen Separatisten im Osten des Landes und ein Verzicht auf weitere Truppenstationierungen in Osteuropa. Darüber hinaus fordert die russische Regierung auch eine schriftliche Garantie von der Nato, die Ukraine niemals als Mitgliedsstaat aufzunehmen.

Vertreter der USA und der EU haben bereits angedeutet, dass sie viele dieser Forderungen als „inakzeptabel“ betrachten. Die USA und Russland wollen Anfang nächsten Jahres erneut über den Ukraine-Konflikt verhandeln.

Am gleichen Tag, an dem Putin seine Rede hielt, diskutierte auch die Biden-Regierung über neue Sanktionen im Falle eines Kriegs zwischen Russland und der Ukraine, welche die russische Wirtschaft in bisher beispiellosem Ausmaß treffen würden. Diskutiert wurde u.a. über ein Exportverbot für Apple-Produkte und von Technologie, die von entscheidender Bedeutung für die russische Flugzeug- und Autoindustrie ist, d.h. für zwei seiner größten Industriebranchen.

Frühere Berichte von CNN und der BBC deuteten darauf hin, dass die USA und die EU auch in Erwägung ziehen, Russland aus dem SWIFT-Abkommen auszuschließen, der wichtigsten Basis für internationale Finanztransfers, das von entscheidender Bedeutung für die Tätigkeit russischer Banken und Unternehmen in der Weltwirtschaft ist. Ein solches Vorgehen wird von den imperialistischen Mächten allgemein als die „nukleare“ Option der Wirtschaftskriegsführung betrachtet und könnte zum nahezu völligen Zusammenbruch der ohnehin anfälligen und krisengeschüttelten russischen Wirtschaft führen.

Nur wenige Tage zuvor hatte der amerikanische Kongress einen Militäretat mit der Rekordsumme von 770 Milliarden Dollar verabschiedet, dessen Hauptziel die Vorbereitung von Kriegen gegen China und Russland ist.

Auch die Nato hat ihre Provokationen und Kriegsvorbereitungen an der russischen Grenze in den letzten Wochen weiter verstärkt. Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung schlug US-General Tod Wolters am 7. Dezember vor, dass die 6.000 Soldaten der als Nato-Speerspitze bekannten Einsatztruppen mobilisiert werden sollten, damit sie im Kriegsfall innerhalb von fünf Tagen in eine „Krisenregion“ verlagert werden können. Normalerweise wird für eine solche Truppenverlegung ein Zeitraum von mindestens sieben Tagen veranschlagt. Die Speerspitzen-Einheit ist momentan in der Türkei stationiert, wird aber im Jahr 2023 nach Deutschland verlegt. Auch andere Spezial- und Logistikeinheiten wurden in Alarmbereitschaft versetzt.

Ein Anzeichen für die erbitterten Konflikte, die hinter den Kulissen innerhalb der Oligarchie um die Frage toben, wie sie auf den wachsenden Druck des Imperialismus reagieren soll, war ein Artikel über Putins Rede in der russischen Tageszeitung Kommersant, dem russischen Äquivalent zur britischen Financial Times oder dem amerikanischen Wall Street Journal. Der Artikel strotzte nur so vor zynischen Kommentaren und verglich Putins Warnungen vor einer Provokation der USA mit Chemiewaffen in der Ukraine mit Colin Powells berüchtigter Lüge über Massenvernichtungswaffen im Irak.

Der Artikel warnte: „Das ist schon kein Kalter Krieg mehr, es ist alles viel heißer geworden.“ Er endete mit dem höhnischen Kommentar, eine „Zusicherung, dass es ein neues Jahr geben wird“, sei wünschenswert.

Putin warnt nicht zu Unrecht davor, dass sich die jugoslawische Katastrophe in viel größerem Ausmaß in der ehemaligen Sowjetunion wiederholen könnte. Die Wahrheit ist jedoch, dass die russische Oligarchie keine progressive Antwort auf die wachsende Kriegsgefahr hat. Es ist bezeichnend, dass der 30. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie am 26. Dezember in den russischen Medien kaum beachtet und von Putin überhaupt nicht erwähnt wurde.

Das Putin-Regime und die herrschende Oligarchie als Ganzes sind aus der Sowjetbürokratie hervorgegangen, die die Oktoberrevolution jahrzehntelang verraten und die Sowjetunion 1991 schließlich aufgelöst hat. Als die USA im Januar 1991 den Irak überfielen und eine drei Jahrzehnte dauernde Periode imperialistischer Kriegs- und Raubzüge begannen, genossen sie dabei die Zustimmung der Moskauer Bürokratie.

Die entstehende Oligarchie in Russland konzentrierte sich auf die Zerstörung des Sowjetstaats und die Plünderung seiner sozialen Ressourcen. Da sie bei diesem Raubzug Hand in Hand mit der amerikanischen Bourgeoisie zusammenarbeitete, gab sich die Oligarchie der Illusion hin, sie könnte mit dem Imperialismus friedlich kooperieren. Doch alle Abkommen und Zusicherungen der Nato, sie werde nicht näher an Russlands Grenzen heranrücken, wurden innerhalb weniger Jahre als Lügen entlarvt.

Während sich die imperialistischen Mächte jetzt offen auf einen Krieg gegen Russland vorbereiten, reagiert das Putin-Regime einerseits mit endlosen Bitten um Zusicherungen, die Putin selbst als wertlos anerkennt, und andererseits mit der Propagierung von Nationalismus und militärischer Aufrüstung.

Der völlige Bankrott der Reaktion der Oligarchie auf die Gefahr eines imperialistischen Angriffs wird von ihren Klasseninteressen bestimmt. Der größte Feind, mit dem sie sich konfrontiert sieht, ist nicht der Imperialismus, sondern die russische und internationale Arbeiterklasse. In allen kritischen Fragen der Klassenpolitik, vor allem der sozialen Konterrevolution der letzten Jahrzehnte und der mörderischen Reaktion auf die Corona-Pandemie, hat sich die russische Oligarchie an der Politik der amerikanischen und europäischen herrschenden Klasse orientiert.

Die Arbeiterklasse ist die einzige soziale und politische Kraft, die an einem Kampf gegen den imperialistischen Krieg interessiert ist. Dieser Kampf muss verbunden werden mit einer entschlossenen Intervention für die Eliminierung der Corona-Pandemie und der Hauptursache für Krieg und Massensterben: das kapitalistische System. Dieser Kampf erfordert vor allem den Aufbau einer revolutionären Führung in der Arbeiterklasse, deren Wurzeln in den entscheidenden historischen Erfahrungen des Kampfs der trotzkistischen Bewegung gegen den Stalinismus liegen.

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