Russischer Oberster Gerichtshof ordnet Auflösung von Memorial an, der führenden Forschungseinrichtung zum Großen Terror

Mehr als 30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten im Jahr 1991 versucht der russische Staat, jede Erforschung der Verbrechen des Stalinismus gesetzlich zu verbieten. Am 28. Dezember bestätigte der russische Oberste Gerichtshof eine Empfehlung der Regierung vom 11. November, laut der die Menschenrechtsorganisation International Memorial, die eine zentrale Rolle bei der Dokumentation und Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus gespielt hat, wegen eines angeblichen Verstoßes gegen Russlands Gesetze zur Abwehr „ausländischer Agenten“ aufgelöst werden müsse.

Memorial wurde 1987 inmitten der tödlichen Krise des Stalinismus gegründet. Die Organisation hat mehrere Datenbanken mit den Namen und biografischen Informationen von mehr als drei Millionen Opfern des stalinistischen Großen Terrors aufgebaut. Die Einträge liefern außerdem oft Informationen und Links zu passendem Archivmaterial und anderen Quellen. Das Archiv von Memorial umfasst die persönlichen Aufzeichnungen („Litschnje Dela“) von 60.000 Opfern des Terrors sowie Material von Mitgliedern der sowjetischen Dissidentenbewegung. Ihre Bibliothek enthält mehr als 40.000 Bände, viele davon seltene Ausgaben. Die Organisation betreibt ein Museum, das über die Jahre viele wichtige Ausstellungen und Veranstaltungen organisiert hat. Sollte das Urteil bestätigt werden, würde all das aufgelöst werden.

Tafeln mit den Namen der Opfer, die auf dem Schießplatz Kommunarka bei Moskau hingerichtet wurden (WSWS Media)

Der Oberste Gerichtshof hat die Schließung der zahlreichen regionalen Zweigstellen von Memorial angeordnet. Diese haben Überlebenden des Terrors geholfen und Ausstellungen und Ausgrabungen an den Schauplätzen von Massenerschießungen organisiert. Memorial hat in einer nachdrücklichen Erklärung seine Ablehnung des Urteils bekräftigt und Berufung angekündigt.

Nur einen Tag vor dem Urteil am Dienstag vergangener Woche verlängerte ein anderes russisches Gericht die Haftstrafe für den Historiker Juri Dmitrijew, der mit dem Memorial-Ableger in Karelien zusammengearbeitet hatte, auf 15 Jahre. Angesichts der grassierenden Pandemie kommt das Urteil gegen den 65-jährigen Dmitrijew, der sich in einem schlechten Gesundheitszustand befindet, einem Todesurteil gleich.

Zweifellos wurde der Prozess gegen Memorial auf den höchsten Ebenen des russischen Staats organisiert. Die Staatsanwaltschaft wurde vom russischen Justizministerium und dem Roskomnadzor unterstützt, dem Föderalen Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation.

Der russische Präsident Wladimir Putin, dessen Amt zuvor Unkenntnis über den Prozess gegen Memorial vorgetäuscht hatte, verurteilte die Organisation am 9. Dezember als angebliche Unterstützer von „terroristischen und extremistischen“ Gruppen. Er warf der Organisation außerdem vor, sie habe ihre „humanistischen Ideale“ verraten, weil sie aufgrund ihrer starken Unterbesetzung versehentlich die Namen von drei Nazi-Kollaborateuren auf ihrer Website erwähnt hatte; ein Fehler, der jedoch schnell korrigiert wurde.

Bei der Verhandlung am letzten Dienstag machte Staatsanwalt Alexei Schafjarow kein Geheimnis aus der politischen Motivation hinter der Verfolgung von Memorial. Er warf der Organisation vor, sie würde „staatliche Autoritäten kritisieren“ und erklärte: „Es ist offensichtlich, dass Memorial die historische Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg [d.h. den Zweiten Weltkrieg] verzerrt und ein falsches Bild der UdSSR als terroristischer Staat zeichnet. Zu diesem Zweck betreibt sie Spekulationen über die Unterdrückung im 20. Jahrhundert und rehabilitiert Naziverbrecher, die das Blut sowjetischer Bürger an den Händen haben.“ (Hervorhebung hinzugefügt)

Diese neostalinistischen Lügen und Verleumdungen müssen zurückgewiesen werden! Arbeiter müssen die sofortige Freilassung von Juri Dmitrijew fordern und aktiv werden, um die Auflösung von Memorial und seiner unschätzbaren Archive zu verhindern.

Die politischen Differenzen zwischen der WSWS und der russischen liberalen Opposition, zu der die Führung von Memorial Beziehungen unterhält, sind umfassend dokumentiert. Doch darum geht es hier nicht. Memorial hat durch seine Arbeit den Versuchen des Putin-Regimes geschadet, die Verbrechen Stalins zu rehabilitieren und zu rechtfertigen. Die Verteidigung von Memorial ist gleichbedeutend mit der Verteidigung des Zugangs zur historischen Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus.

Im Großen Terror der 1930er wurden mehr als eine Million Menschen ermordet, weitere Millionen verschwanden in Arbeitslagern. In diesem politischen Völkermord wurden ganze Generationen von Revolutionären ausgelöscht, vor allem die Führer der Oktoberrevolution und des Kampfs der Linken Opposition gegen den Stalinismus. Leo Trotzki, der neben Lenin der zweite Anführer der Revolution und später der wichtigste Gegner Josef Stalins war, wurde im August 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU ermordet.

Ein Eintrag aus der Datenbank von Memorial über Alexander Woronski, einem führenden Trotzkisten und Literaturkritiker. Aufgeführt sind sein Geburts- und Hinrichtungsdatum sowie das Datum seiner Rehabilitierung, seine ehemalige Adresse, Beruf, frühere Exile und Verhaftungen, seine Verurteilung und ein Verweis auf Archivmaterial.

Die Wurzeln der russischen Oligarchie liegen in dieser gewaltsamen historischen Reaktion gegen die erste sozialistische Revolution der Weltgeschichte. Sie befürchtet, dass das Wiederaufleben des Klassenkampfs auch zu einem neuen Interesse an den Ursprüngen und dem Schicksal der Revolution von 1917 und dem Kampf Leo Trotzkis gegen den Stalinismus führen wird. Dies will sie verhindern, indem sie die historische Wahrheit unterdrückt und die stalinistische Verfälschung der Geschichte aufrechterhält.

Im März 1992 betonte David North auf dem 12. Plenum des Internationalen Komitees der Vierten Internationale:

„Wenn man die Auswirkungen der Verbrechen des Stalinismus auf die politische Entwicklung der Arbeiterklasse überdenkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass keine andere politische Kraft so verheerende Folgen für die progressive Entwicklung der Menschheit hatte. Hitler war, was er war. Er war ein faschistischer, imperialistischer Politiker. Doch Stalin und die Sowjetbürokratie sowie die stalinistischen Massenparteien auf der ganzen Welt behaupteten, im Namen der Oktoberrevolution zu sprechen. ... Was wollte Stalin erreichen? Man kann die Massenmorde nur als einen Versuch erklären, alle Spuren der marxistischen Kultur innerhalb der Arbeiterklasse und der Gesellschaft auszulöschen. ... Der Zweck dieses Massenmordes war die Auslöschung der Individuen, die die revolutionäre politische, soziale und kulturelle Umgebung verkörperten, aus der die Oktoberrevolution hervorging. Ich halte es für unmöglich, die Ereignisse im letzten Jahr [1991] zu verstehen, ohne die Enormität dieses Verbrechens zu erkennen. ... Die Wiederlegung der Lüge, der Stalinismus sei der Marxismus, erfordert die Enthüllung der Taten des Stalinismus. Um zu wissen, was der Stalinismus ist, muss man zeigen, wen der Stalinismus ermordet hat. Wir müssen die Frage beantworten, gegen welchen Feind der Stalinismus seine schrecklichsten Schläge geführt hat.“

Zehntausende von Revolutionären, darunter Tausende von Trotzkisten, die nicht vor dem Stalinismus kapitulierten, wurden aus dem historischen Gedächtnis der Arbeiterklasse getilgt. Die stolze Geschichte ihres politischen Kampfs und ihre oft herausragenden und umfangreichen Schriften sind nahezu völlig unbekannt.

Die Informationen aus den Datenbanken von Memorial sowie die Archive und die Bibliothek der Organisation sind unverzichtbar für die Erforschung der Geschichte der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung der 1920er und 1930er.

Die Ausgrabungen an den berüchtigtsten Schauplätzen von Massenerschießungen des Großen Terrors, u.a. der Begräbnisstätte Kommunarka, wurden fast immer mit der Unterstützung von Memorial durchgeführt. Daneben hat die Organisation den Familien der Opfer des Terrors geholfen, etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren und ihre Rehabilitierung zu erreichen.

Das Putin-Regime glaubt, es könne die Arbeiterklasse und die Historiker mit diesem Urteil einschüchtern. Weitere Angriffe auf historische Institutionen und Archive sind in Vorbereitung.

Es könnte sich darin ebenso gut täuschen. Die Verfolgung von Memorial hat Empörung ausgelöst, u.a. unter Schülern und Studenten, Künstlern und Arbeitern. Eine junge Frau beschrieb die Auflösung von Memorial als „Versuch, mein Gedächtnis zu löschen“.

Russland ist trotz der jahrzehntelangen Konterrevolution noch immer ein hochgradig politisiertes Land. Die Oktoberrevolution, die 1920er und 1930er und der Zweite Weltkrieg werden zwar kaum verstanden, sind aber dennoch regelmäßig Thema von Fernsehserien, Büchern und Diskussionen.

Zudem sind drei Jahrzehnte des sozialen Elends und der Reaktion unter dem Kapitalismus, deren bisheriger Höhepunkt die Erfahrung mit dem täglichen Massensterben während der Pandemie ist, nicht spurlos am Bewusstsein der Arbeiterklasse vorübergegangen. Es herrscht zwar noch immer große Verwirrung über die Natur des Stalinismus, der Sowjetunion und der Oktoberrevolution, doch es gibt bei vielen Arbeitern und Intellektuellen ebenso das Gefühl, dass die Wahrheit über diese Geschichte eine wesentliche Voraussetzung für sozialen Fortschritt ist.

Die historischen Unterlagen, die Memorial gesammelt und aufbewahrt hat, sind von entscheidender Bedeutung für die Erweckung des Bewusstseins der arbeitenden Massen. Der weit verbreitete Widerstand gegen den Angriff auf Memorial muss jetzt mobilisiert und in der russischen und internationalen Arbeiterklasse verwurzelt werden, weil sie die einzige soziale Kraft ist, die die historische Wahrheit und die demokratischen Rechte verteidigen kann.

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