Krise in Kasachstan verschärft die Instabilität in Zentralasien

Die politische Krise in Kasachstan, die am 2. Januar mit Massenprotesten gegen den Anstieg der Gaspreise begann, ist zu einem Kristallisationspunkt der geopolitischen und sozialen Spannungen in ganz Zentralasien geworden.

Die Regierung des kasachischen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew ist mit außergewöhnlicher Gewalt gegen die Proteste vorgegangen und hat Almaty, die größte Stadt des Landes, in ein Schlachtfeld verwandelt. Unterstützt wird Tokajew dabei vom Kreml.

Demonstranten vor einem Polizeikordon im kasachischen Almaty am 5. Januar 2022 (AP Photo/Wladimir Tretjakow)

Das Militär hat überall im Land Kontrollposten errichtet und Präsident Tokajew wies die Soldaten an, „ohne Vorwarnung das Feuer zu eröffnen“. Laut Berichten, die von der kasachischen Regierung dementiert wurden, sind mindestens 164 Menschen getötet worden. Die Regierung bestätigte die Verhaftung von mehr als 4.000 Personen in Almaty, der größten Stadt des Landes, in der die „Antiterror-Operation“ zur „Säuberung der Straßen“ noch immer andauert.

Weiteren Berichten zufolge hatten letzte Woche 95 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet, wodurch nicht nur die Kommunikation gestört wurde, sondern auch die Lebensmittelversorgung. Die Folge waren Lebensmittelknappheit und ein Ansturm auf die Banken.

Russland schickte am Donnerstag im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) 2.500 Soldaten nach Kasachstan. Dabei handelte es sich um die erste Militärintervention dieses Bündnisses seit seiner Gründung im Jahr 1992. Auch Belarus und andere Mitgliedsstaaten haben Hunderte von Soldaten geschickt.

Laut der russischen Zeitung Nesawisimaja Gaseta hat Russlands Präsident Wladimir Putin für die Intervention gesorgt und dafür die ganze letzte Woche, die wichtigste Urlaubszeit des Jahres in Russland, am Telefon verbracht. Viele russische Medien verurteilten die Proteste als „Pogrome“, und der Kreml behauptet, sie seien die Folge von „Einflussnahme aus dem Ausland“.

Doch während die Proteste, die in der Bergbaustadt Schanaosen begannen, wohl ein Ausdruck seit langem bestehender wirtschaftlicher und sozialer Probleme waren, scheinen die gewaltsamen Zusammenstöße in Almaty seit letztem Dienstag auf einen Konflikt innerhalb des Staatsapparats und der herrschenden Klasse zurückzugehen. Eine Seite gruppiert sich um den amtierenden Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew, und auf der anderen stehen die Familie und die Verbündeten des vorherigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew.

Der 81-jährige ehemalige stalinistische Bürokrat Nasarbajew, der für die Wiedereinführung des Kapitalismus in Kasachstan verantwortlich war und heute über ein geschätztes Nettovermögen von einer Milliarde Dollar verfügt, hat das Land von 1991 bis 2019 regiert, bevor er sein Amt formell an Tokajew übergab, der ebenfalls ein ehemaliger stalinistischer Bürokrat ist. Doch Nasarbajew und seine Familie, die große Teile der Öl- und Gasindustrie des Landes kontrollieren, gelten immer noch als tonangebende politische Macht im Land und in großen Teilen der Wirtschaft.

Am Dienstag enthob Tokajew Nasarbajew von seinem Posten als Chef des Sicherheitsrats und ernannte sich selbst zu seinem Nachfolger. Tokajew setzte auch mehrere Mitglieder von Nasarbajews Familie von einflussreichen Positionen ab und entließ den Leiter der Sicherheitsdienste Karim Masimow, einen von Nasarbajews engsten Verbündeten. Am Freitag wurde Masimow verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Tokajew entließ außerdem die Regierung und berief mehrere seiner engsten Verbündeten auf Schlüsselpositionen des Staats- und Sicherheitsapparats.

Der Zentralasien-Experte Arkadij Dubnow erklärte in einem Gespräch mit dem Spiegel: „Unabhängig davon, in welchem Zustand sich Nasarbajew selbst befindet, gibt es dessen Clan oder Umfeld, und das kontrolliert offenbar Teile der Geheimdienste. Tokajew stieß sofort auf ernsthafte Gegenwehr [nachdem er Nasarbajew abgesetzt hatte]: Statt chaotischen, unorganisierten zivilen Protesten tauchte auf der Straße eine dritte Kraft auf, die meiner Meinung nach jemandem aus der Geheimdienstführung untersteht.“

Die Krise in Kasachstan hat die ganze Region erschüttert. Flächenmäßig ist Kasachstan das neuntgrößte Land der Welt und besitzt beträchtliche Mengen an Bodenschätzen. Es gibt viele Öl- und Gaspipelines, und China ist ein wichtiger Abnehmer der Rohstoffe des Landes.

Aufgrund seiner wirtschaftlichen und geostrategischen Bedeutung ist Kasachstan auch ein Kristallisationspunkt des Kriegskurses der USA gegen Russland und China geworden. Sowohl unter Nasarbajew als auch unter Tokajew hat Kasachstan relativ enge Beziehungen zu Russland unterhalten. Die kasachische Oligarchie versucht jedoch, dies durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit US-Konzernen wie Chevron und Exxon Mobile auszugleichen. Daneben hat die Hauptstadt Kasachstans, Astana, auch zum Nato-Mitgliedsstaat Türkei engere Beziehungen aufgebaut.

Nikkei Asia schrieb über die Auswirkungen der Unruhen in Kasachstan auf Kryptowährungen:

Viele Kryptowährungs-Schürfer waren nach Kasachstan gekommen, um von den billigen Strompreisen zu profitieren, nachdem das benachbarte China, ehemals ein führender Umschlagplatz für Kryptowährungen, ihnen im Mai 2021 die Tätigkeit untersagt hatte. Kasachstan war laut dem Cambridge Center for Alternative Finance bis August für etwa 18 Prozent der globalen Hashrate verantwortlich und lag damit auf Platz zwei nach den USA.

Ein längerer Ausfall des Internets könnte die Bitcoin-Schürfer in Kasachstan dazu zwingen, ihren Laden dichtzumachen oder abzuwandern. Der Chef einer wichtigen japanischen Kryptowährungs-Börse erklärte: „Spekulationen, dass diese Betreiber ihre Bitcoins abstoßen könnten, führten zu einem Abverkauf.“

Besonders China hat große Bedenken wegen der potenziellen geopolitischen Folgen der Krise geäußert. Kasachstan ist von entscheidender Bedeutung für Chinas Belt-and-Road-Initiative, daneben hat Peking in beträchtlichem Ausmaß in die kasachische Öl- und Gasbranche investiert.

Der chinesische Präsident Xi Jinping erklärte am Freitag seine volle Unterstützung für Tokajews Unterdrückung der Proteste und sicherte ihm wirtschaftliche und sonstige Unterstützung zu. Xi warnte vor allem vor jeder äußeren Einmischung in die Krise.

Chinesische Analysten erklärten gegenüber der kriegstreiberischen Zeitung Global Times, die der Regierung nahesteht, die Ereignisse in Kasachstan seien eine „Farbenrevolution“ und warnten, die USA könnten intervenieren, um die Situation an der chinesischen Westgrenze zu destabilisieren. Kasachstan grenzt an die Region Xinjiang, in der ein Großteil der chinesischen Uiguren lebt. Allerdings leben auch in Kasachstan viele Uiguren, und diese Bevölkerungsanteile sind durch langjährige wirtschaftliche und familiäre Beziehungen miteinander verbunden. Der US-Imperialismus hat seine angebliche Sorge um die Verletzung der Menschenrechte von chinesischen Uiguren zu einem wichtigen Element seiner Agenda gemacht.

Zweifellos befürchtet Peking, dass sich Unruhen in Kasachstan in kurzer Zeit über die Grenze hinaus ausbreiten könnten und dass vor allem die USA intervenieren könnten, um die ethnischen Spannungen in Kasachstan und China weiter zu schüren.

Bisher haben sich die USA und die EU mit ihren Reaktionen weitgehend zurückgehalten. In deutlichem Gegensatz zur anhaltenden aggressiven Kampagne gegen Russland wegen der Ukraine äußerten Vertreter der EU Bedenken über den wachsenden Einfluss Russlands in Kasachstan nach seiner Militärintervention, verurteilten sie aber nicht.

Die Pressesprecherin des Weißen Hauses Jen Psaki erklärte: „Die Welt wird natürlich auf alle Menschenrechtsverletzungen und Entscheidungen achten, die einen Grund liefern würden, kasachische Institutionen zu beschlagnahmen. Wir rufen die OVKS-Friedenstruppen und Exekutivorgane auf, sich an ihre internationalen Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte zu halten, um eine friedliche Lösung zu ermöglichen.“ Sie fügte hinzu, die Lage in Kasachstan werde keine Auswirkungen auf die Verhandlungen zwischen US-Präsident Joe Biden und Putin zur Ukraine haben, die am Montag beginnen.

Ein wichtiger Faktor bei der Reaktion der imperialistischen Mächte ist die Tatsache, dass sie eine potenzielle Bewegung der Arbeiterklasse in Kasachstan und darüber hinaus ebenso stark fürchten wie die postsowjetischen Oligarchien, vor allem angesichts des Anstiegs der Omikron-Fälle und der Arbeitskämpfe in den USA. Außerdem sind sie in Sorge, dass die Unruhen eine Bedrohung für die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen wie ExxonMobile und Chevron darstellen, die Dutzende Milliarden Dollar in die kasachischen Ölfelder investiert haben.

Das Washingtoner Magazin Politico schrieb am Freitag, die russische Militärintervention könnte den Einfluss des Landes in Zentralasien erhöhen, doch „Joe Biden und sein Team würden – so schwer es auch sein mag – gut daran tun, die derzeitige Entwicklung der Gräuel nur vom Spielfeldrand aus zu verfolgen“. Die Financial Times, das Sprachrohr des britischen Finanzkapitals, veröffentlichte ein positives Portrait von Tokajew, in dem es hieß: „Während das Land von Protesten erschüttert wird, muss der Führer Stabilität anstreben und das Vermächtnis seines Amtsvorgängers Nasarbajew hinter sich lassen.“

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