Neue Parteispitze der Grünen: Eine toxische Mischung aus Militarismus und Identitätspolitik

Ein digitaler Parteitag der Grünen hat am Samstag eine neue Parteispitze gewählt. Ricarda Lang und Omid Nouripour lösen Annalena Baerbock und Robert Habeck ab, die als Außenministerin und Wirtschaftsminister der neuen Bundesregierung angehören. Lang erhielt 76 und Nouripour 82 Prozent der 800 Delegiertenstimmen. Gegenkandidaten gab es keine.

Ricarda Lang und Omid Nouripour (Bild: Grüne im Bundestag, S.Kaminski, CC BY-ND 3.0 DE)

Aufgabe des neuen Führungsduos wird es sein, der Ampelkoalition den Rücken freizuhalten, oder, wie es Nouripour ausdrückte, als „Scharnier“ zwischen Partei und Regierung zu dienen. Es gehe darum, „zu vermitteln, warum wir bestimmte Kompromisse gemacht haben und was die Perspektive ist,“ sagte er der taz.

Die Ampel ist, kaum im Amt, auf Kriegskurs gegen Russland und auf Konfrontation mit der Arbeiterklasse eingeschwenkt. Das zeigt sich nicht nur in der Pandemiepolitik, wo sie eine rücksichtslose Durchseuchung verfolgt, sondern auch in der Außen- und Umweltpolitik, für die grüne Minister direkte Verantwortung tragen.

Baerbock zählt zu den Scharfmachern bei der Hetze gegen Russland. Es vergeht kein Tag, an dem die Außenministerin Moskau nicht mit „Härte“ und „massiven Konsequenzen“ droht und die Einheit mit der US-Regierung betont, die mit ihrer Kriegstreiberei gegen Russland einen dritten Weltkrieg riskiert.

Habeck, der als Wirtschaftsminister für die Energiewende, das Kernanliegen der Grünen, zuständig ist, ordnet sie den geopolitischen und Profitinteressen des Kapitals unter und wälzt die Kosten auf die arbeitende Bevölkerung ab.

Sowohl Habeck wie Baerbock haben auf dem Online-Parteitag einen direkten Zusammenhang zwischen der Klimawende und den geopolitischen Interessen Deutschlands sowie der militärischen Aufrüstung hergestellt.

Klimaschutz sei „natürlich auch eine außenpolitische, auch eine geopolitische Frage,“ sagte Habeck. „Wir sind abhängig von Energieimporten, wir sind abhängig von einer anderen geopolitischen Weltlage… Deswegen passt es super und ist es großartig, dass Annalena unsere Außenministerin ist.“

Baerbock ergänzte: „Wenn wir über Sicherheitspolitik sprechen, müssen wir auch immer über Energie- und Klimapolitik reden. … Wir schaffen strategische Souveränität dadurch, dass wir uns unabhängig machen in den nächsten Jahren von fossilen Energien.“

Corona habe deutlich gemacht, „dass im Zweifel das Ausfallen von Lieferketten Wirtschaftsnationen, Industrienationen, aber auch alle anderen Länder viel stärker in die Knie zwingen kann, als es Kanonen in dieser Situation könnten“. Deshalb sei es so wichtig, dass Bundesregierung und Grüne „jetzt ganz klar und deutlich machen: Wir stehen an der Seite der Ukraine, bei Sicherheit, bei Verteidigung, aber vor allen Dingen bei der Frage, die wirtschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten“.

Die Kosten der Klimawende sind hoch. Es ist offensichtlich, dass die dringend erforderliche Reduktion des CO2-Ausstoßes nicht erreicht werden kann, ohne die hohen Profite der Unternehmen und die Milliardenvermögen der Krisenprofiteure anzugreifen. Doch das lehnen die Grünen ab. Stattdessen wird der Klimaschutz unter ihrer Regie den Anstieg der Lebenshaltungskosten und die Verarmung der Bevölkerung beschleunigen.

So hat der Spiegel ausgerechnet, dass bis 2030 jährlich bis zu 800.000 Wohnungen saniert und Millionen Öl- und Gasheizungen ausgetauscht werden müssen, um die gesetzlichen Vorgaben zu erreichen. Der Finanzbedarf beträgt rund 175 Milliarden Euro.

Den größten Teil dieser Kosten werden die Immobilienkonzerne auf die Mieter abwälzen. Das wird die Belastung der 18 Millionen Haushalte, die zur Miete wohnen, drastisch erhöhen. Schon jetzt gibt jeder siebte von ihnen mehr als 40 Prozent seines Einkommens für das Wohnen aus.

Hinzu kommen die steigenden Kosten für Heizung und Energie, die mit der eskalierenden Ukrainekrise explodieren. Bereits im letzten Jahr hat sich der Gaspreis fast verdoppelt. In diesem Jahr wird für Gasheizungen mit einem Preisanstieg von 40 Prozent gerechnet.

Auch der grüne Agrarminister Cem Özdemir betreibt Umweltpolitik auf dem Rücken der Armen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag verkündete er in Bild am Sonntag: „Es darf keine Ramschpreise für Lebensmittel mehr geben, sie treiben Bauernhöfe in den Ruin, verhindern mehr Tierwohl, befördern das Artensterben und belasten das Klima.“ Für die wohlhabende Klientel der Grünen ist der Anstieg der Lebensmittelpreise kein großes Problem, für Mindestlohn- und Hartz-IV-Empfänger, für die der Regelsatz 5,19 Euro für die tägliche Ernährung vorsieht, dagegen schon.

Habecks Plan, das ganze Land mit Windrädern vollzupflastern, bringt außerdem jene grüne Klientel gegen ihn auf, deren Traum von einem Häuschen im Grünen sich nicht mit dem Lärm und dem Anblick 50 Meter langer Rotorblätter vereinbaren lässt.

Omid Nouripour

Unter diesen Umständen fällt der neuen Führung der Grünen eine entscheidende Rolle dabei zu, die Regierung abzuschirmen und zu verteidigen.

Die Zahl der Parteimitglieder hat sich in jüngster Zeit stark erhöht. Von rund 50.000 Ende der 1990er Jahre, als die Grünen erstmals in die Bundesregierung eintraten, und 60.000 Mitte der 10er Jahre ist sie auf 125.000 gestiegen. Mit knapp 7 Millionen Wählern erreichten die Grünen 2021 auch ihr bestes Bundestagswahlergebnis. Unter den neuen Mitgliedern und Wählern befinden sich neben konservativen und bürgerlichen Elementen, die die Grünen wegen ihrer rechten Politik unterstützen, auch viele Jüngere, die sich der Illusion hingaben, die Grünen würden eine konsequentere Umweltpolitik verfolgen.

Das Duo Nouripour-Lang ist darauf abgestimmt, diese unterschiedliche Klientel zusammenzuhalten.

Omid Nouripour gehört zum rechten Realo-Flügel der Partei. Er zählt seit Jahren zu den Verfechtern eines ungehemmten Militarismus und steht uneingeschränkt hinter Baerbocks aggressiver Außenpolitik.

1975 in Teheran geboren, emigrierte seine Familie nach Frankfurt am Main, als er 13 Jahre alt war. Dort machte er sein Abitur und schloss sich 1996 den Grünen an. 2006 wurde er als Nachfolger Joschka Fischers in den Bundestag gewählt, wo er sich auf die Themen Sicherheits- und Außenpolitik konzentrierte.

Als außenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion trat Nouripour 2014 für die Beteiligung der Bundeswehr an Luftschlägen in Syrien ein. Die Waffenlieferungen der Bundesregierung an die irakischen Kurden lehnte er mit der Begründung ab, wenn man die Schutzverantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen ernst nehme, sei eine Beteiligung deutscher Soldaten konsequenter.

Im selben Jahr trat Nouripour für Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen der Ukraine-Krise und eine EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine ein.

Nouripour ist Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe und Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke. Dieses Netzwerk aus 500 führenden Persönlichkeiten aus Bank- und Finanzwesen, Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft setzt sich für eine enge deutsch-amerikanische Zusammenarbeit ein.

Vorsitzender der Atlantik-Brücke ist Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), der 2019 Friedrich Merz, inzwischen CDU-Chef, ablöste. Dem Vorstand gehören neben Nouripour auch Ex-Springer-Chef Kai Dieckmann, DGB-Chef Reiner Hoffmann, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, James von Moltke von der Deutschen Bank und der ehemalige Chef der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger an. Auch Max Otte, Chef der Werteunion und Kandidat der AfD für das Amt des Bundespräsidenten, ist Mitglied des illustren Netzwerks.

Nouripour verteidigt auch weiterhin die Hartz-Gesetze, die 2003 von der damaligen rot-grünen Koalition eingeführt wurden und zur Entstehung eines riesigen Niedriglohnsektors und weitverbreiteter Armut geführt haben.

Als ihn die taz kurz vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden fragte, weshalb er Hartz IV unterstützt habe, antwortete Nouripour: „Weil die Absicht an sich nicht falsch war. Und auch die Dynamisierung des Niedriglohnsektors war grundsätzlich eine richtige Idee. … Es war eine gut gemeinte Idee, die in der Breite einfach schlecht umgesetzt worden ist.“

Ricarda Lang

Ricarda Lang ist für die jungen Anhänger der Grünen zuständig, die sich nicht derart offen mit Militarismus und Hartz IV anfreunden können. Mit 28 Jahren ist die abgebrochene Jura-Studentin die jüngste Vorsitzende in der Geschichte der Partei. Sie hat dort eine steile Karriere hingelegt: 2012 Beitritt zur Grünen Jugend, 2014 Bundessprecherin von Campusgrün, 2017 Bundessprecherin der Grünen Jugend, 2019 stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Grünen, 2021 Einzug in den Bundestag.

Wo immer Lang öffentlich auftritt oder ein Interview gibt, betont sie ihr soziales Engagement und verweist auf ihre Herkunft aus armem Hause. „Ich kenne das aus meiner eigenen Geschichte,“ sagte sie der taz. „Ich bin bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die als Sozialarbeiterin gearbeitet hat. Ich weiß, wie es ist, wenn man 40 Stunden und mehr arbeitet und trotzdem schwer über die Runden kommt.“

Doch das sind Lippenbekenntnisse. Lang steht uneingeschränkt hinter der unsozialen, rechten Politik der Ampel und betont ihre reibungslose Zusammenarbeit mit Nouripour, mit dem sie schon vor der Wahl mindestens fünf Mal täglich telefoniert habe.

Von der taz gefragt, ob eine Parteispitze aus einem Realo und einer Vertreterin des linken Flügels nicht automatisch zu mehr Spannungen führe, antwortete sie: „Am Ende sind wir alle Profis. Was wir jetzt politisch erreichen können, steht über individuellen Fragen.“ Sie habe „ein Interesse daran, dass wir ein starkes Kabinett haben, dass unsere Leute da gute Arbeit machen. Ich habe auch ein Interesse an einer starken Fraktion. Wir werden alle gemeinsam im Team spielen müssen…“

Lang setzt gezielt auf Identitätspolitik, um die Klassenfragen zu unterdrücken. Sie thematisiert ihre Bisexualität und engagiert sich aktiv in der LGBT-Szene. Der Spiegel vergleicht sie mit der demokratischen Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die ebenfalls auf Identitätspolitik setzt, um die rechte Politik von Präsident Biden zu unterstützen.

„Lang hat das Dicksein zu ihrer Marke gemacht, die vermeintliche Schwäche zur Stärke umgedeutet,“ schreibt der Spiegel. „Viele Politikerinnen ihrer Generation machen es ähnlich: Die jungen Kongressabgeordneten in den USA um die Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez zum Beispiel, die über ihre Herkunft aus sozial benachteiligten Schichten sprechen, oder über ihren Haarausfall. Sie sind zu Ikonen einer Authentizität geworden, die vor allem den Zeitgeist junger Wählerinnen trifft.“

Diese Identitätspolitik hat nichts mit der Ablehnung von Diskriminierung und Benachteiligung zu tun, die nur im Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung überwunden werden können, sondern dient kleinbürgerlichen Elementen dazu, sich Zugang zu Privilegien zu verschaffen und die Arbeiterklasse zu spalten.

Welche reaktionären Bündnisse auf der Grundlage der Identitätspolitik möglich sind, hat Lang selbst in einem Interview demonstriert, das sie am 2. Oktober letzten Jahres mit dem Tagesspiegel führte. Sie schwärmt darin von den Gemeinsamkeiten mit der FDP, der Interessenvertretung des Großkapitals, deren Markenzeichen die soziale Rücksichtslosigkeit ist.

„Mit der FDP haben wir große Schnittmengen, was Queerpolitik angeht, und ich hoffe, dass wir das nutzen können,“ sagt Lang. Ein verbindendes Element sei, „dass sich viele junge Menschen eine moderne Gesellschaftspolitik wünschen, die Selbstbestimmung und das Individuum ins Zentrum stellt“.

Diese Fixierung auf das Individuum, die Lang mit den rücksichtslosen Karrieristen der FDP verbindet, steht in direktem Gegensatz zu den Interessen der arbeitenden Bevölkerung, die ihre Interessen nur kollektiv, als Klasse verteidigen kann.

Die Grünen sind aus den Studentenprotesten von 1968 hervorgegangen. Beeinflusst von den Theorien der Frankfurter Schule und der Postmoderne lehnten die rebellierenden Studenten den Kampf für eine sozialistische Perspektive in der Arbeiterklasse ab. Als die Grünen 1980 gegründet wurde, standen Umweltschutz, Pazifismus und Basisdemokratie im Zentrum ihres Programms; Sozialismus kam darin nicht vor.

Der Übergang der Grünen ins Lager des Militarismus und des Sozialabbaus ist direkt mit dem materiellen Aufstieg des sozialen Milieus verbunden, auf das sie sich stützen. Der Börsen- und Immobilienboom der vergangenen drei Jahrzehnte hat ihm unerwarteten Reichtum beschert, während am unteren Ende der Gesellschaft die Armut wuchs.

Die Anhänger der Grünen haben nach der FDP das zweithöchste Durchschnittseinkommen von allen Parteien. 68 Prozent der Mitglieder verfügen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium, 45 Prozent sind Beamte oder Angestellte – mehr als in jeder anderen Partei. Sie fürchten die soziale Opposition der Arbeiterklasse, weil sie ihre Privilegien bedroht. Deshalb reagieren sie auf die wachsenden sozialen Gegensätze, die sich in der Pandemie stark zugespitzt haben, mit einem weiteren Ruck nach rechts.

Die toxische Mischung aus Militarismus und Identitätspolitik, die die neue Führungsspitze der Grünen kennzeichnet, ist ein Ausdruck dieser Entwicklung. Sie wird die Grünen – und die Ampel als Ganze – in scharfen Konflikt mit der Arbeiterklasse bringen.

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