Bund und Länder beschließen Aufhebung aller Pandemiemaßnahmen

Die gestrige Bund-Länder-Konferenz hat die Grundlage für eine verheerende Verschärfung der Covid-19-Durchseuchung in Deutschland geschaffen. Die Vertreter der Ampel-Regierung und die Ministerpräsidenten der Länder haben sich auf dem bisherigen Höhepunkt der Omikron-Welle darauf geeinigt, abgesehen von Maskenregeln an bestimmten öffentlichen Orten alle verbleibenden Maßnahmen zu beseitigen.

Die Beschlüsse sehen vor, dass zum kalendarischen Frühlingsbeginn am 20. März 2022 alle „tiefgreifenden Schutzmaßnahmen“ weggefallen sein sollen. Die bislang noch gültigen Schutzmaßnahmen, wie Zugangsbeschränkungen in Einzelhandel und Gastronomie, Homeoffice-Pflicht und 3G in Betrieben, sollen planmäßig auslaufen und nicht weiter verlängert werden. In einem ersten Schritt sollen bereits ab Freitag sämtliche private Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Genesene aufgehoben werden. Im Einzelhandel wird die sogenannte 2G-Regel überregional abgeschafft und das Tragen von FFP2-Masken nicht allgemein vorgeschrieben.

Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte), der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wuest (links) und die Regierende Bürgermeisterin von Berlin Franziska Giffey (rechts) verkünden auf einer Pressekonferenz am 16. Februar die schrittweise Beendigung aller Pandemiemaßnahmen (Michele Tantussi/Pool via AP)

Ab dem 4. März 2022 sollen die Zugangsbeschränkungen zu Gastronomie und Übernachtungen gemäß der 3G-Regel gelockert werden. Diskotheken und Clubs sollen für alle Gäste mit tagesaktuellem Test oder Booster-Impfung öffnen. Für „überregionale Großveranstaltungen“ – darunter Fußballspiele – sollen gemäß 2G und 2GPlus die „Höchstkapazitäten angepasst“ werden. In Innenräumen sind dann bis zu 6.000 Teilnehmer erlaubt, in Außenbereichen sogar bis zu 25.000.

Der Expertenrat der Bundesregierung, dem Wissenschaftler und andere Regierungsberater angehören, sanktionierte die „Lockerungen“, warnte in einem Statement jedoch vor einer wachsenden „Intensivbelegung der Altersgruppe über 60 Jahre“, der „Verbreitung neuer Virusvarianten“ und einem Verlauf der Pandemie, der „nicht präzise vorhergesagt werden“ könne.

Durch die „vermutlich noch leichter übertragbare“ Omikron-Untervariante BA.2, so das Papier, müsse mit einer „gegenüber aktuellen Schätzungen für BA.1 verlängerten bzw. wiederansteigenden Omikron-Welle“ gerechnet werden. „Im Rahmen etwaiger Öffnungsschritte“ würden „ungeimpfte und ältere Menschen mit einem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf verstärkt in das Infektionsgeschehen einbezogen“ – spätestens im Herbst sei mit weiteren großen „Infektionswellen“ zu rechnen.

Die Tage vor der jüngsten Bund-Länder-Konferenz waren von einer reaktionären, wissenschaftsfeindlichen Kampagne geprägt, die darin gipfelte, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dem Robert-Koch-Institut (RKI) die Entscheidung über den sogenannten „Genesenenstatus“ entzog. Künftig sollen „Festlegungen zum Geimpften- und Genesenenstatus“ nicht länger an die wissenschaftlichen Institute des Bundes delegiert werden.

Das RKI hatte – den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen folgend – den Immunitätszeitraum nach einer Infektion von sechs Monaten auf drei Monate herabgesetzt, ohne die daran geknüpften Interessen der Wirtschaft zu berücksichtigen. FDP-Politiker und rechte Medienkommentatoren verlangten daraufhin kaum verhüllt die „Entmachtung“ von RKI-Chef Lothar Wieler. Ein „Gutachten“ des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages äußerte gar „Zweifel“, dass das Handeln des RKI „verfassungsrechtlichen Maßstäben“ genüge.

In der Talkshow „Anne Will“ brachte Lauterbach am Sonntag das kapitalistische Programm der endlosen Pandemie auf den Punkt. Mit Blick auf „ganz andere Varianten im Herbst“ sei es eine „wichtige Erkenntnis, dass es nicht mehr so sein wird wie vor Corona“, erklärte er: „Die Welt ist etwas schlechter geworden. Wir haben ein Virus, das ansteckender und gefährlicher als die Grippe ist. Die Idee, dass das jetzt immer harmloser und demnächst eine Erkältungskrankheit wird, das ist eine ganz gefährliche Legende. Das mag in dreißig, vierzig Jahren so sein, aber nicht für die nächsten zehn Jahre.“

Das sagt der Mann, der als Gesundheitsminister die Hauptverantwortung für die Aufhebung der Schutzmaßnahmen trägt! Lauterbach nimmt den Tod von Hunderttausenden in Kauf, weil sich die Kapitalisten weigern, ihre selbstsüchtigen Profitinteressen auch nur vorübergehend hintenanzustellen. Dass das Virus durch eine wissenschaftliche Eliminerungsstrategie, koordinierte Lockdowns und öffentliche Investitionen in die Pandemiebekämpfung nach wie vor beseitigt werden kann, zeigt das Beispiel China. Wenn dort dieselbe Politik verfolgt worden wäre wie in Deutschland, wären nicht 4.636 Einwohner gestorben, sondern weit über zwei Millionen.

In Deutschland hat die Politik, alles zuzulassen, was nicht den vollständigen und unmittelbaren Zusammenbruch des Gesundheitssystems nach sich zieht, unermessliches Leid heraufbeschworen. Allein in den drei Wochen seit dem letzten „Corona-Gipfel“ starben offiziell 3.476 Menschen an Covid-19. Seit dem 9. November hat es nur einen einzigen Tag gegeben, an dem weniger als 140 Menschen daran gestorben sind. Die offizielle Todesziffer von 120.227 Menschen seit Beginn der Pandemie entspricht in etwa der vollständigen Auslöschung einer Stadt wie Wolfsburg oder Göttingen.

Nachdem die Todeszahlen im Januar unter anderem aufgrund von Auffrischungsimpfungen gesunken sind, hat sich dieser Trend in den vergangenen Tagen umgekehrt und droht nun, die Explosion der Infektionszahlen nachzuzeichnen. Die adjustierte Hospitalisierungsinzidenz liegt mit 11,73 an der höchsten Warnstufe des RKI und ist in der ältesten und jüngsten Altersgruppe erneut massiv angestiegen (+1,75 bzw. +0,35 im Vergleich zur Vorwoche).

In Frankreich starben den offiziellen Zahlen zufolge zuletzt rund 320 Menschen am Tag, mit Höchstwerten von mehr als 650 Todesfällen. Bezieht man die Todeszahlen von Frankreich, Israel oder auch Dänemark, die der Entwicklung in Deutschland um einige Tage und Wochen voraus sind, auf die deutsche Einwohnerzahl, so ist von mindestens 500 Toten pro Tag trotz Impfungen auszugehen.

Ein solches Massensterben, das sich einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge auch in den Pandemieplänen des Gesundheitsministeriums wiederfindet, wäre mit den schlimmsten Tagen der sogenannten „Delta-Welle“ im letzten Winter vergleichbar.

Der Epidemiologe Marc Lipsitch hat mit seinem Team an der Harvard T.H. Chan School of Public Health in einer Preprint-Studie neue Zahlen zur Übersterblichkeit vorgelegt, denen zufolge zwischen Juni und Anfang Dezember 2021 in den USA etwa 135.000 Erwachsene an Covid-19 starben, weil sie nicht geimpft waren. Von den täglich fast tausend vermeidbaren Toten war jeder Sechste jünger als 50 Jahre.

Mit Blick auf die Bilanz der Omikron-Variante erinnert die FAZ daran, dass weltweit in knapp zwei Monaten schon eine halbe Million überwiegend Nichtimmunisierte gestorben sind.

Auch ein Artikel der Süddeutschen Zeitung stellt klar, dass von einer „milden“ Omikron-Durchseuchung keine Rede sein kann. „Omikron wirkt mild, weil die Impfungen so gut vor schweren Verläufen schützen“, erklärt Oliver Keppler, Leiter der Virologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, gegenüber der Zeitung.

Markus Wörnle, der die zentrale Notaufnahme im Münchner Uniklinikum Innenstadt leitet, fügt hinzu: „Die Patienten, die wegen einer Covid-Infektion stationär aufgenommen werden müssen, sind in der Regel ältere Patienten mit Vorerkrankungen oder Patienten ohne oder ohne ausreichenden Impfschutz.“

Der „für viele Menschen tödliche Erreger“ geht nach wie vor mit schweren Pneumonien einher und verursacht Long Covid, dessen Folgen „sich noch gar nicht seriös beziffern“ ließen, so Keppler. Der Virologe stellt fest: „Das Label ‚mild‘ ist katastrophal.“ Selbst unter geimpften Infizierten liege die Hospitalisierungsquote laut britischen Daten bei 1,9 Prozent. Zwei Millionen der über 60-jährigen Deutschen sind nach wie vor ungeimpft.

Doch obwohl die Wissenschaftsredaktionen der großen Zeitungen – ebenso wie Bund und Länder – über die Tatsachen der Omikron-Katastrophe bestens im Bilde sind, unterstützen weite Teile der Medien die Durchseuchungspolitik oder befeuern sie sogar. Eine besonders abstoßende Rolle in dieser Kampagne spielt die Tageszeitung Welt, die mittlerweile im Tagesrhythmus neue Hetzartikel gegen Schüler, Eltern und Lehrer veröffentlicht, die sich der Durchseuchungspolitik widersetzen.

Ein aktueller Welt-Artikel mit dem Titel „Die Verschwörungstheorie der Lockdown-Verfechter“ stellt wütend fest, dass „aufseiten der Restriktionsbefürworter eine Bewegung heranwächst, die (…) dem an offenen Schulen festhaltenden Staat und seinen Akteuren ernsthaft planmäßige massenhafte Körperverletzung unterstellt“. Ein wachsender Teil der „NoCovid-Fraktion“, so die Autorin Verena Weidenbach, kritisiere die „sozialdarwinistische‚ planmäßige Durchseuchung‘ wehrloser Kinder“, fasse „die angebliche ‚Durchseuchungspolitik‘ des Staates als Ausdruck neoliberal-kapitalistischer Auslese-Logiken“ auf und bringe diese mit „eugenischen Programmen“ und den „NS-Krankenmorden“ in Verbindung.

Diese Perspektive, warnt die Autorin, sei Bestandteil „besorgniserregender Entfremdungs- und Radikalisierungsprozesse“, die mit einem „erheblichen fundamentaloppositionellen Mobilisierungspotenzial“ verbunden sind.

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