72. Berlinale: Ein deutscher Revolutionsfilm – „Brüder“ von Werner Hochbaum

Ein Stummfilm mit Orchesterbegleitung ist ein Erlebnis. Wer auf der Berlinale 2005 die Welturaufführung der Originalfassung von Sergei Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) mit der originalen Orchestermusik von Edmund Meisel erleben durfte, wird das nicht vergessen.

Ein Höhepunkt der diesjährigen Berlinale war die Welturaufführung des neu restaurierten deutschen Stummfilms „Brüder“ (1929) von Werner Hochbaum, der sich inhaltlich wie bildsprachlich an Eisensteins Klassiker orientiert. Er wurde bereits im Rahmen der Berlinale-Retrospektive 2018 gezeigt, in schlechterer Bildqualität und mit dem ‚Mann am Klavier‘.

Hamburger Hafen (Foto: Deutsche Kinemathek / Filmarchiv Austria)

Der deutsche Filmregisseur Werner Hochbaum (1899-1946) stand zeitweilig der SPD nahe. Inhalt seines Films „Brüder“ ist der Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896-1897, dessen Niederschlagung der Kaiser persönlich gefordert hatte. Im Film ist einer der ausführenden Polizisten der Bruder des Streikführers. Vor der Kamera agierten ausschließlich Laien. Auch Hochbaums Film „Razzia in St. Pauli“ (1932) ist im Hamburger Hafenmilieu angesiedelt. Am Ende singt der bekannte Arbeitersänger Ernst Busch. Internationale Anerkennung erfuhr Hochbaums psychologische Studie „Die ewige Maske“ (1935).

Zur Musik

Die neue Filmmusik für „Brüder“, dargeboten von zwölf Mitgliedern der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Raphael Haeger, schrieb der für Experimente bekannte Komponist Martin Grütter (geb. 1983) Die instrumentale Bandbreite: Streicher, Bläser, Flügel, flankiert von Schlagwerk und Harfe, erlaubt differenzierte Klangfarben und kontrastreiche Dynamik. Mitunter sind der Instrumentalmusik Alltagsgeräusche beigemischt, Hafen, Möwen, Fabriksirenen.

Die an Dissonanzen reiche Musik verleiht dem Film einen düsteren, mitunter dumpfen Charakter oder wie es im Berlinale-Text heißt, „beschwört (...) die Ausweglosigkeit, Tristesse, Erschöpfung und Gewalttätigkeit einer Klassengesellschaft, deren schonungslose Lebensrealität für uns heute kaum mehr vorstellbar ist (...)“. Das Vergehen der Zeit, versinnbildlich durch eine Pendeluhr, wird mehrmals zum rhythmisch-musikalischen Impulsgeber.

In der emotional stärksten Szene sitzt die Familie des Streikführers an Heiligabend zusammen. Die kleine Tochter freut sich am geschmückten Baum mit dem Weihnachtsengel. Der Vater ist nicht recht in Stimmung, das „Fest des Friedens“ zu begehen, hält wohl auch nicht viel von Engeln. Aber ihn freut die Freude des Mädchens. An einer Stelle erfährt die Musik einen überraschenden Stilwechsel. Leise ertönt festliche Barockmusik (vielleicht Bach).

In diese Situation platzt brutal die Polizei, um den Vater zu verhaften. Bei dem Handgemenge geht der Weihnachtsbaum zu Bruch. Die Szene ist durch die fast sphärische Musik sehr berührend, die nicht nur den Kontrast zur rücksichtslosen Polizei verstärkt. Es kommt etwas Zartes zum Vorschein, was der Kampf ums tägliche Brot im Alltag verdrängt -- die Sehnsucht nach einem harmonischen Leben.

Geht es um den Streik, überzeugt die Musik weniger. Seine Dynamik wird kaum aufgegriffen. Es gibt entsprechende Bilder gesteigerter Militanz und Geschlossenheit. Aber die Musik läuft parallel vor sich hin und verbreitet eine Atmosphäre, als ob gerade viele Menschen auf der Straße unterwegs sind. Viel Bewegung, aber ziel- und kraftlos. Auch der Streikaufruf des Arbeiters wirkt durch gleichzeitig schnelle, hohe Trompetenphrasen eher hektisch (fast komisch). Und als das populäre Arbeiterlied „Wer schafft das Gold zu Tage“ ertönt, entfährt der Posaune ein leicht ironisch wirkendes Glissando.

Man merkt der ausgezeichnet gespielten Musik an, dass seit der Uraufführung von „Brüder“ viel Zeit vergangen ist. Zu den Erfahrungen der Gegenwart gehört eine rücksichtslos agierende Polizei, aber noch nicht eine revolutionäre Massenbewegung.

„Brüder“ ist kein Agitpropfilm

Der elfwöchige Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896-1897 war einer der größten Streiks im Deutschen Kaiserreich. Zusammen mit dem Textilarbeiterstreik von St. Petersburg im selben Jahr leitete er eine ganze Welle von Streiks ein, die sich zu nie vorher gekannten Massenstreiks entwickelten, in die Russische Revolution von 1905 mündeten und zu jener grundlegenden Diskussion in der SPD führte, die als „Massenstreikdebatte“ berühmt wurde.

Streikposten (Foto: Deutsche Kinemathek / Filmarchiv Austria)

Rosa Luxemburg analysierte eine neue Ära, die anders als bisher die sozialistische Revolution konkret auf die Tagesordnung setzte. Die Entwicklung gab ihr und anderen Marxisten Recht. Die Lage beruhigte sich nicht mehr. Der Erste Weltkrieg ging über in die russische Revolution und wurde durch sie beendet. 1918 brach die Revolution in Deutschland und anderen Ländern aus.

Vor diesem Hintergrund propagierte Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ historisch richtig den Beginn einer revolutionären Entwicklung im Weltmaßstab. Auch im Film „Brüder“ steckt etwas von diesem Geist, allerdings getrübt durch die Niederlage der deutschen Revolution, den Verrat der SPD und die politische Unfähigkeit der von Stalin beeinflussten KPD, die Arbeiter im Kampf gegen die Gefahr des Faschismus zu vereinen.

Zwei ungleiche Brüder (Foto: Deutsche Kinemathek / Filmarchiv Austria)

In Hochbaums Film über den Streik 1896-1897 und zwei ungleiche „Brüder“ (Arbeiter und Polizist), steckt ein gutes Stück des Jahres 1928. Bei den Reichstagswahlen im Mai war die SPD als großer Sieger hervorgegangen (die NSDAP dümpelte bei 2,6%) Innerhalb einer großen Koalition unter Hermann Müller (SPD) stellte sie u.a. den Finanz- und Innenminister. Dem starken Druck aus Unternehmer- und Bankenkreisen nachgebend, richtete sich ihre Politik immer offener gegen die Arbeiter und stieß auf Widerstand in den eigenen Reihen.

Diese brodelnde Stimmung ist eine Erklärung, wie im SPD-Umfeld ein Film entstehen konnte, den Hochbaum vorsichtig als Versuch bezeichnet, „mit einfachen Mitteln einen deutschen proletarischen Film zu schaffen“, der aber mit damaligen proletarischen Filmen nicht vergleichbar ist, die in der Regel auf die Darstellung des sozialen Elends der Arbeiter fixiert waren.

Am Ende von „Brüder“ steht das berühmte „Trotz alledem!“ von Karl Liebknecht, der 1918 die sozialistische Republik ausrief, bevor er und Rosa Luxemburg Opfer der Konterrevolution wurden. Wie in „Panzerkreuzer Potemkin“ weht am Ende von „Brüder“ rot koloriert die Fahne der Weltrevolution.

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