Wie die „außenpolitische Zeitenwende“ vorbereitet wurde

Am vergangenen Sonntag verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag eine gigantische Erhöhung des deutschen Militärhaushalts. Das „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden, das er in Aussicht stellte, bedeutet zusammen mit den bisher für 2022 veranschlagten 50 Milliarden eine Verdreifachung des Militärhaushalts in diesem Jahr.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündet die massive Erhöhung des deutschen Wehretats in seiner Regierungserklärung am 27. Februar (AP Photo/Michael Sohn)

Auch danach sollen die Ausgaben weiter steigen. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, erklärte Scholz. Bezogen auf das BIP von 2021 bedeutet das eine Steigerung um 24 Milliarden Euro auf über 71 Milliarden. Das sind knapp 80 Milliarden US-Dollar.

Insgesamt handelt es sich um die größte Aufrüstungsoffensive seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Deutschland quasi über Nacht zur stärksten Militärmacht in Europa macht. Zum Vergleich: Großbritanniens Militärausgaben beliefen sich im vergangenen Jahr laut dem Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) auf 61,5 Milliarden US-Dollar, die von Russland auf 60,6 Mrd. Dollar und die Frankreichs auf 55 Milliarden Dollar.

In der Bundestagsdebatte rechtfertigten Scholz und andere Sprecher der Regierung und Opposition diese „außenpolitische Zeitenwende“ mit Putins Aggression gegen die Ukraine. Das ist nichts als verlogene Propaganda.

Einem Bericht des Spiegel mit der Überschrift „Die 100-Milliarden-Bazooka“ zufolge wurde das Aufrüstungspaket bereits während der Koalitionsverhandlungen im vergangenen Oktober geschnürt. „Die Idee wird im Verteidigungsministerium schon länger diskutiert“, schreibt das Nachrichtenmagazin. „Schon vor Monaten hatten die Militärplaner und die Haushälter des Ressorts eine Reihe von vertraulichen Vorlagen ausgearbeitet, die an die Unterhändler der Koalitionsverhandlungen weitergeleitet wurden.“

Der russische Einmarsch in die Ukraine – der durch die Nato-Kriegsoffensive regelrecht provoziert wurde – habe „jetzt das Undenkbare denkbar gemacht“, berichtet der Spiegel. Um „ein starkes sicherheitspolitisches Signal zu setzen“, habe „das Kanzleramt die alten Vorlagen wieder hervorgeholt“, vor allem „ein vertrauliches, sechsseitiges Argumentationspapier vom 26. Oktober“. Bereits in diesem Papier sei es konkret um ein „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 102 Milliarden Euro gegangen. „Die Militärplaner“ hätten auch bereits konkret gelistet, „wo das Geld investiert werden sollte“.

Der Spiegel-Artikel gibt einen Überblick über die geplanten Anschaffungen.

Etwa 34 Milliarden Euro sollen in „multinationale Rüstungsprojekte“ fließen. Dazu gehören das System „Twister“ zur Abwehr von Hyperschallwaffen, eine „Combat Cloud“ und „strategischer Lufttransport“. Hinzu kommen Megaprojekte wie das neue europäische Luftkampfsystem Future Combat Air System – FCAS, der deutsch-französische Kampfpanzer (Main Ground Combat System – MGCS) und die Eurodrohne.

Außerdem sollen zusammen mit Großbritannien neue Artilleriesysteme und Munition entwickelt werden, mit den Niederlanden eine neue Fregatte und Luftlandeplattformen und mit Norwegen neue U-Boot-Technik.

Der überwiegende Teil des Sondervermögens (etwa 68 Milliarden Euro) ist für „nationale Großprojekte“ vorgesehen. „Ganz oben auf der Prioritätenliste“ stehe „die Nachfolge für den Uralt-Kampfjet Tornado“. Die Kosten für die Anschaffung modernisierter Eurofighter-Jets und US-amerikanischer F-35 würden dabei auf etwa 15 Milliarden Euro geschätzt.

Ungefähr fünf Milliarden seien für den neuen Schweren Transporthubschrauber vorgesehen und 20 Milliarden Euro für neue Munition, um die Depots aufzufüllen. Im Moment fehle es „überall an Raketen und Granaten für Panzer, Schiffe oder Helikopter“. Ein „gewaltiger Posten“ sei auch die „Digitalisierung landbasierter Operationen“, also v.a. die Modernisierung der Kommunikationssysteme des Heeres.

Weitere Milliarden sollen in neue Korvetten fließen und in die Modernisierung der „Patriot“-Luftabwehrsysteme. Und das seien „noch längst nicht alle Projekte, die von den Militärplanern in ihren Vorlagen aufgelistet wurden“, betont der Spiegel.

Das massive Aufrüstungsprogramm ist eine Warnung an die deutsche und internationale Arbeiterklasse. 77 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs lässt die herrschende Klasse, die mit dem Holocaust und dem Vernichtungskrieg gegen Sowjetunion die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen hat, alle Beschränkungen fallen und kehrt als militärische Großmacht zurück.

Die von Scholz verkündete außenpolitische „Zeitenwende“ wurde in den letzten Jahren akribisch vorbereitet. Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei haben diese Verschwörung der herrschenden Klasse zur Rückkehr des deutschen Militarismus genau dokumentiert und scharf verurteilt. Hier nur die wichtigsten Etappen dieser gefährlichen Entwicklung.

Bereits 2013 arbeiteten über 50 führende Politiker aller Parteien, Journalisten, Akademiker, Militärs und Wirtschaftsvertreter unter Federführung der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter dem Titel „Neue Macht – Neue Verantwortung“ eine neue außenpolitische Strategie aus. Sie kulminierte in der Forderung, Deutschland müsse politisch und militärisch wieder eine globale „Führungsrolle“ spielen, weil es als „Handels- und Exportnation“ wie kaum ein anderes Land auf „die Nachfrage aus anderen Märkten sowie Zugang zu internationalen Handelswegen und Rohstoffen“ angewiesen sei.

Gestützt auf dieses Strategiepapier verkündeten der damalige Bundespräsident Joachim Gauck und führende Vertreter der Großen Koalition auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 offiziell das „Ende der militärischen Zurückhaltung“. Deutschland sei „zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“, und müsse „bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen“, erklärte der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD).

In die Praxis umgesetzt wurde die Strategie erstmals in der Ukraine. Zusammen mit den USA unterstützte Deutschland im Februar 2014 den rechten Putsch in Kiew und paktierte mit faschistischen Parteien wie Swoboda, um ein anti-russisches Regime an die Macht zu bringen.

Schon damals warnte die SGP vor einer Eskalation des Konflikts mit Russland. Im September 2014 verabschiedete eine Sonderkonferenz der Partei eine Resolution gegen Krieg und die Rückkehr des deutschen Militarismus, in der es heißt:

Eine Clique von politischen Drahtziehern, Militärs, Journalisten mit engen Verbindungen zu den Geheimdiensten und von anderen Meinungsmachern manipuliert die Ereignisse und trifft Entscheidungen, die die ganze Menschheit in ein Blutbad zu stürzen drohen… Inzwischen ist ein atomarer Krieg mit Russland keine theoretische Hypothese mehr, sondern eine reale Gefahr.

Die Resolution wies auch darauf hin, dass die Rückkehr von Militarismus und Nationalismus gerade auch in Deutschland angesichts der historischen Erfahrungen auf überwältigende Opposition stößt. Deshalb arbeite die herrschende Klasse daran, die Geschichte umzuschreiben, um die Verbrechen des deutschen Imperialismus reinzuwaschen. „Die Propagandisten an den Universitäten begnügen sich nicht mit der Rehabilitation der Kriegspolitik des Kaiserreichs, sie versuchen, auch Hitlers Ruf wieder herzustellen.“

Seither wurde die Kampagne für die Rückkehr des deutschen Militarismus systematisch vorangetrieben. Der Militärhaushalt stieg bereits in den letzten acht Jahren von etwa 32 Milliarden Euro auf fast 50 Milliarden. Die internationalen Kriegseinsätze der Bundeswehr wurden mit den Missionen in Mali und im Nahen und Mittleren Osten massiv ausgeweitet, und auch bei der Nato-Aufrüstung gegen Russland übernahm Deutschland – allen voran mit der Entsendung einer Battlegroup nach Litauen – eine führende Rolle.

Gleichzeitig wurden im Verteidigungsministerium Papiere ausgearbeitet, die ganz offen erklären, dass Deutschland wieder in der Lage sein muss, große Kriege für seine wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen zu führen, und dafür auch die notwendigen Fähigkeiten braucht. „Ziel ist es, die Bundeswehr auf bekannte und auf neue Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen im gesamten Aufgaben- und Intensitätsspektrum vorzubereiten“, heißt es etwa in der 2018 verabschiedeten „Konzeption der Bundeswehr“.

Sie [die Bundeswehr] muss über Kräfte und Mittel verfügen, die nach kurzer Vorbereitung an den Grenzen oder jenseits des Bündnisgebiets einsetzbar sind. Das schließt Fähigkeiten zur strategischen Verlegung ein… Die kollektive Verteidigung im Bündnisrahmen kann von kleineren Einsätzen bis hin zum anspruchsvollsten Einsatz im Rahmen einer sehr großen Operation innerhalb und am Rande des Bündnisgebietes reichen.

Im Moment richtet sich die deutsche Kriegsoffensive gegen Russland. Nach einem ersten Zögern steht Deutschland an der Spitze der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Erst gestern verkündete die Bundesregierung die Lieferung von 2700 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Strela“ an Kiew. Am Samstag hatte die Regierung bereits die Lieferung von 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“ genehmigt.

„Deutschland hat mit Waffenlieferungen an die Ukraine einen großen Schritt gemacht und mit manchen alten Gewissheiten gebrochen“, frohlockte Steinmeier gestern bei einem Besuch der deutschen Truppen in Litauen. Der Präsident pries die „deutliche Steigerung“ des Verteidigungshaushalts und drohte Russland unverhohlen mit einer langen militärischen Konfrontation. Nichts deute im Moment „auf ein baldiges Ende des Krieges hin. Wir werden einen langen Atem brauchen, und wir werden ihn haben.“

Bezeichnenderweise wird die Kriegsoffensive, die zunehmend entlang ähnlicher Linien verläuft wie 1914 und 1941, von den nominell „linken“ Bundestagsparteien vorangetrieben. Die SPD führt die Regierung und das Verteidigungsministerium und die Grünen das Außen- und Wirtschaftsministerium. Und auch die Linkspartei ist voll an Bord. Führende Parteivertreter unterstützen die Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine und verlangen sogar die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Rückkehr Deutschlands als hochgerüstete, aggressive Militärmacht auch die Spannungen zwischen den europäischen Mächten und zwischen Deutschland und den USA verschärfen wird. Der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site David North schrieb am 1. März auf Twitter:

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Deutschland, das bereits die dominierende Wirtschaftsmacht in der EU ist, wird nun auf dem Weg sein, die dominierende Militärmacht in West- und Mitteleuropa zu werden. Das sind keine guten Nachrichten für Frankreich, und wahrscheinlich versucht Macron deshalb, seine Kontakte zu Putin offen zu halten.

Es sei daran erinnert, dass Großbritannien und Frankreich 1989 erbittert gegen die Wiedervereinigung Deutschlands waren. Obwohl sie sich nicht trauten, dies öffentlich zu sagen, fürchteten Premierministerin Thatcher und Präsident Mitterrand, dass ein wiedervereinigtes Deutschland unkontrollierbar sein würde.

Und weiter:

Auch wenn sich die Kräfte des Nato-Bündnisses derzeit gegen Russland richten, birgt es doch explosive Widersprüche in sich. Der Krieg in der Ukraine markiert den endgültigen und entscheidenden Zusammenbruch der gesamten Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Welt ist mit einem vulkanischen Ausbruch imperialistischer Gewalt konfrontiert. Die Katastrophe kann nur durch die Ausweitung des internationalen Klassenkampfes vermieden werden, der auf die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse und die Errichtung des Weltsozialismus gerichtet ist.

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