Perspektive

Der Nato-Russland-Konflikt gerät außer Kontrolle

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der nun schon die dritte Woche andauert, gerät rasch außer Kontrolle. Beide Seiten beschwören den „Dritten Weltkrieg“ und die Aussicht auf einen Atomkrieg.

Die Geschichte lehrt, dass Kriege oft begonnen werden, ohne dass die Kombattanten wissen, wohin sie führen. Unter Bedingungen, unter denen beide Seiten große militärische Verluste hinnehmen müssen, beginnt die militärische Logik der Eskalation nun ein gefährliches Eigenleben zu entwickeln.

Die russische Regierung von Wladimir Putin findet sich in einem unausgesprochenen Krieg gegen die Nato wieder, dessen Schlachtfeld die Ukraine ist. Sie reagiert darauf, indem sie die Nato selbst immer direkter ins Visier nimmt.

Am Sonntag zerstörte ein russischer Raketenangriff eine militärische Übungsbasis, die nur 15 Meilen von der Grenze zu Polen, einem Nato-Verbündeten, entfernt ist. Der Stützpunkt wurde von Nato-Personal zur Ausbildung ukrainischer Streitkräfte genutzt und war zuvor Schauplatz internationaler Nato-Übungen. Am selben Tag bestätigte das US-Außenministerium, dass der amerikanische Journalist Brent Renaud in Irpin, außerhalb der Hauptstadt Kiew, von russischen Truppen getötet wurde.

Ein ukrainischer Feuerwehrmann zieht einen Schlauch in ein großes Lebensmittellager, das durch einen Luftangriff in den frühen Morgenstunden am Rande von Kiew zerstört wurde, 13. März 2022 (AP Photo/Vadim Ghirda)

Der Angriff auf den Militärstützpunkt erfolgte einen Tag nach der Drohung des stellvertretenden russischen Außenministers Sergej Rjabkow, Waffenkonvois der Nato anzugreifen. „Wir haben die Vereinigten Staaten gewarnt, dass es nicht nur gefährlich ist, die Ukraine mit Waffen aus einer Reihe von Ländern zu versorgen“, sagte er, „sondern dass dieses Vorgehen die entsprechenden Konvois auch zu legitimen Zielen macht.“

Bedroht von der unaufhaltsamen Nato-Erweiterung hatte die Putin-Regierung erwartet, Druck auf Washington ausüben zu können, um ein Sicherheitsabkommen auszuhandeln, das die immer offenere Einbindung der Ukraine in das offensive und gegen Russland gerichtete Bündnis verhindern würde. Angesichts der kriegslüsternen Weigerung der Biden-Regierung, die Nichtzugehörigkeit der Ukraine zur Nato zu garantieren und inmitten eskalierender Angriffe auf die überwiegend russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine, ordnete Putin die Offensive an. Das Putin-Regime hat eindeutig das Ausmaß der von der Nato unterstützten Kriegsvorbereitungen der Ukraine unterschätzt, und der Einmarsch hat sich als katastrophale Fehlkalkulation erwiesen. Der Kreml versucht nun, anfängliche Rückschläge durch eine Eskalation seiner Militäroperationen auszugleichen.

Mit der Entwicklung des Konflikts nehmen die USA und die Nato immer direkter an dem Stellvertreterkrieg gegen Russland teil. Die imperialistischen Mächte beschworen den Konflikt mit dem Hintergedanken herauf, Russland in einen Afghanistan-ähnlichen Konflikt zu verwickeln, und nutzten die Tatsache aus, dass die Ukraine nicht offiziell der Nato angehört, um den Krieg fortzusetzen, ohne einen unmittelbaren Konflikt zwischen Russland und der Nato zu provozieren.

Doch mit der Entwicklung des Krieges wird es immer unmöglicher, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die Nato nicht direkt beteiligt wäre. Über 20 Länder, darunter die meisten Nato-Mitglieder, haben Raketen, Flugabwehrsysteme, Flugzeuge, Fahrzeuge und andere Waffen über die Grenze der Ukraine geschleust. Die Vereinigten Staaten, die innerhalb von nur zwei Wochen Waffen im Wert von über 350 Millionen Dollar an die Ukraine geliefert haben, genehmigten am Wochenende weitere 200 Millionen Dollar für militärische Ausrüstung.

Die Ukraine berichtet, dass sich 20.000 ausländische Kämpfer gemeldet haben, um auf ihrer Seite gegen Russland zu kämpfen. Voice of America berichtet, dass sich 3.000 Amerikaner freiwillig gemeldet haben, um in die Ukraine zu reisen.

Als Reaktion auf den russischen Angriff kündigten die Vereinigten Staaten an, ihre Raketenabwehrsysteme weiter nach Osten zu verlagern, und das Pentagon kündigte die Stationierung von zwei zusätzlichen Patriot-Raketenbatterien in Polen an.

In den US-Medien herrscht eine Atmosphäre absoluter Kriegshysterie, in der Forderungen nach einer weiteren Eskalation ohne die geringste Rücksicht auf die Folgen erhoben werden. Die Aussicht auf einen nuklearen dritten Weltkrieg, der über Jahrzehnte hinweg als zivilisationsbeendende Katastrophe angesehen wurde, wird jetzt in den sonntäglichen Talkshows diskutiert.

Die äußerst provokativen Maßnahmen der Biden-Regierung werden von Angehörigen beider Parteien des US-amerikanischen politischen Establishments als unzureichend kritisiert.

Letzte Woche veröffentlichten 40 republikanische US-Senatoren ein Schreiben, in dem sie die Biden-Regierung aufforderten, polnische MiG-29-Flugzeuge in Besitz zu nehmen und sie von einem US-Luftwaffenstützpunkt in Deutschland in die Ukraine zu fliegen – eine Maßnahme, die laut der Biden-Regierung russische Vergeltungsmaßnahmen gegen die Nato auslösen könnte.

Bedeutende Gruppierungen in beiden politischen Parteien fordern, dass das US-Militär eine Flugverbotszone über Teilen der Ukraine verhängt und russische Flugzeuge abschießt, was – wie das Weiße Haus warnte – zu einem dritten Weltkrieg führen würde.

Neben der militärischen Logik selbst wird die Kriegshysterie genutzt, um alles andere – abgesehen vom Wetter – aus der medialen Berichterstattung zu verdrängen. Die Covid-19-Pandemie, an der in den USA nach wie vor täglich mehr als 1.200 Menschen sterben, wird völlig ignoriert. Grenzenlose Heuchelei ist die Norm. Während die Medien die russischen Aktionen in atemlosen Äußerungen angeprangert haben, ignorierten sie am Sonntag die brutale Massenhinrichtung von 81 Menschen in Saudi-Arabien, einem engen Verbündeten der USA.

Der um die Ukraine geführte eskalierende Krieg zwischen den USA und der Nato auf der einen und Russland auf der anderen Seite ist gleichzeitig ein Krieg gegen die gesamte Arbeiterklasse. Angesichts der steigenden Preise, die die Reallöhne in den Keller treiben, wird Arbeitern einfach gesagt, dass sie im Namen der Verteidigung der „Freiheit“ – d.h. des Rechts der Ukraine auf Beitritt zum Nato-Militärbündnis – die Zähne zusammenbeißen sollen. „Die Nato braucht mehr Waffen und weniger Butter“, verlangte am 7. März ein Meinungsartikel im Wall Street Journal, der dazu forderte, die Sozialversicherung und das Medicare-Programm zusammenzustreichen.

In nur wenigen Wochen hat der Krieg auf der ganzen Welt die Weichen für massive Neuzuweisungen von staatlichen Geldern gestellt. Letzte Woche haben die Vereinigten Staaten den größten Militärhaushalt der Geschichte verabschiedet und gleichzeitig die verbliebenen Mittel gegen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gekürzt. Deutschland hat die Krise genutzt, um seinen Militärhaushalt zu verdreifachen.

Mit anderen Worten: Der Krieg wird zum Anlass für eine massive Senkung des Lebensstandards der Arbeiterklasse, bei der Reallohnverluste aufgrund einer galoppierenden Inflation von gesellschaftlicher Austerität und gerichtlich angeordneten Streikverboten im Namen der „nationalen Sicherheit“ begleitet werden.

Die Folgen des Krieges werden für die Arbeiterklasse der ehemaligen Sowjetunion noch katastrophaler sein, denn ihnen droht der totale wirtschaftliche Zusammenbruch, einhergehend mit Massenarbeitslosigkeit und sogar Hungersnöten. Die Arbeiter in Russland und Osteuropa sind mit den ganzen Konsequenzen der Auflösung der Sowjetunion konfrontiert. Die Behauptung, die Restauration des Kapitalismus würde Wohlstand und eine Art friedliche Koexistenz zwischen Russland und dem Weltimperialismus schaffen, entpuppt sich als Hirngespinst.

Der Krieg hat seine eigene Logik. Russland mag die Reaktion der Nato auf die Invasion unterschätzt haben und die Nato mag die Reaktion Russlands auf ihre Provokationen unterschätzt haben. Doch die Arbeiterklasse darf ihrerseits nicht die Gefahr unterschätzen, dass sich die Krise zu einem Weltkrieg ausweitet, in dem Atomwaffen eingesetzt werden.

Unabhängig von den kurzfristigen Entwicklungen gibt es im Rahmen der kapitalistischen Politik keinen Ausweg aus dieser Krise. Nur eine Kraft kann die drohende Katastrophe aufhalten: Die internationale Arbeiterklasse, geeint im Kampf gegen Imperialismus, Militarismus, das historisch überholte Nationalstaatensystem und die kapitalistische Gesellschaftsordnung.

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