72. Berlinale: „Schweigend steht der Wald“ – die Gespenster der Vergangenheit kehren zurück

Der Debütspielfilm „Schweigend steht der Wald“ von Saralisa Volm war einer der interessanten Beiträge der Berlinale-Reihe „Perspektive Deutsches Kino“. Er gehört zu den Arbeiten jüngerer Filmemacher, die wichtige gesellschaftliche Themen mit populären Filmformen wie Krimi bis hin zum Mysterythriller verbinden.

Anja (Henriette Confurius) in "Schweigend steht der Wald" (Bild: POISON/if… Productions)

Ähnlich wie in dem Film „Schlaf“ von Michael Venus wird in „Schweigend steht der Wald“ ein Symbol der deutschen Romantik, der deutsche Wald, zum Ort des Grauens. Am Filmbeginn wühlen sich dicke Regenwürmer durch den Waldboden, den dunklen, zähen Stoff der Geschichte – bis zurück in die Nazi-Zeit.

Die Geschichte spielt im Jahr 1999: Anja Grimm (Henriette Confurius) aus München absolviert ihr Forstpraktikum in dem Dorf, wo sie früher die Ferien verbrachte und ihr Vater, ein naturverbundener Lehrer, vor zwanzig Jahren spurlos verschwand. Anja will herausfinden, was geschah.

Als sie die Waldwiese aufsucht, wo er das letzte Mal gesehen wurde, bedroht sie ein Mann mit Gewehr. Es ist der psychisch auffällige Xaver, der damals des Mordes verdächtigt, aber schnell wieder freigelassen wurde. Kurz nach der Begegnung mit Anja erschlägt Xaver seine Mutter Anna und versucht danach, sich selbst umzubringen. Hat Xaver auch Anjas Vater ermordet?

Als den Dorfbewohnern klar wird, dass Anja die Wahrheit herausfinden will, weichen ihr alle aus. Auch zwischen Dorfbewohnern kommt es zu Konflikten, so zwischen dem Kriminalbeamten Konrad Dallmann (Robert Stadlober) und seinem Vater Gustav (August Zirner), dem ermittelnden Kriminalbeamten vor zwanzig Jahren. Er hatte den Mord an Anjas Vater gedeckt, den nicht Xaver, wie später dessen Schwester Waltraud ihrem Sohn Rupert (Noah Saavedra) sagt, sondern Mutter Anna begangen hat, damit ein anderes, älteres Verbrechen unentdeckt bleibt.

1945 war die Zeit der Todesmärsche von KZ-Häftlingen. Dies galt auch für das nahegelegene KZ Flossenbürg. Viele starben vor Schwäche, andere wurden beim Fluchtversuch von der SS erschossen.

Teile der örtlichen Zivilbevölkerung beteiligten sich an der Jagd auf sie. Menschenverachtend wurden sie wegen ihrer gestreiften Häftlingskleidung „Zebras“ genannt, als handle es sich um eine Safari. Manchmal waren Kinder aus dem Dorf dabei, wie Xaver – „aus Erziehungsgründen“, so Waltraud im Gespräch mit ihrem Sohn Rupert. Die erschlagenen Häftlinge wurden in einer Grube im Wald verscharrt. Anjas Vater, dem Ungewöhnlichkeiten bei der Beschaffenheit des Waldbodens auffielen, war dem Massengrab auf der Spur.

Für das, was 1945 wirklich geschah, gibt der Film nur Hinweise. Ein altes Familienfoto an der Wand, der Vater in Uniform. Das Foto einer jungen Frau in Unform mit Hakenkreuz. In Xavers Wohnung findet Anja eine Kinderzeichnung, wie Häftlinge blutig geschlagen werden, und eine Handvoll Goldzähne.

In erster Linie geht es aber darum, wie nachfolgende Generationen in einem Dorf, wo jeder jeden kennt, mit diesem finsteren Erbe umgehen. Über so ein monströses Verbrechen kann nicht einfach Gras wachsen. Unter der Oberfläche vergiftet es die Beziehungen bis in die Gegenwart, verbreitet weiter Angst, Schuldgefühle. Weiterhin wird gedroht und erpresst. Waltraud bricht offen in Panik aus, als Anja ihr begegnet.

Der emeritierte Kommissar Gustav Dallmann verteidigt seine Vertuschungstat von 1979 als notwendiges Opfer für das ökonomische Überleben des ärmlichen Dorfes. Eine Entdeckung des Massengrabs – gerade hatte der italienische Staatspräsident Sandro Pertini mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Joseph Strauß das KZ-Flossenbürg besucht – hätte durch die anwesende Weltpresse das Schicksal der gesamten Umgebung besiegelt.

Rupert (Noah Saavedra) ((Bild: POISON/if… Productions)

Dass ein schlechter Ruf den Ruin bedeutet, bekommt Rupert zu spüren, der mit der kommerziellen Nutzung des Waldes als „Hänsel und Gretel“-Märchenwald, mit Hexenhaus und Baumwipfelpfad, Touristen in die verlassene Region bringen will. Seit Xaver dort seine Mutter umbrachte, ist Rupert bei der Geschäftsbank nicht mehr kreditwürdig. Niemand wolle einen Mörder-Wald besichtigen.

Rupert hat als Kind mit Anja gespielt und fühlt sich von ihr auch jetzt angezogen. Ihrer konsequenten Suche nach der Wahrheit folgt er letztlich nicht. Er spielt glaubwürdig einen jener Vertreter der neueren Generation, die zwar entsetzt sind über die Verbrechen der Vergangenheit, sich aber letztlich anpassen an die gängige Auffassung, man solle nach vorne schauen, den eigenen Vorteil ins Zentrum stellen und die Geschichte ruhen lassen.

Dafür tritt Polizist Konrad ein, der Sohn von Gustav Dallmann, und liefert die passende zynische Bemäntelung. Als Rupert fordert, die Wahrheit zu sagen, lautet seine Antwort, dies würde alle ruinieren.

Dann erzählt er, wie zwei Jahre zuvor der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg mit ihm zusammen eine alte Frau auf einem abgelegenen Bauernhof besucht habe, die kurz vor ihrem Tod stand. Sie habe „beichten“ wollen, um ihren Frieden zu finden – von einem KZ-Häftling, der bei einem Todesmarsch vor ihrem Hof zusammengebrochen und erschossen worden war, den sie auf ihrem Gelände begraben und dessen anonymes Grab ihre Familie fünfzig Jahre lang gepflegt hatte. Sie habe nun gefordert, die Gebeine herauszuholen, sie auf einem KZ-Friedhof zu begraben und die Verwandten dieses Toten zu benachrichtigen.

„Und was habt ihr gemacht“, fragt Rupert. „Nichts“, so Konrad. Die Begründung: „Manche Dinge muss man schweigend aushalten. Liegt in der Qual dieses Schweigens nicht auch eine Art Sühne?“

Konrads Vater, der über 70-jährige Gustav, wirkt als Einziger relativ ungebrochen. Er präsentiert sich so selbstbewusst als Märtyrer, dass man irgendwann misstrauisch wird und vermutet, dass er wirklich einen Nazi-Hintergrund hat. Man fühlt sich an den Film „Die Wannseekonferenz“ erinnert, wo die Nazi-Elite die psychische Belastung der Soldaten bei Massenerschießungen als „Opfer“ bezeichnen. Am Ende ist Dallmann bereit, ein weiteres Verbrechen zu begehen. Ob es ihm gelingt, lässt der Film offen.

Der Beton, mit dem man die zahllosen Knochen der KZ-Toten ein für alle Mal zuschütten und unter dem schweigenden Märchenwald begraben will, ist zu flüssig. Hineingerutscht ist eine Lebende, Anja. Dallmann zielt auf sie, sein Sohn zielt auf ihn. Doch der Ruf „Gustav hör auf ... es ist vorbei“ verhallt. Als der Schuss fällt, richtet sich das Feuer frontal auf die Zuschauer.

Dieser Filmschluss wirkt wie ein Schockvideo, als wollten die Filmemacher den Zuschauern zurufen: Passt auf, die Geschichte ist nicht vorbei, es ist dringend zu handeln!

Das Drehbuch zum Film hat Wolfram Fleischhauer auf der Grundlage seines gleichnamigen Romans geschrieben. Fleischhauer verbindet auch in anderen Werken Geschichte mit Gegenwartsfragen („Die Purpurlinie“, „Die Frau mit den Regenhänden“, „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ u.a.) und versucht, sie einem breiten Lese-Publikum mit Krimi- und Thrillerelementen nahezubringen. Im Jahr 2000 erhielt er den Deutschen Krimipreis für „Die Frau mit den Regenhänden“.

„Schweigend steht der Wald“ vermittelt lebendig, wie ehemalige KZ-Angestellte, die folterten und Massenmorde begingen, über Jahrzehnte in ländlicher Abgeschiedenheit ein ganz normales Leben führen konnten, nur wenige Kilometer von ihren einstigen Verbrechen entfernt, und wie sie Polizei und Justiz deckt – bis jemand auftaucht, wie Anja, die die Wahrheit wissen will und sich nicht abspeisen lässt mit Mythen und Legenden, wie dem Märchen von Hänsel und Gretel.

Zu den historischen deutschen Nachkriegsmärchen gehört das von der sogenannten „Stunde Null“. Mehrere westdeutsche Spitzenpolitiker waren ehemalige Nazis. Für den Aufbau des Nachkriegsstaats in Westdeutschland, für die Geheimdienste, Justiz, Polizei und politische Ämter wurden alte Nazi-Führungskräfte herangezogen. Einer der sogenannten Väter des Grundgesetzes war der Wirtschaftslobbyist Paul Binder (CDU), ehemaliger Nazi-Spezialist für die „Arisierung“ jüdischen Eigentums; Kanzleramtschef in der Regierung Adenauer wurde Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassegesetze. Leute vom Schlage Dallmann, gehörten zum Motor des Wirtschaftswunders der 50er Jahre.

Eine wichtige Rolle spielte Franz-Josef Strauß (CSU), dessen Besuch 1979 im KZ Flossenbürg im Film erwähnt wird, und der als Verteidigungsminister die Wiederbewaffnung der Bundeswehr und ihre atomare Aufrüstung vorantrieb. Für sein neues Referat „Psychologische Kriegsführung“ setzte er den ehemaligen Nazi-Juristen Eberhard Taubert als Berater ein, der u.a. das Drehbuch zu dem antisemitischen Hetzfilm „Der ewige Jude“ (1940) verfasst hatte.

Das sind weithin bekannte Tatsachen, die viele Filme thematisiert haben. Saralisa Volms „Schweigend steht der Wald“ richtet jedoch auf fesselnde Weise und mit eindringlichen Bildern seinen Blick auf die Gegenwart.

In diesem Zusammenhang bekommt der Titel des Films tiefere Bedeutung. Der Wald strahlt gewöhnlich Ruhe und Frieden aus, aber sein Schweigen ist trügerisch. An der Oberfläche ist manches von Nebel verhüllt und neues Leben erfüllt die Baumwipfel, die Wurzeln aber reichen tief in die Vergangenheit.

Anders gesagt, die Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts waren nur vorübergehend verdeckt – unter einer dicken Kalkschicht, die wieder aufgebrochen ist. Die alten Gespenster von Krieg und Faschismus kehren zurück. Und der Ausgang bleibt offen.

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