Ein Brief von David North an einen russischen Genossen: „Putins Invasion ist eine verzweifelte Reaktion auf den unerbittlichen Druck, den die USA und die Nato auf Russland ausüben“

David North ist der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site.

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2. April 2022
Lieber Genosse,

je länger der Krieg andauert, desto deutlicher wird, dass das Schicksal der Ukraine für die Vereinigten Staaten nur insoweit von Interesse ist, wie es im Rahmen ihres verstärkten Kampfs um die Weltherrschaft eine Rolle spielt. Die Biden-Administration hat den Krieg angezettelt und Putin – der bis zur letzten Minute hoffte, seine „westlichen Partner“ zu vernünftigen Zugeständnissen an die „nationale Sicherheit“ des russischen Staats bewegen zu können – in einen (sowohl militärisch als auch politisch) schlecht vorbereiteten Krieg getrieben. Erstaunlich ist, dass Putin und seinen Militärführern offenbar nicht klar war, in welchem Umfang die Nato das ukrainische Militär bewaffnet und ausgebildet hatte. Dieses Versagen ihrer Geheimdienste geht auf den Stalinismus zurück, der mit der Auflösung der Sowjetunion völlig unrealistische, geradezu kindisch-naive Vorstellungen vom imperialistischen System verband. Der Kreml kappte jede Verbindung zum Marxismus, hielt jedoch an dem Glauben fest, es könne eine „friedliche Koexistenz“ mit seinen westlichen Partnern geben. Kurz bevor er den Marschbefehl gab, jammerte Putin, dass Russland vom Westen „ausgetrickst“ worden sei.

Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass Russland – nachdem es erfolglos versucht hatte, den Westen unter Druck zu setzen – über keinen klaren strategischen Plan verfügte. Was genau will Putin erreichen? Die Militäroperation hat sich – zumindest in ihrer Anfangsphase – als Katastrophe erwiesen. Sie besteht augenscheinlich aus einer Kette von improvisierten Reaktionen auf unerwartete Schwierigkeiten. Der Verlust von sieben Generälen in den ersten Wochen des Krieges zeugt von einer erstaunlichen Inkompetenz. Putin, der sich vom Russischen Kaiserreich inspirieren lässt, scheint als Kriegsherr nicht fähiger zu sein als Nikolaus II.

Die Regierungen und Medien in Amerika und Europa prangern die russische Brutalität an. Es liegt uns fern, die furchtbaren Folgen des Kriegs für die ukrainischen Massen zu beschönigen, geschweige denn zu leugnen. Doch die Anprangerung Russlands durch die USA und die Nato strotzt vor Heuchelei. Die russische Invasion begann nicht mit „Shock and Awe“, d. h. mit massiven Bombardements, wie sie die Vereinigten Staaten 1991 und – noch schlimmer – 2003 gegen Bagdad einsetzten. Wenn es das Pentagon gewesen wäre, das den Krieg gegen die Ukraine begonnen hätte, dann wäre nach dem ersten Tag von Kiew und anderen ukrainischen Großstädten nicht mehr viel übrig gewesen.

Dies ist natürlich keine Rechtfertigung für Putins Invasion, die eine verzweifelte und im Wesentlichen reaktionäre Antwort auf den unerbittlichen und zunehmenden Druck darstellt, den die USA und die Nato auf Russland ausüben. Die politisch schwache russische Bourgeoisie, der es nach wie vor an einer tragfähigen Grundlage für ihre Herrschaft fehlt, versucht, diesem Druck durch begrenzte militärische Aktionen zu begegnen. Doch diese Strategie, die auf der konventionellen Logik der Geopolitik bürgerlicher Nationalstaaten beruht, ist strategisch wirkungslos, taktisch katastrophal und politisch bankrott. Letzteres wurde in der Rede, mit der Putin den Einmarsch ankündigte, besonders deutlich.

Bei einem „Ruf zu den Waffen“ werden normalerweise die größten historischen Erfahrungen angerufen, die das betreffende Volk durchlebt hat. Aber die russische Bourgeoisie, die ihre Existenz der Restauration verdankt, ist dazu nicht in der Lage. Sie kann nicht die „russische“ Geschichte des 20. Jahrhunderts beschwören, denn diese Geschichte ist eingebettet in die Erfahrung der Oktoberrevolution und der Sowjetunion. Putin lehnt diese Geschichte ab, und so übersprang er in seiner „Kriegsrede“ das Jahr 1917. Er verurteilte Lenin und die Bolschewiki und berief sich stattdessen auf den Zaren und den sprichwörtlichen Dserschimorda, den großrussischen chauvinistischen Tyrannen. Dieser reaktionäre Appell kann die Massen in Russland nicht begeistern, ganz zu schweigen von der Welt.

Der weitere militärische Verlauf des Kriegs lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer vorhersagen. Absehbar ist jedoch, dass dieser Krieg einen entscheidenden Wendepunkt in der Krise des kapitalistischen Weltsystems markiert. Die globalen Dimensionen werden immer deutlicher zutage treten. Die imperialistischen Mächte, allen voran die Vereinigten Staaten, streben mit diesem Krieg eine Neuaufteilung der Welt an. Dabei geht es vor allem um die Aufteilung von Russland und China. Die Vereinigten Staaten sind entschlossen, 1) Russlands Existenz als Hindernis für ihre globalen Interessen ein Ende zu setzen und 2) die direkte Kontrolle über Russlands riesige Vorkommen strategisch wichtiger Rohstoffe zu erlangen. Um diese Ziele zu erreichen, muss Russland in seiner jetzigen Form zerstückelt werden. Parallel zu diesem Kampf verfolgen die Vereinigten Staaten ähnliche Ziele in Bezug auf China.

Es kann kein Zufall sein, dass die beiden Hauptziele des US-Imperialismus Länder sind, in denen es eine soziale Revolution gab. Zwar wurde der Kapitalismus wiederhergestellt, doch das historische Erbe der russischen und der chinesischen Revolution besteht in Form einer begrenzten „Unabhängigkeit“ von den USA fort. Die USA können das wirtschaftliche und politische Leben dieser Länder nicht uneingeschränkt manipulieren und kontrollieren. Tragischerweise manifestiert sich diese Unabhängigkeit im Falle Russlands vor allem auf negative Weise, nämlich durch den Besitz des von der UdSSR geschaffenen Atomwaffenarsenals. Doch dieses Arsenal bietet auf längere Sicht keine tragfähige Strategie für den Überlebenskampf, mit dem Russland konfrontiert ist.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale lehnt die russische Invasion in der Ukraine ab. Diese grundsätzliche Haltung steht nicht im Widerspruch zur Anerkennung der unbestreitbaren Tatsache, dass die Vereinigten Staaten den Krieg angezettelt haben. Die trotzkistische Bewegung stützt ihre Strategie jedoch nicht auf die pragmatischen, national basierten Konzeptionen, die die Politik des kapitalistischen Regimes in Russland bestimmen.

Die Verteidigung der russischen Massen gegen den Imperialismus kann sich nicht auf die nationalstaatliche Geopolitik der Bourgeoisie begründen. Der Kampf gegen den Imperialismus erfordert vielmehr, dass die proletarische Strategie der sozialistischen Weltrevolution zu neuem Leben erweckt wird. Die russische Arbeiterklasse muss das gesamte Unterfangen der kapitalistischen Restauration, das in eine Katastrophe geführt hat, als verbrecherisch zurückweisen und auf politischer, gesellschaftlicher und theoretischer Ebene wieder an ihre großen revolutionären Traditionen anknüpfen, die mit Lenin und Trotzki verbunden sind.

Das Wesen dieses Erbes ist das Bekenntnis zum revolutionären Internationalismus. Die ganze Welt wird von der Sogwirkung des Kriegs in der Ukraine erfasst. Die wirtschaftlichen Verwerfungen, die er hervorruft, verschärfen die ohnehin weit fortgeschrittene Krise des kapitalistischen Systems und sind in der ganzen Welt zu spüren. Der Preisanstieg und die Unterbrechung der Energie- und Lebensmittelversorgung haben bereits weltweit zu Massendemonstrationen und Streiks geführt. In Sri Lanka versuchten wütende Arbeiter in der vergangenen Woche, den Präsidentenpalast zu stürmen. Ähnliches wird sich in den Hauptstädten der ganzen Welt wiederholen.

Die Aufgabe der trotzkistischen Weltbewegung, angeführt vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale, besteht darin, der Arbeiterklasse die Perspektive und Führung zu geben, die sie in dieser neuen Phase des revolutionären Kampfes braucht.

Mit freundschaftlichen Grüßen,

David North

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