Klinikstreiks in Nordrhein-Westfalen

Pflegerinnen und Pfleger verurteilen Ausverkaufs-Vertrag von Verdi

Unzählige Klinikbeschäftigte in Nordrhein-Westfalen verurteilen den Tarifvertrag, den die Gewerkschaft Verdi ihren Mitgliedern bis zum heutigen Freitag zur Abstimmung vorgelegt hat. Der sogenannte „Tarifvertrag Entlastung“ (TV-E) schafft keine Verbesserungen für die Beschäftigten, sondern soll die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in den Kliniken zementieren. Es handelt sich um einen üblen Versuch, den 79-tägigen mutigen Streik im Interesse der Landesregierung und der Klinikkonzerne auszuverkaufen.

Bis das angekündigte und völlig unzureichende System der „Entlastungspunkte“ in Kraft tritt, sollen sogar weitere anderthalb Jahre ins Land gehen, in denen sich die Belastung für das Personal weiter erhöht. Im Netz bezeichnen Pflegerinnen und Pfleger das Punktesystem und den TV-E als „billig“, einen „Arschtritt“ und „eine Frechheit“. „Hat irgendjemand ernsthaft etwas anderes erwartet?“, fragt Vicky, eine ehemalige Krankenpflegerin, die wie viele andere mittlerweile ihren Beruf aufgegeben hat.

Eine Erklärung des Aktionskomitees Pflege, das auf Initiative der Sozialistischen Gleichheitspartei und mit Unterstützung der World Socialist Web Site ins Leben gerufen wurde, trifft unter diesen Bedingungen auf große Zustimmung und hat in den sozialen Medien dutzende Kommentare erhalten. Das Aktionskomitee ruft dazu auf, mit „Nein“ zu stimmen und der Gewerkschaft Verdi das Verhandlungsmandat zu entziehen, um einen umfassenden Kampf zu organisieren und weitergehende Forderungen durchzusetzen.

Renate aus Österreich kommentiert den Aufruf des Aktionskomitees mit den Worten: „Alle wie sie heißen – Verdi, Österreichischer Gewerkschaftsbund, das Sozialministerium usw. – sollten einen Monat in der Pflege arbeiten, damit sie spüren, was dort geleistet wird.“ Miriam M., die als Krankenpflegerin am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum arbeitet, wo ein „Entlastungstarifvertrag“ von Verdi bereits durchgesetzt worden ist, schreibt: „Same in Berlin! Und da wundern sich Menschen, dass man nicht in der Gewerkschaft ist.“

Streikende Pfleger sprechen über katastrophale Bedingungen an den Kliniken

Während die Situation für hunderttausende Klinikangestellte und Pfleger überall unerträglich geworden ist, versuchen Verdi und die anderen Gewerkschaften, einen ernsthaften Kampf zu verhindern. Christiane K., eine erfahrene Kinderkrankenpflegerin, stellt in einem Facebook-Kommentar zu Verdis Ankündigung des TV-E fest, dass es fraglich sei, „ob es sich gelohnt hat, so hart zu kämpfen“ und „so viel für so wenig geopfert“ zu haben. Die Ergebnisse stünden in „keiner Relation zu der wahnsinnigen psychischen und physischen Kraft“, die die Streikenden aufgebracht hätten. Sie fährt fort:

Sieben Monate haben wir teilweise freie Tage geopfert, um jetzt mit etwas Zuckerbrot ruhig gestellt zu werden. Wer möchte denn bei uns anfangen, wenn er hört: „In zwei Jahren gibt es aber dann Entlastung“? Um die Ratio auf den einzelnen Stationen durchzusetzen, müssten Betten gesperrt werden. Bei unserem jetzigen Personalschlüssel müssten drei unserer acht Kinderintensivbetten gesperrt werden. Das wäre eine Entlastung, macht aber niemand. Stattdessen füllen sich die OP-Programme wieder. Es gibt nicht die geforderte Einarbeitungszeit, also werden unsere jungen Kolleginnen weiter verheizt.

Für mich persönlich heißt das jetzt noch drei Jahre durchhalten und weiter reduzieren, damit ich noch etwas von meiner Rente habe. Für uns „Alte“, die den Laden mit viel Erfahrung und Wissen am Laufen halten, steht nämlich nichts in diesem Vertrag! Mir braucht niemand mehr mit Respekt und Wertschätzung zu kommen. Die Steine, die uns immer wieder in den Weg gelegt werden, kann und will ich nicht mehr beseitigen. Ich habe mich auch nach 42 Jahren in der Pflege gerade gemacht und habe versucht, die Liebe, die ich in meinem Beruf empfinde, weiterzugeben und junge Menschen zu überzeugen. So ist das kaum möglich!

Ähnlich wie Christiane geht es vielen Kolleginnen und Kollegen. Denis L. erklärt, dass die von Verdi angekündigten zusätzlichen freien Tage Augenwischerei seien, solange keine weiteren Pflegekräfte eingestellt würden: „Wenn künftig jemand einen zusätzlichen freien Tag bekommt, muss der andere Mitarbeiter zur Arbeit gehen, um sicherzustellen, dass alles vorschriftsmäßig ist.“ Doch diese Kapazitäten seien nicht verfügbar: „Woher, wenn ich fragen darf? An einer Stelle wird entlastet, um an anderer Stelle Überstunden zu machen.“

Claudia N., eine Notfall-Krankenpflegerin aus NRW, die mittlerweile in einer Notaufnahme in Hamburg arbeitet, schreibt: „Das kranke System bricht gerade ein. Stationen und Betten müssen geschlossen und gesperrt werden, weil das übrig gebliebene Personal gerade reihenweise ausfällt – aufgrund von Corona, Burnout und Co. Es gibt keinen Ersatz mehr. Jetzt rächt es sich in vollen Zügen, was man jahrelang an Personal eingespart hat. Profite pflegen keine Menschen.“

Sigrid S. aus Essen empfindet Verdis zur Abstimmung gebrachten Vertrag als „beschämend“: „Und um so etwas auszuhandeln, braucht man zwölf lange Wochen? Für die Streikenden war es ein Nervenkampf. Ich weiß das, denn ich war 2006 dabei, als ohne Streik nichts mehr ging. Das kostet endlos Kraft.“ Dass sich dadurch etwas zum Besseren ändern werde, bezweifle sie stark, sagt Sigrid. „Ich finde es zum Schämen. Und die Realität soll jetzt besser werden? Schauen wir mal in ein paar Wochen, was nun besser geworden ist...“

Darauf entgegnet Lucie aus Königswinter bei Bonn: „Es glaubt doch wohl keiner, dass sich etwas ändert? Wenn Wahlen sind – oder, wie jetzt, Corona –, dann werden Versprechungen gemacht, um uns bis zum nächsten Mal ruhig zu stellen. Ich war 35 Jahre lang examinierte Altenpflegerin in der ambulanten Pflege. Ich habe keinen Cent darum gegeben, was die Politik einem verspricht.“

Streikende Pflegerinnen und Pfleger sprechen über katastrophale Arbeitsbedingungen

Tatsächlich sind Pflegerinnen und Pfleger nicht nur mit der Gier der Klinikkonzerne und der Skrupellosigkeit der Landesregierungen konfrontiert, sondern auch mit den Gewerkschaften, die deren Forderungen gegen die Beschäftigten durchsetzen. Christine Behle, die als stellvertretende Verdi-Vorsitzende und Aufsichtsratsmitglied der Lufthansa-AG jährlich 140.000 Euro einstreicht, bezeichnete den Tarifvertrag in einem Facebook-Post als „großartigen Erfolg“ und „echten Meilenstein für alle Kolleginnen und Kollegen an den Kliniken“. Mit atemberaubendem Zynismus erklärte sie, die Streikenden hätten sich „nicht spalten lassen“.

In Wirklichkeit haben Behle und Verdi über Wochen hinweg alles getan, um den Streik des Uniklinik-Personals in NRW zu isolieren und die internationale Bewegung der Pflegekräfte zu spalten. Weder streikende Flughafen-Arbeiter noch Pfleger in anderen Bundesländern wurden von Verdi auch nur über die Lage der Streikenden informiert, geschweige denn für einen gemeinsamen Kampf mobilisiert. Allein in den letzten Wochen und Monaten haben Pfleger und Mediziner in Frankreich, der Türkei und dutzenden anderen Ländern überall auf der Welt gegen die kapitalistische Durchseuchungs- und Kürzungspolitik der Herrschenden gestreikt.

Das Aktionskomitee Pflege tritt in direkter Opposition zu Verdi und allen Gewerkschaften dafür ein, diese wachsende Bewegung der internationalen Arbeiterklasse zu vereinen. Es ruft alle Klinikbeschäftigten dazu auf, den TV-E abzulehnen. Stattdessen müssen an allen Kliniken und Pflegeeinrichtungen Aktionskomitees gegründet und folgende Forderungen erkämpft werden:

  • Für jede unterbesetzte Schicht müssen die Betroffenen einen Ausgleich in Höhe des Lohns der ausgefallenen Kraft plus 50 Prozent Stress-Zulage erhalten! Wer für zwei arbeitet, muss auch für zwei entlohnt werden!
  • Sofortige Verdoppelung des Personals! Alle wissen, dass eine angemessene Pflege nur mit einer massiven Aufstockung und einer Rücknahme aller Personalkürzungen möglich ist!
  • Anpassung der Löhne an die Inflation und Lohnerhöhungen um mindestens 30 Prozent, um die früheren Reallohnsenkungen auszugleichen!
  • 100 Milliarden für Gesundheit statt für Aufrüstung! Anstelle von Rüstung und Krieg müssen die Pandemiebekämpfung und der massive Ausbau des Gesundheitssystems finanziert werden!
  • Schluss mit dem System der Fallpauschalen (DRGs)! Privatisierte Einrichtungen müssen umgehend in gesellschaftliches Eigentum überführt werden! Das Gesundheitswesen darf nicht im Interesse einer Handvoll Aktionäre geführt werden, sondern muss auf den Nutzen der gesamten Bevölkerung ausgerichtet sein.

Wir rufen alle Leserinnen und Leser auf, Kontakt mit dem Aktionskomitee Pflege aufzunehmen und eigene Aktionskomitees an ihren Kliniken und Pflegeeinrichtungen aufzubauen. Schreibt dazu eine Whatsapp-Nachricht an +4915203521345

Loading