EU-Staaten setzen Visa-Abkommen mit Russland aus

Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten haben sich auf eine „vollständige Aussetzung“ des Visa-Abkommens zwischen der EU und Russland geeinigt. Die Zahl neuer Visa für russische Staatsbürger werde damit „erheblich reduziert“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Mittwoch auf einem informellen Gipfel der EU-Außenminister in Prag.

Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrer damaligen estnischen Amtskollegin Eva-Maria Liimets im März [Photo by Estonian Foreign Ministry/CC BY-SA 2.0]

Die Maßnahme sieht unter anderem vor, die Visagebühr von 35 Euro auf 80 Euro zu verdoppeln und die Regelbearbeitungszeit von zehn Kalendertagen nach Antragseingang zu beseitigen. Auch das Einfrieren der derzeit 12 Millionen gültigen Visa wird von EU-Beamten bereits geprüft. Den aggressiven Schritt begründete Borrell mit einer „erheblichen Zunahme der Grenzübertritte von Russland in die Nachbarstaaten“, die angeblich ein „Sicherheitsrisiko“ darstellen.

Neben den Millionen Urlaubern, die unmittelbar betroffen sind, sollen russische Bürger aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse insgesamt systematisch aus Europa ausgegrenzt werden. Bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges hatte die EU eine Luftraumsperre für russische Flugzeuge und Airlines verhängt, die Urlauber aus Russland seitdem zwingt, auf dem Landweg über Finnland, Estland und Litauen einzureisen, wo ihnen vonseiten der Regierungen und Behörden offene Feindschaft entgegenschlägt.

Das Visa-Abkommen zwischen der EU und Russland hatte seit 2007 eine erleichterte Visavergabe für Reisende erlaubt und war nach Beginn des Krieges zunächst nur für Geschäftsleute, Regierungsvertreter und Diplomaten außer Kraft gesetzt worden. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) – die hinter den Kulissen die Grundsatzeinigung der EU-Staaten maßgeblich ausgehandelt haben soll – erklärte, dass die Bescheidung von Visa-Anträgen für russische Bürger künftig „im Zweifel mehrere Monate“ dauern werde.

Für pro-europäische Oligarchen stehen hingegen weiterhin alle Türen offen. Einem Bericht der Tageszeitung Welt zufolge kommen Tarnfirmen und Offshore-Registrierungen routinemäßig zum Einsatz, um die Eigentümer von Flugzeugen zu verschleiern und die Luftraumsperre zu umgehen. Wer es sich leisten kann, zwischen 1,15 und 2 Millionen Euro zu investieren, kann zudem in Malta, Zypern und Bulgarien Staatsbürgerschaften erhalten, die Freizügigkeit im gesamten Schengen-Raum gewährleisten.

Eine Reihe von EU-Staaten hatte noch umfassendere Maßnahmen bis hin zu einem vollständigen Stopp der Visavergabe verlangt, darunter die baltischen Länder sowie Polen, Finnland, Schweden und Dänemark. Estland, Lettland, Finnland und Tschechien – das derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat – haben derartige Verbote bereits angekündigt oder eingeführt. Baerbock mahnte laut Spiegel, Ziel westlicher Sanktionen müsse sein, dass sich die russische Bevölkerung „gegen ihren eigenen Präsidenten“ wende.

In Wirklichkeit handelt es sich bei den Maßnahmen um eine Eskalation der Kollektivbestrafung, mit der die EU-Staaten seit Beginn des Ukrainekrieges gegen alles Russische vorgehen. Sie zielt darauf ab, den Krieg zu befeuern und in Russland, der Ukraine und den Ländern der EU die rechtesten Kräfte zu stärken.

Der Krieg ist ein mörderischer Stellvertreterkrieg, der zwar durch den Einmarsch des russischen Militärs ausgelöst wurde, aber von den westlichen Mächten über viele Jahre hinweg systematisch provoziert und geplant worden ist. Im Gegensatz zur ohrenbetäubenden Propaganda der Regierungen und bürgerlichen Medien verfolgen die Nato-Mächte mit der Bewaffnung der Ukraine und der Schwächung Russlands eine imperialistische Agenda, die darauf ausgerichtet ist, die Ukraine unter westliche Kontrolle zu bringen und Russland aufzuspalten.

Die Visa-Beschränkungen sind Teil der Bemühungen der EU-Staaten, nationalistische Hetze zu schüren und die Antikriegshaltung anzugreifen, die nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen in der Arbeiterklasse tief verwurzelt ist. Indem russische Künstler, Wissenschaftler und nun auch Reisende unter Druck gesetzt und angegriffen werden, soll die Bevölkerung Europas auf noch brutalere Kriege bis hin zu einem Atomkrieg mit Millionen Toten vorbereitet werden.

In der Tat stellte Baerbock gegenüber der Presse klar, dass das Ende des Visa-Abkommens der Auftakt einer aggressiven „strategischen Neuausrichtung“ der Russlandpolitik der Europäischen Union sei. Diese umfasse „vier Punkte“ – eine weitere „Unterstützung der Ukraine“, die „Unterstützung von russischen Regimegegnern“, die „Stärkung der eigenen Wehrhaftigkeit“ und eine „Zusammenarbeit mit weltweiten Partnern zur Verteidigung internationalen Rechts“.

Wenn eine deutsche Außenministerin von der „Zusammenarbeit mit weltweiten Partnern zur Verteidigung internationalen Rechts“ spricht, so ist dies als kaum verhüllte Drohung zu verstehen. Es bedeutet, dass die Nato-Mächte und ihre Verbündeten – die in den letzten Jahrzehnten überall auf der Welt für unzählige Kriege, Flächenbombardements, Staatsstreiche und Drohnenterror verantwortlich waren – das alleinige Recht haben sollen, „internationales Recht“ zu brechen, um ihre imperialistischen Interessen mit Gewalt durchzusetzen.

Was Baerbock, Borrell und den europäischen kapitalistischen Regierungen vorschwebt, ist eine umfassende Militarisierung, die sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in den Dienst der Kriegspolitik stellt. Wie Baerbock selbst betonte, dürfe es gegenüber Russland „kein Nachlassen“ geben, „weder bei der Unterstützung der Ukraine noch bei Sanktionen“. Da der „gesellschaftliche Frieden“ aufgrund der europäischen Energieabhängigkeit dadurch auf dem Spiel stehe, seien neben „neuen Technologien und Ausrüstung“ auch eine „auf allen Ebenen resilientere“ Gesellschaft erforderlich.

Die „vier Punkte“ wurden in einem Papier von Baerbock und der französischen Außenministerin Catherine Colonna ausgearbeitet und den anderen Mitgliedstaaten zum informellen EU-Außenministertreffen in Prag als „Diskussionsvorschlag“ vorgelegt. In dem Papier – das als „Verschlusssache“ eingestuft ist und der Deutschen Presse-Agentur vorliegt – heißt es, dass sich „Russlands Krieg gegen die Ukraine in ein strategisches Scheitern verwandeln“ müsse. Dieses Scheitern definiere man im „weitesten Sinne“: Es umfasse auch eine „Entkopplung von Russland im Bereich der Energie“.

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