Grenzkonflikt zwischen Tadschikistan und Kirgisistan

Nach mehrtägigen Kämpfen an der kirgisisch-tadschikischen Grenze sieht es so aus, als ob der unsichere Waffenstillstand hält. Fast 100 Menschen starben und mehrere Hundert weitere wurden verletzt, als ein seit langem andauernder Konflikt zwischen den beiden zentralasiatischen Staaten letzte Woche zu einem Gewaltausbruch führte.

Ein Militärhubschrauber fliegt am 17. September 2022 über die kirgisisch-tadschikische Grenze nahe Batken im Südwesten Kirgisistans [AP Photo/Danil Usmanov]

Die Regierungen in Bischkek und Duschanbe beschuldigen sich gegenseitig, diesen jüngsten Vorfall provoziert zu haben. Kirgisistan beharrt darauf, dass Tadschikistan Truppen und paramilitärische Kräfte in seine Region Bakten geschickt habe. Seine Soldaten, die angeblich einer „Invasion“ von Panzern und Schützenpanzern gegenüberstanden, lieferten sich ein Feuergefecht mit feindlichen Grenztruppen, als diese sich nicht entfernen wollten. Das tadschikische Militär behauptet jedoch, seine Städte seien zunächst von der anderen Seite der Grenze beschossen und dann im Laufe mehrerer Tage wiederholt mit schweren Waffen angegriffen worden.

Videos in den sozialen Medien zeigen offenbar ein Gemetzel an Zivilisten auf beiden Seiten. Unter den Toten befinden sich auch Kinder und Sanitäter. Die kirgisischen Behörden haben am Wochenende 136.000 Einwohner aus dem Gebiet evakuiert. Am Samstag soll ein regionaler Flughafen mit Menschen überfüllt gewesen sein, die das Gebiet verlassen wollten. Einige von ihnen kehren jetzt nach Hause zurück.

Die augenblickliche Einstellung der Kampfhandlungen deutet nicht auf ein dauerhaftes Ende der Gewalt hin. Der kirgisische Präsident Sadyr Schaparow erklärte am Sonntag zwar, seine Regierung sei bereit zu Verhandlungen und einer „friedlichen“ Lösung. In einer auf YouTube veröffentlichten Erklärung betonte er jedoch, sein Land sei auf einen militärischen Konflikt vorbereitet und voll und ganz in der Lage, „seine Grenzen zu verteidigen“. Die Behörden in Bischkek werfen Duschanbe weiterhin vor, es würde eine „Desinformations“-Kampagne zu der Frage führen, wer für die tödlichen Ereignisse am Freitag verantwortlich sei. Alleine seit 2014 gab es elf schwere Konflikte entlang eines Teils der 375 Kilometer langen gemeinsamen Grenze. Im Mai letzten Jahres waren mindestens 54 Menschen bei Gefechten ums Leben gekommen.

Sowohl Tadschikistan als auch Kirgisistan sind gebirgige Länder mit großen Trockengebieten, und beide besitzen nicht genug landwirtschaftliche Ressourcen, um ihre Bevölkerung zu ernähren. Deshalb erheben beide Staaten Anspruch auf das fruchtbare Ferghana-Tal. Laut den Vereinten Nationen wird sich die Bevölkerung von Tadschikistan bis Ende des Jahrhunderts vermutlich mehr als verdoppeln, was einen immensen Druck auf das ohnehin schon ernährungsunsichere Land ausübt. Nur sieben Prozent der Landfläche gilt als landwirtschaftlich nutzbar, und laut dem Welternährungsprogramm sind 97 Prozent von Bodendegradation bedroht, die sich angesichts der intensiveren Auswirkungen des Klimawandels noch verschlimmern wird. Laut dem Ecological Threat Register, das 157 Länder untersucht hat, gehören Tadschikistan und Kirgisistan zu den 19 am stärksten gefährdeten Ländern. Ihnen droht die unmittelbare Gefahr, zu Wüste zu werden.

Früher waren die beiden Staaten Mitglieder der Sowjetunion, und Fragen des Zugangs zu Wasser, Weideland und Ackerland wurden administrativ gelöst. Die äußerst vielfältige und gemischte Bevölkerung bewegte sich ungehindert hin und her, während die Staatsgrenzen heute von bewaffneten Grenzwächtern kontrolliert werden.

Als die stalinistische Bürokratie 1991 die UdSSR auflöste, benutzten die neuen herrschenden Klassen der beiden zentralasiatischen Länder jeweils unterschiedliche Karten zur Abgrenzung des tadschikischen und kirgisischen Gebiets. Eine davon stammte aus den 1920ern und die andere aus den 1950ern. Das Sterben und das Leid in der Region sind eine direkte Folge des letzten Verrats der Kommunistischen Partei an dem Kampf, der mit der russischen Revolution von 1917 eingeleitet worden war, und der die Völker der Region, die zuvor vom Zarenreich unterdrückt wurden, auf egalitärer Grundlage vereinen sollte.

Mehrere Faktoren verstärken die derzeitigen Spannungen: der Krieg in der Ukraine, die Versuche der USA, Russland zu destabilisieren und aufzuteilen, der rasch eskalierende Konflikt mit China und der Kampf um die Rohstoffe Zentralasiens.

Der starke Anstieg der globalen Getreidepreise macht es armen und ohnehin schon nahrungsunsicheren Ländern immer schwieriger, ihre Bevölkerung zu ernähren. Aufgrund der Corona-Pandemie und der westlichen Sanktionen gegen Russland haben zahlreiche Wanderarbeiter aus Zentralasien, deren Familien auf ihre Geldüberweisungen angewiesen sind, ihre Stellen verloren. Diese Faktoren machen nicht nur den Kampf um das Ferghana-Tal noch wichtiger, sondern treiben auch die korrupten und superreichen herrschenden Klassen von Tadschikistan und Kirgisistan dazu, die massive soziale Unzufriedenheit in nationalistische und militärische Kanäle zu lenken.

Angesichts des Debakels in der Ukraine steht die Fähigkeit Moskaus, den Konflikt zwischen seinen beiden oft unbeständigen Verbündeten zu bewältigen, zunehmend in Frage. Am Wochenende appellierte der russische Präsident Wladimir Putin an beide Seiten, zu „deeskalieren“ und „friedliche, politische und diplomatische Wege“ zu finden, um ihre Differenzen beizulegen.

Doch trotz dieser verhaltenen Reaktion versucht der Kreml, seinen Einfluss in diesen geostrategisch und wirtschaftlich wichtigen Gebieten aufrechtzuerhalten. Einige Wochen vor der derzeitigen Krise traf sich Premierminister Michail Mischustin mit dem Vorsitzenden des kirgisischen Kabinetts Akylbek Japarow, um „die Unterzeichnung eines neuen wirtschaftlichen Kooperationsprogramm für 2022–26 zu beschleunigen, das die Beziehungen weiter ausbauen und das Handelsvolumen sowie das Ausmaß der gemeinsamen Investitionen erhöhen wird“. Die russischen Staatsmänner erklärten, der Kreml sei „sehr daran interessiert, die Kooperation mit Kirgisistan in alle Richtungen auszubauen“ und bezeichneten dies als „notwendig.“

Kirgisistan und Tadschikistan besitzen zwar wenig Ackerland, aber beide verfügen über beträchtliche Vorkommen an Gold und Eisenerz sowie weitere für die Industrie wichtige Metalle. Aufgrund ihrer Lage bieten beide Länder mögliche Transitstrecken für die Lieferung von Öl und Gas in Gebiete, die ansonsten stark von Seewegen abhängig sind.

Vor kurzem einigten sich Kirgisistan, China und Usbekistan bei einem Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit darauf, den lange verschobenen Plan in Angriff zu nehmen, eine Eisenbahnverbindung zwischen China und dem Nahen Osten zu bauen, bei der Russland umgangen wird. Die zunehmend engere Beziehung der Regierung in Bischkek zu Beijing stellt auch eine Abhängigkeit dar, da sie den Großteil ihrer Auslandsschulden in Höhe von 5,1 Milliarden Dollar chinesischen Banken schuldet.

Gleichzeitig verfolgen die imperialistischen Mächte, die schon lange in Kirgisistan und Tadschikistan aktiv sind, immer stärker eigene Ziele. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat erst vor kurzem die ehemalige Anführerin der von den USA unterstützten Tulpenrevolution in Kirgisistan, Rosa Otunbajewa, zur Sonderbotschafterin in Afghanistan ernannt.

Die Krise in diesem Land, die auf die blutige Besatzung der USA während der letzten 20 Jahre und die jüngste Rückkehr der Taliban an die Macht in Kabul zurückgeht, destabilisiert ganz Zentralasien. Eine besonders große Bedrohung stellt sie für Russland dar, das einen großen muslimischen Bevölkerungsanteil hat.

Der Kreml ist sich bewusst, dass Washington seit langem den islamischen Fundamentalismus benutzt, um Russland zu destabilisieren. Er fürchtet zu Recht, dass die wachsende Macht und der zunehmende Einfluss dieser Bewegung benutzt werden, um separatistische Bewegungen im Süden und Südwesten des Landes zu schüren. Der Oberste Gerichtshof Russlands hat gerade die wichtigste Oppositionspartei Tadschikistans als „terroristische“ Bewegung eingestuft.

Am Montag erklärte Kirgisistan, unter den Truppen, die das tadschikische Militär am Wochenende in sein Territorium geschickt hat, hätten sich auch militante Islamisten befunden.

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