NHS-Streik in Großbritannien

Pflegekräfte und Sanitäter stehen Regierung, Militär und Gewerkschaftsführung gegenüber

Nach dem Ausstand der Pflegekräfte des britischen National Health Service (NHS) am letzten Donnerstag – dem ersten derartigen Streik in der Geschichte des Landes – streikten am Dienstag erneut Zehntausende. Am Mittwoch werden mehr als 10.000 Sanitäter ebenfalls die Arbeit niederlegen.

Die Beschäftigten des Gesundheitswesens kämpfen gegen eine massive Senkung der Reallöhne, die ihnen die Sunak-Regierung aufzwingen will – eine nominelle durchschnittliche Erhöhung um vier Prozent, zehn Prozentpunkte unterhalb der Inflationsrate des Einzelhandelspreisindex. Die extrem niedrige Bezahlung beim NHS hat zu verheerendem Personalmangel geführt, sodass das Personal bis zur Erschöpfung überarbeitet ist und sich das Gesundheitswesen in einer Dauerkrise befindet.

Streikposten von Pflegekräften des National Health Service in Bath während des landesweiten Streiks am 15. Dezember 2022

Die Streiks finden trotz der Versuche der Gewerkschaftsbürokratie statt, sich mit der Regierung auf einen Ausverkauf zu einigen. Die Gewerkschaftsführung hat deutlich gemacht, dass sie die Streiks nur widerwillig genehmigt. Die Generalsekretärin der Gewerkschaft Royal College of Nursing (RCN), Pat Cullen, erklärte vor dem Streik letzte Woche: „Wir handeln sehr schweren Herzens.“ Der Times erklärte sie, der Grund für ihren Beitritt zum RCN sei gewesen, dass es „im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften des Gesundheitswesens ausdrücklich auf Streiks verzichtet“.

Die Leiterin der Gesundheitssparte, Sara Gorton, fügte hinzu: „Die Sanitäter und ihre Kollegen im Gesundheitswesen wollen niemandem Unannehmlichkeiten bereiten.“ Die nationale Sekretärin der Gewerkschaft GMB, Rachel Harrison, erklärte über das NHS-Personal: „Das Letzte, was sie wollen, ist ein Streik.“

Dieser entschuldigende Tonfall treibt die Beschäftigten des Gesundheitswesens in eine defensive Haltung. Sie entspricht keineswegs der Stimmung in der Arbeiterklasse, deren große Mehrheit die NHS-Beschäftigten unterstützt. Der Rückhalt der Bevölkerung ist so stark, dass sich einige konservative Abgeordnete öffentlich gegen die Regierung gestellt und Premierminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Steve Barclay aufgefordert haben, die Lohnverhandlungen wieder aufzunehmen.

Sunak und Barclay ignorierten dieses Hin und Her und bekräftigten, dass es keine weiteren Diskussionen über höhere Löhne geben wird. Zuvor hatte der COBRA-Notfallausschuss Pläne ausgearbeitet, am Mittwoch 600 Militärangehörige als Krankenwagenfahrer zu mobilisieren. Weitere 600 Soldaten sollen am Freitag die streikenden Grenzschutz- und Zollbeamten ersetzen.

Das Letzte, was die Gewerkschaftsbürokratie will, ist die Massenmobilisierung der Bevölkerung hinter einen mächtigen Streik, der als Speerspitze einer breiteren Streikwelle im „Winter der Unzufriedenheit“ dienen könnte und das Zentrum eines Kampfs gegen die illegitime Tory-Regierung und ihren Austeritätskurs bilden würde.

Zahlreiche Betriebe wurden schon vom Streik ausgeschlossen, noch bevor er überhaupt begonnen hatte, weil die Schwellenwerte für die Urabstimmungen nicht erreicht wurden. Diese Werte werden von streikfeindlichen Gesetzen festgelegt, an die sich die Gewerkschaftsbürokratie hält. Das RCN beschränkte die Aktionen dann auf die Hälfte der Betriebe, in denen die Werte erreicht wurden.

Der Times zufolge konnten letzen Endes „nur ein Zehntel der 100.000 streikberechtigten Pflegekräfte streiken. Die Gewerkschaftsbosse äußerten ihre Besorgnis, über ,Krankenhäuser, die das Pflegepersonal fast durch Mobbing zur Arbeit bewegen wollten‘.“

Statt Aktionen zu organisieren, konzentrieren sich die Gewerkschaftsführungen darauf, in Hinterzimmergesprächen einen faulen Kompromiss mit der Regierung auszuhandeln. Der Streik vom letzten Dienstag begann im Schatten eines Kapitulationsangebots des RCN am Wochenende zuvor, in dem die Gewerkschaft versprach, den Streik nur unter der Bedingung zu beenden, dass die Regierung an den Verhandlungen teilnimmt und über höhere Löhne diskutiert.

Es folgten noch weitere derartige Appelle. Am Freitag veröffentlichte die Times ein Interview mit Cullen, in dem diese erklärte: „Meine Botschaft an den Minister lautet, er kann den zweiten Streiktag verhindern, wenn er diesmal zu Verhandlungen erscheint...“

Harrison erklärte: „Die Regierung könnte diesen Streik sofort beenden, aber sie müssen aufwachen und anfangen, über Löhne zu verhandeln.“

Die Generalsekretärin von Unite, Sharon Graham, beschwor die Regierung: „Die Minister müssen sich aufraffen und ernsthaft über Löhne verhandeln, andernfalls wird dieser Streik nächste Woche ausgeweitet.“

Graham und Gorton stellten die Deals, die sie in Schottland mit der amtierenden Scottish National Party abgeschlossen hatten, als Beispiel für den Weg vorwärts dar. Graham argumentierte: „Dort ist die Regierung an den Verhandlungstisch zurückgekommen, hat ein neues Angebot vorgelegt, und die Streiks wurden abgesagt.“

In Schottland hatten Unison und Unite geplante Streiks der Sanitäter abgesagt, nachdem sie eine Lohnerhöhung um durchschnittlich 7,5 Prozent durchgesetzt hatten, die etwa der Hälfte der derzeitigen Inflation entspricht. Das RCN und das Royal College of Midwives organisieren keine Aktionen in Schottland, sondern lassen ihre Mitglieder über das gleiche Angebot abstimmen.

Gorton jubelte: „Die Minister in Schottland haben getan, was die Regierung in Westminster hartnäckig verweigert: mit den Gewerkschaften im Gesundheitswesen über bessere Lohnangebote zu reden und Streiks im gesamten NHS zu verhindern.“

Die Regierung hat ihre Haltung jedoch durch dieses Flehen nicht um ein Jota geändert. Barclay schrieb in der Mail on Sunday, sie könne sich „die vom RCN geforderte 19-prozentige Erhöhung für Krankenschwestern einfach nicht leisten“.

Dass die Regierung trotz des massiven Widerstands der Arbeiterklasse so aggressiv auftritt, liegt daran, dass sie die Gewerkschaften im Griff hat. Die Tories glauben, je länger sie warten, desto kriecherischer wird die Bürokratie die Kapitulationsbedingungen unterschreiben.

Laut der Times hat Cullen klargestellt, dass „die Forderung nach einer Lohnerhöhung von fünf Prozentpunkten über der Inflation ein ,Ausgangspunkt‘ sei, was klar darauf hindeutet, dass sich ihre Gewerkschaft auch mit deutlich weniger zufrieden geben würde, wenn Barclay ,ernsthaft und respektvoll‘ über die Bezahlung der Pflegekräfte diskutieren wolle“.

Selbst der Einsatz der Streitkräfte wird den Gewerkschaftsapparat nicht zum Handeln bewegen. Dieser Schritt ist potenziell so brisant, dass der Chef des Verteidigungsstabs, Admiral Sir Tony Radakin, gegenüber dem Telegraph erklärte, es sei „etwas gefährlich“, das Militär als „ freie Kapazität“ für streikende Arbeiter zu betrachten. Cullen hingegen tat den Militäreinsatz als „weiteres Beispiel für das machohafte Vorgehen“ ab.

Eine Bürokratie, die keinen Kampf organisiert, um die Löhne an die Inflation anzugleichen, wird auch nichts unternehmen, um den NHS und die Sozialfürsorge vor dem Zusammenbruch durch ein Finanzierungsdefizit in dreistelliger Milliardenhöhe und die Auswirkungen der anhaltenden Pandemie zu retten.

Der Erfolg hängt davon ab, dass sich die NHS-Beschäftigten eine sozialistische Perspektive zu eigen machen. Dazu gehören die Forderung nach garantierter, qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung für alle und ein Ende der zunehmenden Privatisierung, sowie der Aufbau einer neuen Führung. Ein echter Kampf gegen die Tory-Regierung erfordert, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. An allen NHS-Arbeitsstellen müssen Aktionskomitees gegründet werden, die sich der Mobilisierung einer vereinten Bewegung von Millionen Arbeitern in ganz Großbritannien und der Welt widmen. Diese Arbeiter nehmen gerade den Kampf gegen den gleichen Kriegs- und Sparkurs auf, den auch die Tories verfolgen.

Die Socialist Equality Party (SEP) veröffentlichte am 14. Dezember einen Aufruf mit dem Titel: „Für einen Generalstreik zur Unterstützung der Pflegekräfte und zur Verteidigung des NHS gegen die Tory-Regierung: Baut Aktionskomitees auf!“ Dort erklärte die SEP, dass „der Kampf gegen den seit langem schlimmsten Anstieg der Lebenshaltungskosten die Arbeiter in eine offene Konfrontation mit dem kapitalistischen Staatsapparat und der Regierung treibt“. Die Regierung, so die SEP, „ist entschlossen, die Arbeiterklasse für die Rettung der Großkonzerne während der Pandemie, für den eskalierenden Krieg gegen Russland in der Ukraine und auch für die Wirtschaftskrise zahlen zu lassen, die durch die steigenden Öl-, Gas-, Mineralien- und Lebensmittelpreise und das Profitstreben der Konzerne entstanden ist“. Weiter heißt es:

„Der Kampf der Pflegekräfte zeigt, wie dringend es ist, einen Generalstreik zum Sturz der Tory-Regierung zu organisieren. Die Regierung ist entschlossen, den NHS zu zerschlagen und die aktuellen Streiks im Gesundheitswesen, bei der Bahn, der Royal Mail, im Bildungswesen und anderen wichtigen Branchen zu unterdrücken.“

„Doch ein Generalstreik ist nur durch einen politischen und organisatorischen Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie zu erreichen, die alle Kämpfe zu isolieren und zu sabotieren versucht. Er muss sich genauso gegen die Labour Party richten, die gemeinsam mit den Tories im Dienst der Konzerne und Banken steht.“

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