Streulicht – ein erfrischender Blick auf die Klassengesellschaft

Deniz Ohde, Streulicht, Verlag: Suhrkamp, 2020

Vor zwei Jahren erschien der Debütroman Streulicht von Deniz Ohde, der einen erfrischenden Blick auf die deutsche Klassengesellschaft wirft.

Der Roman erhielt den aspekte-Literaturpreis des ZDF sowie den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung, war auf der Shortlist des Preises des Deutschen Buchhandels, wurde mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt und im vergangenen Jahr als Bühnenstück inszeniert.

Das Buch reiht sich ein in eine literarische Tendenz, die wieder den Blick auf das Leben von Arbeitern richtet.

Deniz Ohde, 1988 als Tochter eines Chemiearbeiters und einer türkischen Mutter in Frankfurt a.M. geboren, lässt zu Beginn ihres autobiografisch gefärbten Romans die Ich-Erzählerin für einen kurzen Besuch in ihr Vaterhaus zurückkehren.

Bruchstückhaft werden die Erinnerungen schon beim Überschreiten der Ortsgrenze auf ganz unmittelbare, sinnliche Weise wachgerufen. „Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt.“ Man riecht die unmittelbare Nachbarschaft zu einem Chemie-Park, den die Leser unschwer als den Industriepark Höchst auf dem Gelände der früheren Farbwerke Hoechst AG erkennen.

Doch es sind nicht nur der säurehaltige Geruch, das permanente Brummen und das diffuse Streulicht, welches der Industriepark nachts über seine Umgebung gießt, mit denen der Park den in seiner Nachbarschaft lebenden Menschen seinen Stempel aufdrückt, oder die regelmäßigen Chemieunfall-Übungen, die den Rhythmus prägen, die vom Industriepark ausgegebenen Gutscheine an die Bevölkerung, wenn die Luft zu stark verschmutzt ist, oder der Gestank seiner Müllverbrennungsanlage.

Auch vielfältige Erfahrungen von Diskriminierung und Unterdrückung, von Scham und Hilflosigkeit brechen mit aller Macht hervor ... „mein Gesicht verändert sich am Ortsschild“. Mimik und eine andere Art des Gehens, eine „ängstliche Teilnahmslosigkeit“ sollen bewirken, „dass man mich übersieht“.

Deniz Ohde am 24. September 2021 in Oberhausen bei einer Lesung aus ihrem Roman "Streulicht" [Photo by Udoweier / CC BY 4.0]

Vordergründig erzählt Deniz Ohde vom erdrückenden Weg durch die Institution „Bildung“, ihrem Scheitern auf dem sogenannten ersten Bildungsweg. Doch von Anfang an verbindet sich diese Erfahrung mit den tieferen Ebenen der gegenwärtigen Gesellschaft, die Ohde durch eine reiche Bildersprache, mal poetisch malerisch, mal temporeich rhythmisch oder hintersinnig humorvoll anklingen lässt.

Während die beiden Kindheits- und Jugendfreunde der Ich-Erzählerin, Pikka und Sophia, unbeschwert von der einen in die nächste Klassenstufe gespült werden, verhindert ihr schlechtes Zeugnis die Versetzung in die höhere Klassenstufe. Das Urteil „Muss die Schulform verlassen!“, katapultiert sie endgültig aus der Gemeinschaft der Freunde. Das Scheitern führt zunächst zu Schock, Zusammenbruch und Depression – allmählich jedoch zu Verstehen und selbstbewusster Gegenwehr.

„Es war keine Identität, die sich herausbildete, sondern eher wurde sie mir entzogen …“,ist ihre Zwischenbilanz, die ein großer Teil von Ohdes Leserschaft kennen dürfte, sei es aus eigener Jugenderfahrung, als engagierte Pädagogen oder als hilflose Eltern, die ihren verzweifelten Kindern gegenüberstehen, wenn sie die Schule verlassen müssen. Wie ein Puzzle setzt Deniz Ohde Bruchstücke zusammen und demonstriert den Zusammenhang zwischen Armut und sogenannter Bildungsferne.

Die Frage der Identität, die Frage „Wer bin ich?“ durchzieht das ganze Buch. „Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren, rußgeboren“ – steht sinnbildlich für Millionen Kinder der Arbeiterklasse. „Schaumgeboren“ – das sind die Freunde aus besserem Hause und Akademikerkreisen, verkörpert durch Sophias Mutter oder Pikkas Vater, der einen hohen Posten im Chemiekonzern bekleidet.

Wie gerne wäre die Erzählerin ihrer Freundin Sophia gleich gewesen. Der schicke Schulranzen, das blonde Haar weich hochgesteckt, umsorgt von einer Mutter, die nicht nur nach dem Schulalltag fragt und auf eine ausgewogene, gesunde Ernährung der Familie achtet. Sophia erhält kostspielige Reitstunden und Ballettunterricht, die die Mutter unerlässlich für eine „umfassende Bildung“ hält.

Man erinnert sich unwillkürlich an Victor Hugos Die Elenden, wenn Deniz Ohde vor dem geistigen Auge des Lesers diese typische Vertreterin der selbstgefälligen oberen Mittelschicht lebendig werden lässt. „Sophias Mutter kam leise die Treppe herunter. Bei jedem Schritt schob sie mit einer eingeübten Bewegung die birnenhaften Hüften nach vorn, aus denen trotz aller Weichheit eine Festigkeit im Leben sprach: die Abende beim Volleyball, die sie sich schon in ihren frühen Zwanzigern angewöhnt hatte, die Vorliebe für dunkles Brot. Sie trug Pullover aus melierter Wolle und eine Brille mit roten Metallbügeln, zwei dünne Stege über der Nasenwurzel, kein Rand um die Gläser.“

Stolz verweist sie auf ihre kurze Berufstätigkeit: „Damals in der Bank“ soll die gelernte Bankkauffrau ausweisen als jemanden, die sich auskennt, die sich abhebt von den Hausfrauen in der Straße. Geradlinig, mit sportlich-energischem Elan organisiert sie ihr Leben, wie sich beispielhaft anhand der im Bad vorgefundenen, gut sortierten Hygiene- und Kosmetikartikel zeigt, aus dem „ein sicheres Frausein“ spricht. Ihr sauber eingefasstes Gartenparadies, mittendrin das weißgestrichene Einfamilienhaus, sauber, duftend, aufgeräumt, lässt die Nähe des Industrieparks beinahe vergessen.

Ganz anders das Elternhaus der Erzählerin. In der Mietwohnung des Mehrfamilienhauses verdichten sich Rauch und Gestank der Zigaretten des Vaters und seiner Alkoholausdünstungen. Wenn sie nach Hause kommt, gibt es keine Frage nach dem Wie-es-in-der-Schule-war. In der Wohnungstür sucht sie stattdessen nach den kaum sichtbaren Zeichen: Hat der Vater wieder getrunken? Schläft er oder steht eine trunkene Wutexplosion noch bevor? Wird sie die ängstliche Mutter in der Küche beim Aufkehren der zu Bruch gegangenen Gläser entdecken?

Leise-Sein, Auf- Zehenspitzen-Gehen gehören zum Überlebenskonzept in der von Armut, Verzweiflung und Bitternis geprägten elterlichen Wohnung. Zugleich entsprechen sie dem Überlebenskonzept in der Außenwelt, wo sie ebenfalls möglichst unauffällig sein möchte.

Schließlich trägt sie auch das Stigma der „türkischen Wurzeln“ ihrer Mutter mit sich – in der Farbe und Dichte ihres Haares, in der Form der Augenbrauen. Die Mutter hatte als junge Frau ihr kleines Heimatdorf und die sie prügelnde Mutter verlassen, war ohne Ausbildung und Deutschkenntnisse im Rhein-Main-Gebiet gestrandet. Seither rackerte sie sich ab, außer Haus als schlecht bezahlte Putzfrau, daheim als Putzfrau und Köchin für Ehemann und Schwiegervater. Die Lehrer behandeln ihre Tochter als Ausländerin, obwohl sie die Sprache ihrer Mutter gar nicht sprechen kann. Nur ihr Name, ihr „geheimer Name“, den ihre Mutter nur leise und in der Wohnung benutzt und den (mit Ausnahme des Vaters und der beiden Freunde) keiner kennt, verbindet sie mit der Sprache ihrer Mutter.

Es ist die Zeit nach der Wiedervereinigung, die Zeit der brennenden Flüchtlingsheime. Schmierereien an Häuserwänden will ihre Mutter aber nicht übersetzen. „Du bist Deutsche, ... du kannst nicht gemeint sein“, beschwört sie sich selbst und ihre Tochter, als diese von einem älteren Mitschüler rassistisch beleidigt und so schwer gestoßen wird, dass sie stürzt und sich verletzt. Auch die Schulkrankenschwester und Klassenlehrerin wiegeln ab, sprechen von einem unglücklichen Zufall. Die Klassenlehrerin gibt der Tochter gar eine Mitschuld an dem Vorfall: „Sie ist zu sensibel“, brauche „ein dickeres Fell“.

Einmal lautete ein Aufsatzthema „Identität“. Nachdem die Erzählerin ratlos auf ihr leeres Blatt blickt, gibt ihr die Lehrerin den Rat, sie habe doch einen Namen, der auf einen türkischen Hintergrund deute.

Doch ihre Identität ist nicht ethnischer, sondern sozialer Natur. Nicht Rassen-, sondern Klassenfragen prägen ihren Weg. „Wer bin ich?“, fragt sie sich auch später, als es ihr über den Umweg des sogenannten zweiten Bildungswegs und gegen alle Widerstände gelingt, das Abitur zu erlangen und ein Studium zu beginnen. Sie fühlt sich verloren zwischen ihren Kommilitonen, den „Töchtern und Söhnen aus guten 68er-Haushalten“, die mit den „alten Atomkraft?-Nein-Danke-Aufnähern ihrer Eltern“ auch gleich das „Wissen um das richtige Benehmen an der Uni“ geerbt hatten.

Ein zufälliger Blick auf ihr Spiegelbild an einer Glastür lässt ihr bewusstwerden, dass sie „zu denen“ nie dazugehören wird. Als ihr am Abend nach einem Studentenjob als Putzfrau, übermüdet und noch in Arbeitskleidung, am Bahnsteig ein wildfremder Arbeiter beim Ticketautomaten hilft, schlägt ihr die solidarische Freundlichkeit unter Seinesgleichen entgegen.

Je mehr die sozialen Gegensätze bewusstwerden, umso enger und verständnisvoller wird ihre Beziehung zu ihrem Vater, den Deniz Ohde sehr einfühlsam beschreibt. Vor allem mit dieser Figur schafft es die Autorin, den engen Rahmen des Bildungsthemas und einer Erzählung über die Probleme eines Migrationshintergrunds zu sprengen.

Wie schon der Großvater, der im Erdgeschoss desselben Hauses lebt, arbeitet der Vater als Schichtarbeiter im Industriepark. Wie er ist er wortkarg. Beide werden im Laufe der Jahre zu Alkoholikern und der Vater zum „Messi“. Doch als die Tochter ihre Mutter fragt, warum sie trotz seiner Ausfälle und Trunksucht bei ihm bleibt, antwortet diese, er habe es „auch schwer“. Als sie stirbt, will der Vater keine Erde auf dem Grab, sondern Rosenblätter, und keine Tannenzweige, sondern ein Frühlingsblumen-Gesteck. Zum ersten Mal spricht er mit seiner Tochter über die verächtliche Haltung, die ihm in der Schule bei Elterngesprächen entgegengeschlagen war.

Die entscheidende Charakterisierung des Vaters liefert die Autorin bereits auf einer der ersten Seiten: „Vierzig Jahre hat er in derselben Firma gearbeitet, auch darauf kommt er immer wieder zu sprechen. Dieser Arbeiterstolz, gemischt mit Trotz und aus Not geborener Arroganz (das Kinn, das er leicht hebt, die Lider, die einige Millimeter sinken, die Schultern, die er dabei nach unten drückt); mein Vater tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden in der Woche.“

Intuitiv erfasst die Autorin die Auswirkungen der Niederlage jener proletarischen Generation, deren vergangene Errungenschaften mit der Auflösung der Sowjetunion und der Wiedereinführung von Kapitalismus in ganz Osteuropa zurückgedrängt wurden.

Nach Jahrzehnten ideologischen Trommelfeuers über das Ende der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Triumphes des Kapitalismus reflektiert der Roman Streulicht den Beginn einer neuen Entwicklung, der Rückkehr des Stolzes der Arbeiterklasse.

Dass der Vater als „Messi“ gezeichnet wird, der Nahrungsmittel und Billigwaren im Überfluss erwirbt – schließlich seien sie „zweimal ausgebombt“ worden -- und der Kaputtes und Altes nicht wegwerfen, Erinnerungsstücke an seine Familie und geliebte Frau nicht aussortieren will, ist nicht einfach eine Marotte, wie es auf den ersten Blick scheint. Indirekt liefert diese Darstellung auch eine Metapher dafür, dass die Arbeiterklasse ihre Geschichte nicht abschütteln kann und will.

Die beste Empfehlung für diesen Roman lieferte seine gehässige Ablehnung durch rechte Literaturkritiker wie Denis Scheck, der das Lesenswert Quartett leitet, einer Literaturdiskussion des ARD-Fernsehens. Diese „Frau kann nicht denken“, wütete er gegen Deniz Ohde. Sie wolle die „Gründe für ihr soziales Scheitern“ anderen anlasten, statt mal „bei sich selbst anzufangen“. Die jetzige Gesellschaft biete schließlich große Möglichkeiten des Aufstiegs.

Eine Leseprobe und weitere Informationen zum Buch und zur Autorin finden sich hier.

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