Warnstreiks im Öffentlichen Dienst

„Wir sollten uns unserer Macht bewusst sein“

Gestern hatte die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) zu eintägigen Warnstreiks im Öffentlichen Dienst der Kommunen aufgerufen. In Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen beteiligten sich Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr, in Stadtverwaltungen, Kitas, Kliniken und bei Müllentsorgungsbetrieben. Heute legen auch Beschäftigte in Baden-Württemberg die Arbeit nieder.

Ein Ausschnitt der Verdi-Streikdemonstration vom 9. Februar 2023 in Berlin

Verdi reagiert damit auf die wachsende Wut in den kaputtgesparten kommunalen Behörden, Einrichtungen und Betrieben. Verdi fordert in den aktuellen Tarifverhandlungen für über 2,5 Millionen Beschäftigte lediglich Lohn- und Gehaltserhöhungen von 10,5 Prozent, mindestens aber monatlich 500 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Ausbildungsvergütungen sollen um 200 Euro monatlich erhöht werden.

In der ersten Runde hatten dies die staatlichen Arbeitgeber, vertreten von Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) und der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) barsch zurückgewiesen. Sie wollen eine Nullrunde – bei Preissteigerungen von 20 bis 30 Prozent bei Lebensmitteln und Energie.

In Berlin kamen am Donnerstagmorgen gut 2000 Beschäftigte zur zentralen Kundgebung in der Nähe des Abgeordnetenhauses zusammen, vor allem die Müllwerker der Stadtreinigung (BSR), Pflegerinnen und Pfleger der Charité und Vivantes sowie die Beschäftigten der Berliner Wasserbetriebe. Die BSR-Beschäftigten erschienen demonstrativ in orangefarbener Arbeitskleidung, denn der BSR-Vorstand hatte ihnen verbieten wollen, damit zu streiken.

Ein Ausschnitt der Verdi-Streikdemonstration vom 9. Februar 2023 in Berlin

Doch während sich die Beschäftigten kämpferisch zeigten, versuchte Verdi die Demonstration zu einer Werbeveranstaltung für die Parteien im Abgeordnetenhaus zu verwandeln. Die Gewerkschaft lud verhasste Abgeordnete von SPD, Grünen, Linken, FDP und CDU ein, damit sie sich auf der Kundgebung als Unterstützer der Forderung nach Lohnerhöhungen präsentieren konnten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren sichtlich überrascht und weigerten sich, die Vertreterinnen und Vertreter der Parteien zu begrüßen, wozu sie die Verdi-Sprecherin aufforderte. Die Grünen-Abgeordnete Silke Gebel wurde gar mit Buh-Rufen und Pfiffen empfangen. „Ich bin selbst Mitglied bei Verdi“, rief sie verzweifelt.

Wahrscheinlich sind die Mehrzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses auch Mitglied von Verdi oder einer anderen Gewerkschaft. Verdi vertritt nämlich nicht die Interessen der Beschäftigten, sondern paktiert seit Jahrzehnten mit den Senatsparteien, um die Löhne und Rechte der Beschäftigten zu schleifen.

In Hinterzimmergesprächen ist eine weitere Reallohnsenkung längst beschlossene Sache, denn selbst die Verdi-Forderung bedeutet zehn bis 20 Prozent Kaufkraftverlust. Um das gegen die enorme Wut unter den Beschäftigten durchzusetzen und eine massive Mobilisierung zu verhindern, spalten Verdi und andere Gewerkschaften die Arbeiter. So rief Verdi am Montag die Postler zum Streik auf, am Dienstag und Mittwoch die GEW die Lehrerinnen und Lehrer, Donnerstag und Freitag Verdi nun die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes.

Ein Ausschnitt der Verdi-Streikdemonstration vom 9. Februar 2023 in Berlin

Auf diese Rolle von Verdi wies auch der SGP-Kandidat in der Berlinwahl Ulrich Rippert in seiner Rede hin, die er an die Streikenden richtete. Er erklärte darin, dass der Streik als Teil einer europäischen Streik- und Protestbewegung verstanden werden muss und rief zur Bildung von Aktionskomitees auf, die den Streik unabhängig von den Gewerkschaften in die eigene Hand nehmen.

Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei sprachen in Berlin mit Streikenden und verteilten den Wahlaufruf der SGP sowie ein Flugblatt des Aktionskomitees der Verkehrsarbeiter zur Unterstützung der SGP.

Sara, Nick und Amelie sind Azubis im dritten Lehrjahr an der Charité und bei Vivantes. Sie lehnen die militärische Aufrüstung und die Sparpolitik ab und fordern echte Reallohnerhöhungen. „Ich habe vor einem Jahr noch 35 Euro Strom gezahlt, jetzt sind es 110 Euro“, rechnet Nick vor. „Wie soll man das mit einem Ausbildungsgehalt finanzieren? Obwohl ich das Glück habe, in einer WG zu wohnen, bin ich massiv im Dispo.“ Sara sagt: „Ich wohne noch zuhause, aber ich unterstütze meine Eltern und merke auch, dass viele Dinge nicht mehr leistbar sind. Unter den älteren Kollegen spürt man noch deutlicher, wie die Stimmung ist.“

Alle drei haben ihre Ausbildung im Oktober 2020 mitten in der Corona-Pandemie begonnen. „Ganze Stationen wurden für Corona-Infizierte geschlossen, viele andere Patienten konnten nicht aufgenommen werden“, berichtet Nick. „Es war schwierig, in die Teams integriert zu werden, weil ohnehin zu wenige Leute auf Station sind und es dann noch so viele Corona-Ausfälle gab. Das hat dazu geführt, dass wir nicht mehr durchgängig begleitet wurden. Als wir in der Langzeitpflege eingesetzt wurden, mussten wir ganze Wohnbereiche allein beaufsichtigen. Man fühlt sich schon sehr allein gelassen.“

„Die ganze Ausbildung läuft vorne und hinten nicht, vor allem mit dem neuen Pflegeberufegesetz“, sagt Amelie. „Wir haben eine generalistische Ausbildung, das sind drei Ausbildungen in einer. Es ist aber alles sehr oberflächlich. Wie soll man im Krankenhaus arbeiten, wenn man noch nie eine Infusion vorbereitet hat? Der pädiatrische Anteil dauert nur drei Wochen, und dann kann man sich Kinderkrankenpflegerin nennen. Aber gleichzeitig müssen wir ein ganzes Jahr in einem Altenpflegeheim arbeiten, wo wir alles allein machen. Das ergibt keinen Sinn. Ich war in meinem zweiten Lehrjahr allein zuständig für 15 Patienten. Außerdem gibt es keine Absprache zwischen Schule und Arbeitgeber, was wir alle zu spüren bekommen. Als wir im Abgeordnetenhaus Politiker auf das Gesetz angesprochen haben, wurde uns ins Gesicht gesagt, wir seien ‚die Versuchskaninchen‘.“

Julien und Kira sind Azubis der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) im ersten Lehrjahr und nehmen zum ersten Mal an einem Streik teil. „Es gibt viele Leute, bei denen es nicht zum Leben reicht“, erklärt Julien. „Besonders schwierig ist es für diejenigen, die wie Kira ihre Familie unterstützen müssen. Ich wohne zum Glück noch zuhause, aber meine Mutter hat auch nicht viel Geld.“ Kira kritisiert, dass bei der BVG seit Jahren Subunternehmen eingesetzt werden, um Löhne massiv zu kürzen, und berichtet: „Nach Abzug der Miete habe ich für den Monat nur noch 170 Euro zur Verfügung.“

Zum Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den Nato-Mächten in der Ukraine sagt Julien: „Ich finde es schlimm, wie von unserer Regierung Öl ins Feuer gegossen wird. Es ist wichtig, den Krieg zu beenden, aber das macht man nicht durch Waffenlieferungen.“

Tabea

Der Streik wird auch von vielen Studierenden unterstützt, die an der Kundgebung teilnehmen. Eine von ihnen ist Tabea, die Bildungswissenschaften studiert. Sie sagt: „Ich bin aus Solidarität zum Streik gekommen, weil ich über die schlechten Arbeitsbedingungen und Löhne im öffentlichen Dienst und vor allem in den sozialen Bereichen sehr besorgt bin. Wenn es so weitergeht, dann geht alles den Bach runter.“

Michael

„Zehn Prozent mehr Lohn klingt erst mal gut und klingt nach viel Geld“, sagt Michael, der bei der BSR arbeitet. Ab er ist misstrauisch. „Angesichts der Inflation können wir aber nicht froh sein, wenn wir uns bei 5 Prozent ‚in der Mitte treffen‘. Wenn es dann noch über mehrere Jahre gestreckt wird, stehen wir mit zwei bis drei Prozent da. Ich begreife nicht, warum da nicht mehr möglich sein soll. Man sollte mit doppelt so hohen Forderungen in die Verhandlungen gehen.“

Er war früher als Leiharbeiter bei BMW tätig und habe dort gelernt, „dass die Wirtschaft und die Politik genau gleich funktionieren, das hat mich abgestoßen“. „Es macht mich wütend, dass nur die großen Konzerne von der Regierung unterstützt werden. In der Corona-Zeit wurde klar, dass Gesetze nach Bedarf einfach geändert und gekippt werden können. Seitdem macht BWM enorme Profite, von denen stolz auf Betriebsversammlungen berichtet wird. Neu eingestellt wird aber niemand.“

Die Arbeiter im öffentlichen Sektor haben eine besondere Machtposition, meint Michael: „Die Mülllabfuhr müsste nur zwei Wochen die Arbeit einstellen, dann hätten wir die 10 Prozent. Ich glaube, wir sollten uns unserer Macht bewusst sein. Aber viele der oberen der Gewerkschaften haben nur das Interesse, den Arbeitgebern in den Arsch zu kriechen, damit sie selbst wieder mehr einstecken können. Es ist zum Kotzen.“

Michael beklagt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. „Es ist offensichtlich, dass sie uns einseifen wollen. Die Energiepauschalen können sie sich sonst wohin stecken – mit diesen Einmalzahlungen wird es uns in Zukunft auch nicht besser gehen.“

„Wir haben unzählige Probleme auf dieser Erde“, fährt er fort. „Derzeit ist es der Krieg in der Ukraine, aber es kann noch viel schlimmer werden. Die USA und Deutschland liefern Waffen an die Ukraine und profitieren massiv davon. Es sieht nicht so aus, als ob der Krieg in den nächsten Jahren enden würde. Ich denke, dass ein dritter Weltkrieg gewissermaßen schon begonnen hat. Wo zieht man die Grenze? Schon jetzt ist ganz Europa in der Ukraine involviert, ebenso die USA. Auch in China und dem ganzen Osten droht Krieg.“

Er wird am Sonntag die SGP wählen: „Meine Stimme habt ihr auf jeden Fall, und ich hoffe, dass es noch viele weitere werden. Eure Plakate sind die einzigen, die mich angesprochen haben. Ich ertrage die inhaltslosen Phrasen auf den anderen Plakaten nicht mehr. Ihr setzt die richtigen Themen und stellt richtige Forderungen auf. Jetzt muss es darum gehen, sie durchzusetzen. Dafür brauchen wir definitiv eine Massenbewegung: Wir müssen verstehen, dass wir alle zusammen etwas erreichen können.“

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