73. Berlinale

Tár: Ein Drama in der Welt der klassischen Musik

Am 23. Februar zeigt die diesjährige Berlinale die deutsche Premiere des amerikanischen Filmdramas Tár, der in den folgenden Tagen auch in die deutschen Kinos kommt. Wir veröffentlichen hier die Besprechung, die bereits am 28. Dezember auf der englischsprachigen Ausgabe der World Socialist Web Site erschienen ist.

Cate Blanchett in Tár

Der Film Tár – Drehbuch und Regie Todd Field – ist ein Drama über eine weltberühmte Dirigentin klassischer Musik, die durch einen üblen Sexskandal zu Fall gebracht wird. Was auch immer überwiegt, die Vorzüge oder die Schwächen, es handelt sich um einen ernsten und sehenswerten Film.

Die Protagonistin Lydia Tár (Cate Blanchett), geboren im New Yorker Stadtteil Staten Island, ist die erste weibliche Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker. Sie kann eine lange Liste akademischer und professioneller Erfolge vorweisen. Doch dank einer gehässigen ehemaligen Partnerin und der anzüglichen, klatschsüchtigen Boulevardpresse wird sie von den Folgen einer früheren unglücklichen Beziehung eingeholt.

Todd Field (u.a. Regisseur von In the Bedroom und Little Children) greift mehrere wichtige Themen auf: den Zustand der zeitgenössischen klassischen Musikwelt, die Beziehung zwischen dem Künstler als zwangsläufig unvollkommenem Menschen und seiner oder ihrer Kunst sowie die #MeToo-Kampagne und ihre Auswirkungen auf das Kulturleben.

Als wir Tár in New York bei einem Interview mit Adam Gopnik vom Magazin New Yorker begegnen, der sie als „eine der wichtigsten Musiker-Darstellerinnen unserer Zeit“ bezeichnet, ist sie offensichtlich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.

Gopnik merkt an, dass Társ Mentor der Dirigent Leonard Bernstein war, der brillante amerikanische Dirigent und Komponist. Das Wichtigste, was sie von Bernstein gelernt habe, erklärt Lydia, sei es, „auf die Bedeutung und die Absicht zu achten. Was sind die Prioritäten des Komponisten, was sind deine?“ Sie bereitet sich darauf vor, eine Live-Aufführung von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie aufzunehmen.

Im Gespräch räumt Tár sich selbst - wortgewandt, aber egoistisch und zuweilen unerträglich - fast gottgleiche Kräfte als Dirigentin ein: „Die Zeit ist das Entscheidende bei der Interpretation. Ohne mich wird nicht angefangen. Ich setze die Uhr in Gang.“

Nina Hoss in Tár

Von hier aus arbeiten Field und Blanchett (für die Field das Drehbuch geschrieben hat) daran, Társ professionelle Qualitäten und ihre menschlichen Schwächen, vor allem Letztere, zu schildern.

Lydia betrügt ihre Frau, die Konzertmeisterin des Berliner Orchesters, Sharon Goodnow (Nina Hoss), mit der sie eine Adoptivtochter hat. Es wird angedeutet, dass Tár offenbar mehrere Affären hat. Sie begehrt mehrere junge Frauen, darunter die aufstrebende russischstämmige Cellistin Olga Metkina (Sophie Kauer), deren musikalische Karriere sie fördert.

Tár macht kurzen Prozess mit ihrem Vorgänger in Berlin, Andris Davis (Julian Glover), und einem finanziellen Unterstützer und aufstrebenden Dirigenten, Elliot Kaplan (Mark Strong). Sie schüchtert ein Mädchen ein, das ihre kleine Tochter Petra in der Schule mobbt. Tár versucht durch ungehobelte Manöver einen unerwünschten Assistenzdirigenten, Sebastian Brix (Allan Corduner), loszuwerden. Sie schafft es jedoch nicht, die Position mit ihrer Assistentin und ehemaligen Geliebten, Francesca Lentini (Noémie Merlant), zu besetzen, wie diese erwartet hatte. Das soll später üble Folgen für Tár selbst haben. Ihre Täuschungen erstrecken sich sogar auf das Alltagsleben: Nachdem sie auf der Straße hingefallen ist und sich verletzt hat, behauptet sie, sie sei brutal überfallen worden.

Der ernsteste Vorfall ist der Selbstmord einer weiteren ehemaligen Geliebten Lydias, der aufstrebenden Dirigentin Krista Taylor (Sylvia Flote, die nur in Társ Erinnerungen und Träumen auftaucht). Sie hinterlässt zahlreiche Anschuldigungen gegen Tár. Der genaue Charakter der Beziehung und der Trennung wird nicht klar, aber man sieht E-Mails von Tár, in denen sie anderen Orchestern rät, sich von Taylor fernzuhalten: „Ich muss Sie warnen, dass die Einstellung von Ms. Taylor für Ihr Orchester eine Gefahr bedeutet.“

Es lässt sich nicht feststellen, ob Krista wirklich labil und „gefährlich“ war oder ob Tár nur rachsüchtig war. Jedenfalls führt nun die geringschätzige Behandlung von Francesca dazu, dass die jüngere Frau die belastenden E-Mails an die Medien weitergibt, was sich als Társ Ruin erweist.

Lydia kann berechnend und egoistisch sein, sie hält sehr viel von sich, setzt sich über diejenigen hinweg, die ihr dies erlauben, und genießt offensichtlich das „gute Leben“, während sie im Wesentlichen zwischen New York und Berlin pendelt. Das alles macht sie für den Zuschauer als Mensch nicht sympathisch.

Field zeichnet ein insgesamt unattraktives Gesamtbild der zeitgenössischen Musikwelt. Die Individuen, die wir näher kennen lernen, scheinen größtenteils von kleinlichen Zielen wie Karriere, Prestige, Geld und persönlichem Komfort beherrscht zu sein. Wohlstand bestimmt das Geschehen, das sich (mit einer bemerkenswerten Ausnahme) in teuren Wohnvierteln und Hotels, schicken Büros, Erste-Klasse-Abteilen von Flugzeugen und Limousinen und so weiter abspielt. Es ist viel Glanz und Glamour zu sehen, und für künstlerische Ziele und Anliegen bleibt relativ wenig Raum.

Man gewinnt nicht den Eindruck, dass Társ Jargon, ihre Angeberei, ihre nahezu machiavellistischen Manöver und ihre Kälte eine besondere Ausnahme darstellten. Sie zeigt sich einfach bis zu einem gewissen Grad als die Geschliffenste und Effektivste.

Todd Field wirft hier die wichtige Frage auf, welche zersetzenden Auswirkungen die Promikultur hervorruft. Der Film zeigt die Korruption, den geldgeilen Karrierismus, den Opportunismus und allgegenwärtigen Zynismus und die zerstörerischen Folgen. 

Ist Lydia Tár eine große Musikerin? Das lässt sich anhand dessen, was wir sehen, nur schwer beurteilen: Ausschnitte von ihr beim Dirigieren, beim Leiten von Proben, beim Komponieren am Klavier. Zumindest gibt es hier genug, was auf eine äußerst begabte Person schließen lässt. Der Film stützt sich eindeutig auf Bernsteins Handlungen und Worte, insbesondere bei den Proben, und scheint Aspekte der Technik, des Wissens und der Inspiration, die mit dem Dirigieren verbunden sind, einzubeziehen.

Field ist sich offenbar einiger großer Widersprüche in Társ Leben bewusst. Sie spricht eloquent über die emotionale Kraft der Musik, doch ihre Gespräche selbst sind kühl, exklusiv und vom Fluss des Lebens entfremdet. Ihr physisches Umfeld wirkt steril und antiseptisch. Nahezu alle ihre Beziehungen, so behauptet Sharon – ob angemessen oder nicht –, sind „transaktional“ und dienen gegenseitigem beruflichen Nutzen.

Tár wird letzten Endes nicht so sehr von der #MeToo-Hexenjagd verheerend beschädigt – diese ist lediglich der Anlass für ihren beruflichen Niedergang –, sondern durch ihre Abkehr von den Idealen, mit denen Bernstein und andere sie anfangs inspiriert hatten. Eine spätere Szene ist in dieser Hinsicht entscheidend: Sie kehrt in Schande in das Haus ihrer Familie aus der unteren Mittelschicht auf Staten Island zurück und sieht sich unter Tränen ein Video von einem der Young People's Concerts von Bernstein an.

Tár

Zudem ist es ein Verdienst von Field, dass er zumindest teilweise #MeToo thematisiert. In einer der anfänglichen Szenen des Films trifft Tár während einer Unterrichtsstunde an der Juilliard School, einem führenden Konservatorium für darstellende Künste in New York, einen Studenten namens Max (Zethphan D. Smith-Gneist), der erklärt, dass er „nicht wirklich auf Bach steht“, und weiter: „Als BIPOC [schwarze, indigene farbige Person] und Pangender würde ich sagen, dass Bachs frauenfeindliches Leben es mir eigentlich unmöglich macht, seine Musik ernst zu nehmen.“ Als Lydia fragt, was er damit meine, antwortet Max: „Na, hat er nicht zwanzig Kinder gezeugt?“ Später fügt er hinzu: „Weiße, männliche Cis-Komponisten sind einfach nicht mein Ding.“

Die Argumente sind erschreckend, aber sie stammen nicht von dem fehlgeleiteten Max. Die ignorante, philisterhafte Zurückweisung von Shakespeare, Bach, Dickens und anderen großen Namen wird von politischen und wirtschaftlichen Motiven angetrieben. Eine ganze Schicht des Kleinbürgertums ist bereit, einige der größten Errungenschaften der Weltkultur abzuschreiben, um einen besseren Platz an der Sonne zu bekommen.

Tár findet Max' Argumente beängstigend und „roboterhaft“. Sie erklärt zu Recht: „Wenn Bachs Talent auf sein Geschlecht, sein Geburtsland, seine Religion, seine Sexualität, etc. reduziert werden kann, dann ist das auch bei dir möglich.“

Später fragt sie in einem Gespräch mit Andris Davis, den sie als Dirigent der Berliner Philharmonie abgelöst hat, zaghaft (und offensichtlich mit Krista Taylor im Hinterkopf): „Hatten Sie jemals ein Problem mit einem Schüler oder Kollegen? War diese Person ...?“ Davis denkt sofort, jemand habe sich über ihn beschwert und erklärt: „An diesem Punkt hat man eine Chance verpasst. Ich bin raus aus dem Spiel. Gott sei Dank musste man mich nie wie Jimmy Levine vom Podium zerren ... oder jagen wie Charles Dutoit.“ Die beiden bekannten Dirigenten Levine und Dutoit gehörten zu den ersten Opfern der anhaltenden sexuellen Hexenjagd. Levine, einer der bemerkenswertesten Operndirigenten der Neuzeit, wurde praktisch in den Tod getrieben.

Angesichts der derzeitigen Atmosphäre ist es wohl nicht überraschend, dass Fields Behandlung des Themas #MeToo etwas zweideutig bleibt. Tár verweist auf die schmutzige Rolle der Boulevardpresse und die Geschwindigkeit, mit der die Leistung eines ganzen Lebens wegen dunkler Episoden in der Vergangenheit zerstört wird. Allerdings ist nicht klar, welche Schlüsse wir daraus ziehen sollen. Sharon reagiert recht frömmlerisch, wenn auch verständlich, und hindert Lydia sogar daran, ihr Kind zu sehen.

Selbst mit dieser zurückhaltenden Behandlung der #MeToo-Thematik hat Tár diejenigen verärgert und sogar erzürnt, die auf den Druck der Rassen- und Genderpolitik empfänglich reagieren. Richard Brody vom New Yorker attackiert Tár als „regressiven Film, der gegen die so genannte Cancel Culture austeilt und die so genannte Identitätspolitik verspottet“. Der Film stelle Max als „lächerlich“ dar, „der sagt, er könne Bach nicht ernst nehmen, weil er ein Frauenfeind war“. Wenn schon nicht der Student, so wird doch sein Argument völlig zu Recht als lächerlich behandelt.

Phoebe Chen spricht in The Nation (in einem Artikel mit dem Titel „Haben wir uns alle bei ,Tár‘ geirrt?“) über die „zweifelhafte, aber prinzipielle Ablehnung von Bachs Musik durch einen Studenten“. „... prinzipielle Ablehnung“? In welchem Sinn denn? Chen beklagt weiter, der Film sei „von seinem Gefühl des klaustrophobischen Weißseins geprägt, und den Vorurteilen seiner Antagonistin“, und er folge „dem gefesselten kosmopolitischen Blick eines weißen Liberalen“. Das sind Angriffe von rechts.

Eine echte Stärke von Tár ist seine Fähigkeit, auf die Möglichkeit einer Verbindung von hoher Kunst und niederem persönlichen Verhalten hinzuweisen. Beispiele für eine solche Dualität gibt es in Vergangenheit und Gegenwart mehr als genug.

Sophie Kauer in Tár

Natürlich können auch Menschen, die nicht makellos sind, bedeutende Kunstwerke schaffen, aber das hat eindeutig seine Grenzen. Sie können nicht einfach im üblichen Sinne beschränkt sein. Es muss schon ein außergewöhnlicher Funken Kreativität in einer solchen Persönlichkeit stecken, die daneben weniger wünschenswerte Eigenschaften besitzt, wobei diese das Ergebnis des Schadens sind, den die Klassengesellschaft anrichtet.

Noch weniger können Verschlagenheit und Rücksichtslosigkeit in persönlichen und professionellen Beziehungen als Eigenschaften behandelt werden, die unweigerlich mit künstlerischer Größe einhergehen, ja geradezu deren Voraussetzung sind. Manchmal tendiert Field dazu, Társ Überheblichkeit, Snobismus und Schlagfertigkeit als Beweis für ihre künstlerische Brillanz darzustellen.

Im Großen und Ganzen lassen das Drehbuch und Blanchetts Darbietung jedoch auf echtes Können und Gespür schließen, auch wenn die Begleitumstände und ihre eigene Entwicklung dies beeinträchtigen.

Dennoch offenbart der Film Tár neben seinen vielen faszinierenden Qualitäten auch echte Schwierigkeiten bei dem Bemühen, Licht auf die heutige Musikwelt zu werfen. Dabei handelt es sich in beträchtlichem Ausmaß um objektive Probleme, die das Produkt einer Kultur sind, die in den letzten Jahrzehnten nicht gewohnt war, die Gesellschaft oder sich selbst zu kritisieren.

Der Filmemacher distanziert sich nicht ausreichend von der Hauptfigur und ihren Aktivitäten. Der übermäßig empirische, fast dokumentarische Stil, der uns in die Unmittelbarkeit des Geschehens rückt, fördert eine passive, fatalistische Sichtweise: „Natürlich, so sind nun mal die Dinge.“ Selbst wenn viele Kritiker, gelinde gesagt, nicht besonders aufmerksam sind, spricht es nicht für Tár, dass nahezu niemand darin eine Anklage gegen die Kultur sieht. Für die Kritiker ist es eine Frage von Hybris, eines „Genies“, das glaubt, es stehe über dem Gesetz, die Frage einer Künstlerin, die einen hohen Preis für ihre Missetaten zahlt, usw. Einige sehen den Film sogar als eine Bestätigung der öffentlichen Bestrafung im Stil der #MeToo-Kampagne.

Natürlich nimmt Tár ihr Leben und ihre Situation als gegeben hin, aber wir müssen es nicht. Wir sind zu sehr von ihrer persönlichen Anziehungskraft gefangen, übernehmen teilweise sogar ihre Gedanken und Gefühle und verlieren das Gefühl für die sozialen Impulse, die sie und alle anderen antreiben. Alles wirkt „natürlich“, obwohl es seltsam, unnatürlich und entsetzlich wirken sollte. Man fühlt sich von dem Charakter (und der Schauspielerin selbst) in bestimmten Momenten genervt oder in die Enge getrieben, weil sie sich solche Mühe gibt, zu beeindrucken, zu „glänzen“, sodass nicht klar wird, was der Filmemacher im Sinn hat. Ist er auch „beeindruckt“ oder eher kritisch? Man bekommt das Gefühl, er will beides.

Nachdem Field vom Zuschauer einen Großteil des Films über verlangt, sich mit Lydia und ihrer Glitzerwelt zu identifizieren, macht er zum Ende plötzlich eine Kehrtwende. Im letzten Moment versucht er, Társ Erkenntnis zu vermitteln, dass sie Bernsteins Vermächtnis verraten oder aufgegeben habe.

In einem Video ist zu sehen, wie Bernstein nach einer leidenschaftlichen Aufführung eines Tschaikowsky-Stücks dem Publikum des Young People's Concert erklärt: „Jetzt können wir verstehen, was die wahre Bedeutung von Musik ist. Es geht darum, was man fühlt, wenn man sie hört ... Und das Wunderbarste daran ist, dass es keine Grenze für die unterschiedlichen Gefühle gibt, die Musik in uns wecken kann. Und einige dieser Gefühle sind so besonders und so tief, dass man sie nicht einmal mit Worten beschreiben kann ... Und deshalb ist Musik so wunderbar. Denn die Musik benennt sie für uns – nur in Noten statt in Worten.“

Tár erinnert sich offenbar daran, welchen Eindruck Bernstein und die Konzertreihe auf sie hatten. Vielleicht hat dies sie sogar zu einer Karriere in der Musikbranche animiert. Aber dieser entscheidende Moment wird so wenig vorbereitet, dass der unaufmerksame Zuschauer ihn übersehen könnte (und die meisten haben ihn übersehen). Der Film hätte um diese Szene oder auf ihren Inhalt hin aufgebaut werden müssen. Tár ist gewissermaßen durch den Einfluss derselben Kultur verunstaltet, die der Film kritisieren soll.

Die Schwierigkeit dieses Films ist am stärksten darin ausgedrückt, dass Társ Schicksal trotz des sorgfältigen, durchdachten Aufbaus des Dramas nicht wirklich berührt. Man steht ihrem Unglück eher gleichgültig gegenüber. Es wirkt einfach wie eine weitere unausweichliche, wenn auch unglückliche Tatsache des Lebens. Wenn man den Rest des Films ernst nehmen soll, so ist der Verlust einer solchen Künstlerpersönlichkeit jedoch nicht nur eine individuelle Tragödie, sondern ein schwerer Schlag für das kulturelle Leben.

Jedenfalls hat Field mit Tár etwas Ungewöhnliches geschaffen, wofür man ihm dankbar sein sollte: Er hat einen Film gemacht, der Intelligenz und Einfühlvermögen beweist und komplexe Fragen nuanciert behandelt.

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